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Interview

„Es geht mir um eine sinnliche Art des Ausdrucks.“

Interview mit Ryûsuke Hamaguchi über EVIL DOES NOT EXIST

Seit Ryûsuke Hamaguchis Spielfilm HAPPY HOUR (2015) laufen die Filme des Regisseurs auf internationalen Filmfestivals, aber den großen Durchbruch hatte Hamaguchi im Jahr 2021, als WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY den Goldenen Bären in Berlin gewann und seine Murakami-Verfilmung DRIVE MY CAR den Oscar für den Besten internationalen Film.

INDIEKINO: EVIL DOES NOT EXIST ist ein provokanter Titel für einen Film. Was bedeutet er für Sie?

Ryûsuke Hamaguchi: Als ich bei meiner Recherche zu dem Projekt in der Landschaft umherspazierte, kamen mir diese Worte ganz unbewusst in den Sinn. Man muss sich die Natur nur genauer ansehen, um zu begreifen, dass darin nichts Böses zu finden ist. Klar, sie kann brutal sein, gewaltig und ungerecht. Die heutigen Umweltkatastrophen liefern unendlich viele Beweise dafür. Aber das sind die Auswirkungen der Klimakrise, die allein wir Menschen zu verschulden haben. Selbst die kleinsten Übel passieren, weil Menschen daran beteiligt sind. Die Natur an sich trifft keine Schuld.

Das Tempo Ihres Films ist im Vergleich zu Ihren früheren Werken sehr speziell. Was hat es damit auf sich?

Der Umgang mit Zeit ergibt sich aus dem Schnitt. Ich habe versucht, ein Gefühl dafür zu vermitteln, wie es sich anfühlt, wenn Zeit vergeht. Es war mir wichtig, keine Zeit zu vergeuden, wenn Sie so wollen. Zeit, die bedeutungslos ist. Es ging mir darum, noch in den flüchtigsten Momenten den Sinn der Natur in ihr selbst erkennen und spüren zu können.

Ähnlich wie in Ihrem letzten Film DRIVE MY CAR wird auch hier viel Auto gefahren. Wichtige Gespräche finden unterwegs statt. Warum?

Wenn es in einem Film Dialogszenen gibt, die nicht aus der Bewegung heraus entstehen, finde ich das meist uninteressant. Eine Möglichkeit, damit umzugehen, besteht darin, die Figuren in einem Verkehrsmittel zu zeigen, das Auto ist nur eine Option. Aber im Gegensatz zu Bus und Bahn, einem Schiff oder Flugzeug, sind die Räume in Autos intimer. Es entstehen also eher private Gespräche. Andererseits ist das Auto auch ein Ort, an dem man sich unwohl fühlen kann, wenn es still ist. In gewisser Weise bringt das die Menschen dazu, miteinander zu reden, ob sie wollen oder nicht. Durch diese Gespräche können sich die Beziehungen innerhalb eines Fahrzeugs verändern oder vertiefen. Ich denke, das ist ein wirklich faszinierender Effekt.

Besonders an diesem Film ist die Verbindung zwischen der Natur und Eiko Ishibashis Musik, die der Ausgangspunkt für Ihre Zusammenarbeit war.

Das liegt ganz allein an Eikos Musik, die auf wundersame Weise mit der Landschaft harmonisiert. Ich bin ein Stadtmensch. Eiko lebt jedoch in dieser Gegend, die man im Film sieht. Ich denke, das spürt man in jedem Ton, der aus ihrer Musik spricht. In meiner Inszenierung wollte ich diese innige Beziehung auch über die Bilder zum Ausdruck bringen.

Was ist Ihre persönliche Beziehung zur Natur?

Als jemand, der in der Stadt aufgewachsen ist, hatte ich keinen direkten Bezug zur Natur. Ich musste recherchieren, mich ihr aussetzen. Es gab viel zu lernen. Eiko machte mich mit einem lokalen Freund bekannt, der mir gewissermaßen einen Crashkurs gab. Er erklärte mir, woher das Wasser kommt, oder zeigte mir, wo der Wasabi wächst. Dieses Gefühl eines Stadtmenschen, der etwas über die Natur lernt, spiegelt sich im Film in den Figuren von Takahashi und Masumi wider.

Die Art und Weise, wie die Natur dargestellt wird, ist sehr haptisch, als hätten Sie sich die Umgebung beim Drehen einverleibt. Haben Sie das ähnlich empfunden?

Ich glaube, um die Natur wirklich spüren zu können, muss in unserem Empfinden eine Umstellung unserer gewohnten Lebensumstände stattfinden. Nur so können wir die kleinen und feinen Unterschiede sehen, die sich ergeben. Die Kamerafahrt durch die Baumwipfel zu Beginn des Films ist für mich eine Möglichkeit, unsere eigene Sensibilität für die Dinge neu zu justieren. Sie gibt uns die Zeit, diesen Sinneswandel zu vollziehen.

Entscheidend ist der Casting-Prozess

Würden Sie sagen, dass diese Sensibilität, dieser Sinneswandel in EVIL DOES NOT EXIST mehr im Vordergrund steht als etwa die Psychologie der Figuren?

Ich versuche nie wirklich, einen psychologischen Blick auf meine Figuren zu werfen. Letztendlich folgt ein Dialog dem anderen. Und dadurch entsteht das Gefühl, dass ein Film in gewisser Weise psychologischer ist. Aber was ich wirklich anstrebe, ist immer eher eine sinnliche Art des Ausdrucks. Und wenn mir das hier gelungen ist, dann nur aufgrund der fantastischen Musik von Eiko Bashi, die mir ursprünglich den Auftrag gegeben hat, Bilder für ihre Musik zu schaffen.

Wie arbeiten Sie mit den Schauspieler*innen, um ihnen Ihre Art des Filmemachens zu vermitteln?

Entscheidend ist der Castingprozess. Ich glaube, 70 bis 80 % der Arbeit eines Regisseurs mit den Schauspielern hängt davon ab, welche Art von Person man für die jeweilige Rollen auswählt. Ganz gleich, wie viel Zeit man hat, um einen Film zu drehen, wie viel man probt oder miteinander über die jeweilige Rolle redet. Letztendlich kann man die Person nicht ändern, die die Rolle spielt.

Das Gespräch führte Pamela Jahn.

Pamela Jahn