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„Die Jugend von heute muss zukünftig in zwei Welten klarkommen“

Interview mit Hosoda Mamoru zu BELLE

Hosoda Mamoru (*1967) studierte Ölmalerei, bevor er seine Anime-Karriere bei Toei Anime begann. Um seinen sehr persönlichen Stil entwickeln zu können, gründete er im Jahr 2011 mit dem Studio Chizu seine eigene Produktionsfirma. Mit ihr produzierte er AME & YUKI - DIE WOLFSKINDER, der DER JUNGE UND DAS BIEST und MIRAI – DAS MÄDCHEN AUS DER ZUKUNFT, der 2018 für den Animations-Oscar nominiert war. BELLE feierte seine Premiere auf dem Filmfestival in Cannes und war 2021 der dritterfolgreichste japanische Film.

Indiekino: Ihr Film ist künstlerisch und thematisch unwahrscheinlich vielfältig. Gibt es so etwas wie einen ersten Anstoß, eine erste Idee?

Hosoda Mamoru: Die ursprüngliche Intention war, eine moderne Version von „Die Schöne und das Biest“ zu kreieren. Ich finde das Werk sehr interessant, weil es einen Wertewandel behandelt, davon erzählt, dass auf den ersten Blick hässliche Gestalten auch ein wunderbares Inneres haben können. Bei der modernen Version wollte ich das Werk mit dem Thema Internet verknüpfen. Besonders hat mich dabei der Charakter des „Biests“ interessiert, der eine Zweiseitigkeit hat, und das Verhalten eines Menschen online hat ähnliche Züge. Ein Mensch hat im Internet sowohl eine versteckte Seite als auch eine Seite, die von jedem beobachtbar ist.

Sie haben das Kunstmärchen „Die Schöne und das Biest“ in einigen Punkten geändert.

Als ich mir Gedanken über Belle gemacht habe, ist mir aufgefallen, dass die ursprüngliche Belle sich in erster Linie von den anderen abhebt, weil sie äußerlich schön ist. In der Originalfassung ist es wirklich eine sehr klassische Story: Die schöne Frau findet ihren Prinzen und sie heiraten, und genau das wollte ich nicht so flach darstellen. Seit dem 18. Jahrhundert ist einiges passiert, und es nicht mehr möglich, eins zu eins einfach eine schöne Schönheit hinzustellen, die vielleicht sogar nur in Augen der Männer hübsch ist. Dementsprechend wollte ich Schönheit weiter definieren, indem ich zeige, dass es auch schön ist, das innere Ich zu entdecken und die eigenen versteckten Fähigkeiten durch Selbstüberwindung freizulegen.

Sehen Sie es als Gefahr, dass Belle sich in eine Traumwelt flüchtet und vergisst, ihr eigenes Leben zu leben?

Die Jugend von heute muss zukünftig in zwei Welten klarkommen, in der realen Welt und auch in der virtuellen Welt der Sozialen Netzwerke. Wie wir alle wissen, hat es seine negativen Seiten, wenn man sich so sehr darin vertieft, dass man den Bezug zur Realität verliert und im realen Leben vereinsamt, oder vielleicht sogar das eigentlich vorhandene Selbstvertrauen zerstört wird. Ich möchte mit diesem Film auch zeigen, wie man sich im Netz verhalten sollte, bzw. dazu motivieren, sich im Netz so zu verhalten, dass das eigene Leben sich zum Positiven bewegt. Aber, dass jemand sich im Internet behauptet, heißt ja nicht automatisch, dass er sein reales Leben vernachlässigt. Man muss natürlich lernen, in der realen Welt zurecht zu kommen. Man muss aber auch lernen, im virtuellen Leben, in den sozialen Netzwerken klar zu kommen. Man darf das eine nicht zu sehr vom anderen trennen. Die Grenzen verlaufen langsam immer mehr. Es mag oft falsch verstanden werden, wenn sich jemand im Internet verwirklicht, aber wenn es der Person etwas Positives bringt, ist es auch eine Art, glücklich zu werden.

Ich wollte mit dem Film ausdrücklich nicht nur Kinder ansprechen

Das spiegelt sich auch in einer Szene wider, in der Suzu mit dem Vater chattet, und das entscheidende Gespräch dann tatsächlich virtuell stattfindet.

Natürlich würden wahrscheinlich 9 von 10 Menschen sagen, dass es wünschenswerter ist, wenn das Kind am Esstisch sitzt und sich mit ihren Eltern unterhält. Aber wenn es das nicht tun kann und darüber traurig ist, und durch das Netz wieder den Kontakt aufnimmt, indem es mit dem Vater chattet, dann ist das eine positive Wendung.

Sie wechseln virtuos zwischen Genres und Stimmungen und Animationsstilen. Manchmal hat es sich angefühlt, als ob Sie spontan eine Idee gehabt hätten und die dann sofort in den Film eingeflossen ist. Gab es diese Freiheit?

Es wirkt vielleicht spontan, aber tatsächlich ist bei einem animierten Film kaum etwas dem Zufall überlassen. Aber ich möchte gerne etwas zur Mischung der Animationsstile sagen: Der Film ist unterteilt in die reale Welt, die gezeichnet ist, und die virtuelle Welt, die computeranimiert ist. Da findet sich auch wieder die Zweiseitigkeit, die Schöne und das Biest. Dabei ist nichts über das andere gestellt. Natürlich wird oft gesagt, dass das Handgezeichnete der Computeranimation vorzuziehen ist, aber ich sehe darin nur einen anderen Stil der Darstellung. Es ist einfach nur ein Mittel zum Zweck und nicht mehr.

Braucht man heute Mut, um einen - zumindest teilweise – handgezeichneten Animationsfilm zu drehen?

Ich wollte mit dem Film ausdrücklich nicht nur Kinder ansprechen. Ich wollte ihn für jeden zugänglich machen. Es klingt vielleicht komisch, aber ich sehe keinen Unterschied zwischen Animation und einem richtig gespielten Film, weil man mit beidem genau dasselbe mitteilen kann. Und genau deswegen habe ich auch keine Angst vor dieser eher künstlerischen Darstellung. Ich verstehe meine Filme als eine Art Kunst und mache sie nicht, um den Zuschauern irgendwie zu gefallen. Das ist eben meine Ausdrucksweise.

Das Gespräch führte Hendrike Bake