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Interview

„Jeder einzelne Moment von ICH CAPITANO ist fest verankert in realen Erfahrungen.“

Interview mit Matteo Garrone über ICH CAPITANO

Matteo Garrone ist spätestens seit GOMORRHA (2008), seiner Verfilmung des Romans von Roberto Saviano, einer der bedeutendsten italienischen Filmemacher. In dem Mafia-Thriller brachte Garrone seinen typischen, zwischen dokumentarischen Elementen und Genrekino oszillierenden Stil zu einem ersten Höhepunkt, der mit dem Jurypreis in Cannes und einer Oscar-Nominierung belohnt wurde. Garrones nächster Film REALITY (2012) stellte die künstliche Welt einer „Big Brother“-ähnlichen Fernsehshow der Lebenswirklichkeit eines kleinkriminellen Fischhändlers gegenüber, der davon träumt, in der Show zum Star zu werden. Mit seiner wilden Verfilmung der Märchensammlung „Pentamerone“ des italienischen Schriftstellers Giambattista Basile (1566-1632) löste sich Garrone vom Realismus und drehte ein pralles Fantasy-Epos für Erwachsene. DOGMAN (2018), die Geschichte eines Hundefriseurs in einem heruntergekommenen Badeort, der nebenbei mit Kokain handelt, ist ein Film mit dem „Pathos einer Verdi-Oper, der existentiellen Verlorenheit des italienischen Neorealismus und der dramatischen Wucht eines Italo-Westerns“ (Indiekino). Zuletzt brachte Garrone seine Version von PINOCCHIO (2019) heraus, der für zwei Oscars nominiert wurde. Mit ICH CAPITANO gewann Garrone den Silbernen Löwen für die Beste Regie in Venedig.

Patrick Heidmann sprach hat mit Matteo Garrone über ICH CAPITANO gesprochen.

INDIEKINO: Herr Garrone, „ICH CAPITANO“ ist Ihr erster Film, der nicht in Italien spielt, auch wenn er natürlich trotzdem etwas über Ihr Heimatland erzählt. Fühlte sich die Arbeit daran anders an als sonst?

Matteo Garrone: Es war wirklich eine vollkommen neue Erfahrung, als Regisseur in eine Kultur einzutauchen, die nicht meine eigene ist. Und mit Darstellern zu drehen, deren Sprache ich nicht spreche. Ich brauchte Jahre, mich dazu durchzuringen, diesen Film tatsächlich zu machen, denn ich hatte einen Heidenrespekt davor. Ich hatte die Sorge, als Eindringling wahrgenommen zu werden. Als jemand, dem es nicht zusteht, diese Geschichte zu erzählen. So etwas ist eine heikle Angelegenheit, berechtigterweise. Mir war es wichtig, diesen Figuren und Schicksalen mit dem nötigen Respekt und Feingefühl zu begegnen, nicht mit der Arroganz eines bourgeoisen Europäers, der sich anmaßt von Erfahrungen zu erzählen, die er gar nicht kennt. Am Ende hatte ich aber das Gefühl, dass dieser Film mich ausgesucht hat, nicht andersherum.

Verstehen Sie Ihren Film als politisches Statement? Wollten Sie ein Zeichen setzen in Zeiten, in denen in vielen europäischen Ländern, nicht zuletzt in Italien, rechtspopulistische Regierungen mehr denn je Stimmung machen gegen eine Einwanderung, nicht nur aus Afrika?

Als ich vor rund vier Jahren mit der Arbeit an ICH CAPITANO begann, war die Regierung in Italien noch eine ganz andere. Das muss ich gleich vorausschicken. Aber ganz unabhängig davon kann ich sagen, dass es nicht meine Absicht war, mit dem Film eine politische Stellungnahme abzugeben. Die Themen des Films – und damit auch die Motivation für mich als Geschichtenerzähler – sind Menschenrechte und die Ungerechtigkeit, die jenen Menschen begegnet, die auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind. Das ist als Stoff natürlich politisch, selbstverständlich. Aber ich hatte nicht vor, einer bestimmten Regierung eine Botschaft mitzugeben. Sondern im Gegenteil wollte ich meinen Protagonisten eine Stimme geben.

Sie haben das Drehbuch auf Erfahrungen realer Menschen basiert, die selbst den Weg über den afrikanischen Kontinent und dann das Mittelmeer zurückgelegt haben, nicht wahr?

Genau. Praktisch alles, was im Film vorkommt, wurde meinen Mitautoren und mir so aus erster Hand erzählt. Auch wenn wir keinen Dokumentarfilm, sondern eine fiktionale Geschichte gedreht haben, ist jede Szene darin direkt mit realen Erlebnissen der Menschen verknüpft, mit denen wir gesprochen haben. Und die Geschichte ist auch ein Versuch, die Frage zu beantworten, die sich all diese jungen Menschen immer wieder stellen.

Nämlich welche?

Warum können unsere Altersgenoss*innen, mit denen wir nicht selten eine Sprache teilen, entweder Französisch oder Englisch, frei durch ganz Afrika reisen, während wir unser Leben riskieren müssen, wenn wir nach Europa kommen wollen. Diese Frage – also die, wem wir welche Menschenrechte zugestehen und wem wir sie verweigern – ist eine ethische und nicht in erster Linie eine politische. Und sie wird schon deutlich länger diskutiert als jede europäische Regierung im Amt ist. Leider wird sie auch noch sehr lange weiter diskutiert werden müssen, wenn wir nicht endlich die Zahl der Visa und Arbeitserlaubnisse erhöhen, die wir für Menschen aus nicht-europäischen Ländern ausstellen. Unabhängig von der Höhe ihres Kontostands. Anders wird sich das Problem von Menschenhandel und illegaler Einwanderung niemals einschränken lassen.

