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Drive My Car

Etwas verändert sich

Die zurückhaltenden, sehr beherrschten Menschen, die die Verfilmung einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami zeigt, öffnen sich nur langsam. Die Momente, in denen die pure Emotion durchbricht, sind um so überwältigender.

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Nach Lee Chang-Dongs BURNING (2018) ist Ryûsuke Hamaguchi mit DRIVE MY CAR die zweite umwerfende Verfilmung eines Stoffes von Haruki Murakami gelungen. Murakamis Geschichten über traurige Menschen erzählen oft davon, dass es helfen kann, sich Zeit zu nehmen, um irgendwo zu sitzen, wie der Erzähler im Roman „Der Aufziehvogelmann“, der sich, als er nicht mehr weiter weiß, monatelang auf einen öffentlichen Platz setzt, bis etwas passiert. In DRIVE MY CAR lässt sich der Regisseur und Schauspieler Yûsuke im Auto herumfahren, wenn nichts mehr hilft. Das hat den Vorteil, eine leere Zeit zu erzeugen, in der er denken kann, und er kommt irgendwo an, an einer Müllverbrennungsanlage, am Meer, an einem Dorf, an dem ein furchtbares Unglück geschehen ist – und etwas verändert sich.

Die erste Dreiviertelstunde des Films erzählt die Vorgeschichte der Erzählung, dann erst laufen die Titel über das Bild. Yûsuke (Hidetoshi Nishijima) und seine Frau Oto (Reika Kirishima) hatten gerade Sex, sie erzählt eine Geschichte von einem jungen Mädchen, die immer wieder in das Haus eines Schulfreundes eindringt, und jedes Mal ein Objekt aus dessen Zimmer mitnimmt und ein eigenes Objekt hinterlässt. Die beiden malen sich die Geschichte in verschiedenen Situationen weiter aus: Ein Künstlerpaar, er ist Theaterregisseur, sie ist Drehbuchautorin beim Fernsehen.
Ihre Beziehung scheint glücklich und produktiv, und auch nachdem Yûsuke seine Frau zufällig beim Sex mit dem jungen Schauspieler Kôji (Masaki Okada) beobachtet, scheint sich nichts in ihrem Zusammenleben zu verändern. Gemeinsam trauern sie am Todestag ihrer Tochter, gemeinsam spinnen sie Geschichten weiter und schlafen miteinander. Bis ein furchtbares Unglück passiert.

Zwei Jahre später beginnt die eigentliche Geschichte des Films. Yûsuke, der sich auf experimentelle Inszenierungen mit Übertiteln und Schauspieler*innen aus verschiedenen Sprachräumen spezialisiert hat, ist nach Hiroshima eingeladen worden, wo er Tschechows „Onkel Wanja“ mit einem neuen Ensemble inszenieren soll. Aus Versicherungsgründen erhält er eine Fahrerin, die schweigsame junge Misaki (Tôko Miura). Der Film verwebt die Produktion des Theaterstücks und die existentiellen Krisen der Figuren in „Onkel Wanja“ mit denen von Yûsuke, Kôji, Oto und Misaki. Wie um sich selbst zu befreien und sich im Geheimen an Kôji zu rächen, gibt Yûsuke ihm die Rolle des Wanja, der alles verliert und mit seiner Trauer und Enttäuschung weiterleben muss.

Wie in Yûsukes (und wohl auch Ryûsuke Hamaguchis) Theatermethode geht es aber auch um die kleinen Momente, in denen zwischen Menschen und Schauspielern „etwas passiert“, wie Yûsuke nach einer Szene zwischen einer chinesisch und einer in koreanischer Zeichensprache sprechenden Darstellerin sagt. Die zurückhaltenden, sehr beherrschten Menschen, die der Film zeigt, öffnen sich nur langsam. Die Momente, in denen die pure Emotion durchbricht, sind um so überwältigender. Die sich allmählich entwickelnde Nähe zwischen Yûsuke und der Fahrerin Misaki, deren Geschichte am Ende des Film erzählt wird, ist dabei besonders intensiv. Ein stiller, kluger Film, der in Cannes den Preis für das Beste Drehbuch, den Kritikerpreis und den Preis der Ökumenischen Jura gewann.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Doraibu mai kâ
Japan 2021, 179 min
Genre: Drama
Regie: Ryûsuke Hamaguchi
Drehbuch: Ryûsuke Hamaguchi, Haruki Murakami, Takamasa Oe
Verleih: rapid eye movies
Darsteller: Hidetoshi Nishijima, Tôko Miura, Masaki Okada, Reika Kirishima
FSK: 12
Kinostart: 23.12.2021

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Vorführungen

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