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Feature, Interview

"Ich brauche den Austausch, die Begegnung"

Interview mit Ilker Çatak über DAS LEHRERZIMMER

Ilker Çatak (*1984 in Berlin) erzählt in seinen Filmen sehr genau von Beziehungen in Konfliktsituationen und hat dabei oft auch Teenager im Blick. Mit seinem Spielfilmdebüt verfilmte er den Coming-of-Age Roman von Nils Mohl ES WAR EINMAL IN INDIANERLAND (2017). Das Drama ES GILT DAS GESPROCHENE WORT (2019) erzählte von der Pilotin Marian, die in der Türkei den jüngeren Baran kennenlernt und eine Scheinehe mit ihm eingeht. Für beide ist die Konstruktion schwierig. In RÄUBERHÄNDE (2021), nach dem Jugendroman von Finn-Ole Heinrich reisen die besten Freunde Samuel und Janik nach dem Abi nach Istanbul, ein unausgetragener Konfikt begleitet sie. Ilker Çataks jüngster Spielfilm DAS LEHRERZIMMER spielt an einer Schule, an der eine Diebstahlserie Wellen schlägt.

Pamela Jahn hat sich mit Çatak über DAS LEHRERZIMMER unterhalten.


INDIEKINO: Sie sind sowohl in Deutschland als auch in der Türkei aufgewachsen. Wie erinnern Sie sich an Ihre Schulzeit hier und dort?

Ilker Çatak: Immer gut. Ich habe bis heute Freundschaften aus meiner Schulzeit, wir sind sozusagen gemeinsam gewachsen. Johannes, mein Co-Autor, ist das beste Beispiel dafür, weil er nicht nur ein enger Freund ist, sondern auch ein Kollege. Wir waren zusammen an der deutschen Schule in Istanbul. Sein Vater war örtlicher evangelischer Pfarrer, und es war eine wirklich spannende Zeit, vor allem um die Jahrtausendwende. Es ist toll, wenn man so einen gemeinsamen Erfahrungsfundus hat.

Stammt die Idee zu DAS LEHRERZIMMER auch aus dieser Zeit?

Es gibt diese eine Schlüsselszene am Anfang des Films, als der Unterricht unterbrochen wird und die Kinder gefilzt werden, das haben wir auch so erlebt. Bei uns war es allerdings nicht freiwillig, sondern es kamen einfach drei Lehrer rein, und die haben ganz brachial gesagt: „Mädels raus, Jungs Portmonees auf den Tisch und nach vorne stellen.“ Wir haben das damals nicht groß hinterfragt, weil wir wussten, dass es zwei Diebe in der Klasse gab, die auch offen damit geprahlt haben. Aber es war trotzdem ein einschneidendes Erlebnis, das Johannes und mir wieder in den Sinn kam, als wir 2019 gemeinsam im Wanderurlaub waren.

Im Film wird nicht aufgelöst, wer tatsächlich hinter den Diebstählen steckt. Haben Sie die Frage für sich selbst beantwortet?

Wir wussten sehr genau, dass wir die Frage offen lassen wollen. Denn sobald jeder Bescheid weiß, kann man beruhigt wieder seiner Arbeit nachgehen, als wäre nichts geschehen. Es ist dieses Tatort-Ding: Der Täter muss gefasst werden, um die Welt wieder in Ordnung zu bringen. An der Stelle unterscheidet sich das Kino vom Fernsehen, denn im Kino gibt es diese Resonanzräume, die es dem Publikum erlauben, sich ein eigenes Bild von der Sache zu machen. Darum geht es ja, dass die Leute sich darüber austauschen und diskutieren. Deshalb tut es im Grunde auch nichts zur Sache, wie ich persönlich darüber denke. Ich weiß nur, dass Eva Löbau, die Frau Kuhn spielt, für sich entschieden hat, dass sie es nicht war.

"Niemand kann Absolutheit beanspruchen"

Worin liegt für Sie die Wahrheit in Ihrem Film?