Im Zentrum des Films steht in gewisser Weise auch die Unschuld, nicht zuletzt Ihres jungen Protagonisten Seydou, der eine Version seiner selbst spielt. Er bewahrt sie sich trotz allem, was er erlebt, bis zum Schluss.

Ja, und damit stellt er für mich in seiner Reinheit die Seele dieses Films dar. Der Vergleich mag auf den ersten Blick komisch klingen, aber im Grunde erinnert mich Seydou dabei an niemand anderen als Pinocchio. Er entkommt seiner Mutter, so wie Pinocchio Gepetto entwischt, und begibt sich dann auf eine große Reise, auf der er entdeckt, wie brutal und gewaltsam die Welt sein kann.

Vielleicht ist auch ICH CAPITANO eine Warnung

„Pinocchio“ war immer auch als Warnung für Kinder gedacht, sich bloß nicht den Ansagen der Eltern zu widersetzen, sondern brav und gehorsam zu sein!

Stimmt, und vielleicht ist auch ICH CAPITANO eine Warnung. Allerdings für uns in Europa und im Rest der westlichen Welt. Eine Warnung, die Augen nicht davor zu verschließen, was tatsächlich auf diesen Migrations- und Fluchtwegen passiert, über die wir im Komfort unseres behüteten Alltags meist viel zu wenig wissen. Die Realität dieser Reisen ist etwas, wovon wir vielleicht schon öfter etwas in den Nachrichten gehört, aber die wir viel zu selten wirklich gesehen haben. Wir lesen Zahlen von Menschen, die im Mittelmeer ertrunken sind, aber wir blenden die Seydous und Moustaphas aus, die hinter diesen Zahlen stehen, ihre Familien und ihre Träume. Ich wollte all das mit meinem Film sicht- und greifbar machen, damit man als Zuschauer zumindest ein bisschen nachempfinden kann, worum es hier wirklich geht.

Der Geschichte wohnt viel Gewalt und Brutalität inne. Wie fanden Sie da bei der Darstellung die richtige Balance?

Das war tatsächlich eine Herausforderung, denn vieles, was die Geflüchteten erleben, ist so entsetzlich, dass man es kaum zeigen kann. Und ich wollte mit der Gewalt auch nicht leichtfertig, reißerisch oder spekulativ umgehen. Aber mitunter reichte es, die Kamera auf die Augen von Seydou gerichtet zu lassen. Sein Gesicht als Spiegel des Erlebten sagt meistens mehr als alles, was ich hätte zeigen können. Und das unterscheidet meinen Film auch von jeder Fernsehreportage und jedem Online-Video, das man zu diesem Thema finden kann. Wir zeigen die menschlichen Hintergründe, die sonst zu kurz kommen.

Wäre ein Dokumentarfilm der Thematik nicht angemessener gewesen?

Ich würde das nicht werten. Bei Dokumentarfilmen kommt mir oft das Immersive zu kurz. Ich glaube, man kommt an die Empathie des Publikums einfacher heran mit einer fiktionalisierten Geschichte. Aber selbstverständlich war es mit wichtig, mit all diesen realen Lebensgeschichten, die uns anvertraut worden waren, nicht leichtfertig umzugehen. Deswegen habe ich den „Pinocchio“-Vergleich vorhin nur mit Vorsicht gezogen. Mindestens genauso wichtig als Referenz aus meinem eigenen Werk ist GOMORRHA. Dieses fast-dokumentarische Erzählen, das ich damals angewendet habe, kam ja auch hier nun zum Zuge.
Wie schon erwähnt: jeder einzelne Moment von ICH CAPITANO ist fest verankert in realen Erfahrungen. Da ist nichts hinzuerfunden, geschönt oder romantisiert worden. Die Verantwortung, all den Menschen, die mir ihre Geschichten anvertraut haben, gerecht zu werden, und vor allem all den Tausenden Tribut zu zollen, die nie die Chance bekommen haben, ihre zu erzählen, habe ich bei der Arbeit an diesem Film in jeder einzelnen Sekunde gespürt. Und während wir hier sitzen und darüber sprechen, durchqueren schon wieder Menschen die Wüste oder steigen am Mittelmeer in Boote, in der Hoffnung, dabei nicht unterzugehen. Eine derartige Unmittelbarkeit und drängende Relevanz hatte noch keine meiner Arbeiten.

Eine letzte Frage noch zu den jungen Männern im Zentrum von ICH CAPITANO, Seydou und Moustapha. Wie haben Sie sich für diese beiden entschieden, von denen ja das Gelingen dieses Films komplett abhängt?

Ich bin beim Casting einfach meinen Instinkten gefolgt und habe dann letztlich Glück gehabt. Das Risiko, dass die Sache schief geht, stand natürlich im Raum, selbst nachdem sie mich bei Probeaufnahmen überzeugt hatten. Ich bitte meine Schauspieler, egal ob Profis oder nicht, eigentlich immer, ihre Figur und ihre eigene Persönlichkeit miteinander zu verschmelzen. Aber die Art und Weise, wie das Seydou dann gelungen ist, hat selbst mich überrascht. Was er aus sich selbst herausgeholt hat und welche emotionale Wucht und Wahrhaftigkeit er dabei entwickelt hat, ohne sich in seinen eigenen Gefühlen zu verlieren, das war schon beeindruckend und sehr aufwühlend zu beobachten.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann.

Patrick Heidmann