Es gibt nicht die eine Wahrheit, es gibt Formen von Wahrheiten. Ich glaube auch, dass Wahrheit ein sehr subjektiver Begriff ist. Man kann das ganz schön an einer Szene festmachen, nämlich als Carla, die von Anfang an für Wahrheit und eine offene Beweisführung plädiert, plötzlich lügt, weil sie gefragt wird, ob Oskar sie geschlagen hat. Sie verneint, um den Jungen zu schützen. Sie lügt, aber sie lügt für die höhere Sache. Und in dem Moment, wird die Wahrheit passend gemacht. Daran lässt sich erkennen, was für ein zutiefst menschliches Konstrukt dahintersteckt. Ich glaube auch, kein anderes Wesen außer dem Menschen hat dieses Verständnis von Wahrheit, wie wir es verfolgen. Es ist eigentlich eine Illusion, der wir nacheifern. Oder eine Glaubensfrage. Allein das Wort ist extrem fragwürdig. Niemand kann Absolutheit beanspruchen.

Ist es am Ende wirklich subjektiv, wer gestohlen hat? Inwieweit hätte die Schule vielleicht besser mit der Situation umgehen können?

Nein, es ist nicht subjektiv, wer gestohlen hat. Da gibt es schon einen Täter/eine Täterin. Aber es ist subjektiv, dieser Frage Relevanz beizumessen. Die Schule hätte „besser“ mit der Situation umgehen können, klar. Aber was bedeutet dann „besser“? „Besser“, aus wessen Perspektive? Solche Adjektive haben immer das Dilemma, dass sie unscharf bleiben.

Die Schule ist nur der Hintergrund für eine Reihe von gesellschaftlichen Themen, die im Film behandelt werden. Warum bot sich das Setting dafür so gut an?

Zum einen hatten Johannes und ich diese Erfahrung in unserer Kindheit gemacht, zum anderen hatte auch seine Schwester, die selbst Lehrerin ist, eine ähnliche Diebstahlserie in ihrer Schule erlebt. Uns war relativ früh klar, dass uns der Ort, die Möglichkeit geben würde, das Große im Kleinen zu erzählen. Es gibt bereits einen ganz fantastischen französischen Film, DIE KLASSE von Laurent Cantet, der genau das macht, und auch DER WERT DES MENSCHEN von Stéphane Brizé, der sich in einem anderen Metier mit dem Thema beschäftigt. Aber ich hatte große Lust und zugleich großen Respekt davor, mit Kindern zu arbeiten. Ich wusste, wenn man so einen Film macht, wo wahnsinnig viel geredet und diskutiert wird, dann braucht es einfach so etwas wie diese Schüler*innen. Sie repräsentieren für mich eine Art Zukunft und auch eine gewisse Unschuld, obwohl sie selbst natürlich keine Unschuldslämmer sind. Dadurch ergibt sich ein toller Widerspruch.

Die Handlung spielt sich nur innerhalb der Schulmauern ab. Dadurch entsteht ein Gefühl der Enge. Gleichzeitig bietet der eingegrenzte Schauplatz die Möglichkeit, andere Perspektiven auszuloten. Wie sind Sie damit umgegangen?

Uns war von vornherein klar, dass wir in der Reduktion unsere Kreativität ausleben wollten. Für mich ist es das Schlimmste, wenn man alle Möglichkeiten hat, alles kann und nichts muss. Viel besser finde ich es, wenn man sich Regeln und Grenzen setzt. In diesem Fall bedeutete das, dass wir die Schule nicht verlassen würden. Außerdem war mir wichtig, dass in der Musik nur vier oder fünf klassische Instrumente zum Einsatz kommen. Und ich wollte beim Drehen und im Schnitt mit so wenig Einstellungen wie möglich auskommen. Weniger ist mehr, war ein ganz großes Thema. Wir haben am Ende sogar oft ein, zwei Stunden vor unserem eigentlichen Zeitplan Drehschluss gehabt, weil ich nichts wiederholen wollte. Ab und zu hat mich dann meine Kamerafrau, Judith Kaufmann, zur Seite genommen und gesagt: „Komm, jetzt machen wir noch einen Take, das können wir nicht so stehen lassen.“ Aber ich finde es spannender, mich in diesem selbstauferlegten Korsett zu bewegen. In dem Moment fühle ich mich freier, als wenn ich die Möglichkeit habe, völlig uneingeschränkt zu arbeiten.

"Meine Großmutter, meine Mutter, das sind Frauen, vor denen ziehe ich den Hut. Das ist der Wahnsinn, was die in ihrem Leben geleistet haben."

War das auch eine bewusste Reaktion auf die Art und Weise, wie Sie vorher gearbeitet haben, zum Beispiel bei ES GILT DAS GESPROCHENE WORT?

ES GILT DAS GESPROCHENE WORT war auf jeden Fall ein sehr sportlicher Dreh, da mussten wir richtig viel Pensum bewältigen. Das lag zum Teil auch daran, dass es mein zweiter Film war. Da ist man hungrig, man will alles haben, ohne zu wissen, was genau das bedeutet. Bei meinen letzten Film RÄUBERHÄNDE war es ein bisschen anders, da hatten wir mehr Zeit. Aber dann habe ich auch noch einen Tatort gedreht, und danach wusste ich, dass ich so nicht mehr arbeiten will. Ich will nicht nur ans Set kommen und irgendwas umsetzen, sondern ich brauche den Austausch, die Begegnung. Man will als Regisseur ja auch ein Stück weit in die Köpfe der Leute rein, mit denen man arbeitet, um auch selber etwas zu lernen, und das war in dem Rahmen einfach überhaupt nicht möglich. Im Kino zu arbeiten ist eben auch vom Prozess her ganz anders, man kann Räume schaffen, wo Gespräche möglich sind, wo Begegnungen entstehen und wo es um einen tieferen Sinn geht.

In Ihren Filmen stehen oft Frauenfiguren im Zentrum. Was interessiert Sie daran?

Ich glaube, darin liegt eine gewisse Neugier, und ein grundsätzliches Interesse, das andere Geschlecht für mich zu entdecken, es in seiner Komplexität zu verstehen. In meinem letzten Kurzfilm SADAKAT steht beispielsweise eine junge Frau in Istanbul im Vordergrund, weil die Türkei eine Männergesellschaft ist und man dadurch automatisch eine Figur ins Zentrum rückt, die mehr Widerstände zu bewältigen hat. In dem Moment, wo Reibung entsteht, ist man schon auf dem guten Weg. Andererseits habe ich dadurch gleichzeitig die Chance, Figuren zu schaffen, die ich selbst in meinem Umfeld erlebe und die ich gerne auch mal im Kino sehen würde. Also meine Großmutter, meine Mutter, das sind Frauen, vor denen ziehe ich den Hut. Das ist der Wahnsinn, was die in ihrem Leben geleistet haben und immer noch tun.

Carla Nowak ist auch eine Figur, die in zwei Kulturen verankert ist, was sie aber zumindest im Berufsleben zu überspielen oder zu unterdrücken versucht. Warum?

Die Identitätsproblematik ist natürlich immer auch ein Thema von mir, aber der Bezug zum Polnischen in Carlas Fall kam, nachdem ich Margarete Stokowski gelesen hatte. Sie schreibt an einer Stelle ganz toll, wie sie in den 1980er Jahren nach Deutschland kommt und hier aufwächst, allerdings in der Schule trotzdem die Polin genannt wird. Zudem hatte ich ein Schlüsselerlebnis mit einer Kollegin, die sehr gut türkisch spricht, aber immer, wenn ich mit ihr Türkisch reden wollte, hat sie auf Deutsch geantwortet. Ich habe mich lange gefragt, woran das liegen könnte, und vielleicht ist es einfach ein intimer Raum, den man nicht aufmachen will. Jedenfalls hatte ich all diese Gedanken und Ambivalenzen im Kopf, die ich damit zum Ausdruck bringen wollte, auch weil es die Figur dreidimensionaler macht.

Wie gehen Sie mit dieser Identitätsproblematik für sich persönlich um?

Ich denke, das ist ein Thema, mit dem man erst im Alter seinen Frieden macht. Über viele Jahre passieren da ganz viele Dinge, ganz unbewusst. Ich war zum Beispiel im Gymnasium das einzige Kind mit schwarzen Haaren in meiner Klasse, dazu das einzige Kind von Migrant*innen. Und immer, wenn ich bei Freunden zum Essen war, habe ich extrem darauf geachtet, bloß keinen Fehler zu machen, um nicht aufzufallen. Ich wollte immer alles perfekter machen als die Deutschen und habe auch immer ganz deutlich und überbetont gesprochen, weil ich versucht habe, dadurch irgendwas zu kompensieren. Aber all das ist mir natürlich erst viel später tatsächlich bewusst geworden. Mittlerweile bin ich an einem Punkt, wo ich damit umgehen kann, auch in meinen Filmen. Ich habe diese Befangenheit abgelegt und kann sozusagen beide Seiten bespielen. Ich kann sagen, ich bin der Deutsche, ich kann aber auch sagen, ich bin der Türke.

Es heißt beim Film immer, wie schwierig es sei, mit Kindern zu drehen. Wie haben Sie die Zusammenarbeit mit den Schüler*innen erlebt?


Ich glaube, wenn man als Regisseur mit Kindern arbeitet, muss man bereit sein, diese sehr zeitintensive Suche auf sich zu nehmen. Beim Casting haben wir den Kindern eine Aufgabe gestellt. Sie sollten mich davon überzeugen, an einer Fridays-for-Future-Demo teilnehmen zu dürfen. Ich wollte sehen, ob sie gute Argumente bringen. Wir haben miteinander diskutiert und so relativ schnell gemerkt, welches Kind auf Zack ist, wer sich was traut und trotzdem authentisch bleibt. Als wir die 22-köpfige Klasse zusammen hatten, habe ich zu ihnen gesagt: „Passt auf, wir sind hier eine Familie. Wenn jemand ein Problem hat, dann möchte ich, dass ihr euch darum kümmert. Es ist wichtig, dass ihr euch gegenseitig unterstützt, weil das, was wir hier machen, größer ist als wir, das wird uns überdauern, das ist ernst, und ihr tragt eine Verantwortung. Ihr seid auch keine Kinder mehr, sondern wir sind Kolleginnen und Kollegen.“ Das haben alle verstanden. Gleichzeitig habe ich aber auch selber aufgemacht und sehr viel von mir erzählt. Ich habe mich morgens vor Drehbeginn hingestellt und den Kindern gegenüber meine Seele aufgemacht, so dass ein Vertrauensverhältnis entstand.

Seit Ihr Film bei der Berlinale gelaufen ist, hat er auch international sehr großes Interesse auf sich gezogen. Hast Sie das überrascht?

Ja, total. Der Film war schon lange vorher fertig, und wir haben ihn zahlreichen Weltvertrieben angeboten, von denen man immer glaubt, dass sie wissen, wie der Hase läuft. Die Antwort ging immer in die gleiche Richtung: „Ja, solider Film, aber wir sehen das internationale Potenzial nicht.“ Während des Festivals hat er sich dann in alle Territorien verkauft, und ich dachte nur so, hey, keiner hat eine Ahnung von irgendwas, irgendwie stochern auch alle nur im Dunkeln. Für mich persönlich ist es einfach ein schönes Gefühl, mit einem Film Erfolg zu haben, bei dem ich mir wirklich hundert Prozent selbst treu geblieben bin, alles ausgeschaltet habe, was von außen an mich herangetragen wurde, alles reduziert habe. Dass das jetzt auch so gesehen und gewürdigt wird, ist natürlich toll.

Pamela Jahn