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Feature, Interview

„Wir sind es einfach nicht gewöhnt, normale Körper zu sehen“

Interview mit Emma Thompson über MEINE STUNDEN MIT LEO

Die zweifache Oscar-Preisträgerin Dame Emma Thompson gehört zu den bekanntesten britischen Schauspielerinnen und hat ein Faible für Arthouse-Komödien: Ihre bekanntesten Rollen reichen von der verpeilte besten Freundin Maggie in PETER’S FRIENDS über die glamouröse Beatrice in VIEL LÄRM UM NICHTS bis hin zur eigenbrötlerischen Krimi-Autorin Karen Eiffel in SCHRÄGER ALS FIKTION und betrogenen Ehefrau in TATSÄCHLICH... LIEBE. Ihren ersten Oscar bekam Thompson für ihre Darstellung der liberalen Margret Schlegel in der Merchant-Ivory Produktion WIEDERSEHEN IN HOWARDS END, ihren zweiten für das kongeniale Drehbuch für Ang Lees Austen-Adaption SINN UND SINNLICHKEIT. Autorin und Hauptdarstellerin ist Thompson auch in den ZAUBERHAFTE NANNY-Kinderfilmen. Im Zwei-Personen-Kammerspiel MEINE STUNDEN MIT LEO, das auf der diesjährigen Berlinale Premiere feierte, spielt sie die verwitwete Lehrerin Nancy, die nach einem Leben sexueller Langeweile einen Sexworker und ein Hotelzimmer bucht. Dieter Oßwald hat sich mit Emma Thompson über MEINE STUNDEN MIT LEO unterhalten.

INDIEKINO: Frau Thompson, in der letzten Szene steht Ihre Figur völlig nackt vor dem Spiegel. Sind Sie das selbst oder hat ein Double die Szene übernommen?

Emma Thompson: Das bin ich natürlich selbst!

Das ist für einen Star ungewöhnlich und ziemlich mutig…

Weshalb soll das mutig sein?

Weil es das in Hollywood so noch nicht gegeben hat!

Sie meinen, es wäre mutig, weil ich 62 Jahre alt bin! Würde Charlize Theron nackt vor der Kamera stehen, würden Sie das vermutlich nicht als mutig bezeichnen!

Doch, das wäre von Charlize Theron natürlich ebenso mutig.

Na gut, Sie haben Ihre Antwort ja bereits bekommen. Sie finden es mutig. Tatsächlich läuft die gesamte Geschichte darauf hinaus, dass meine Figur Nancy endlich in der Lage ist, ihren Körper zu akzeptieren. Dabei handelt es sich um einen ganz normalen, natürlichen Körper ohne irgendwelche Behandlungen. Ihre Frage macht mir deutlich, dass wir einfach nicht gewöhnt sind, normale Körper zu sehen. Ob das mutig ist oder nicht, darüber kann man streiten. Unbestreitbar ist allerdings die Tatsache, dass es gut für uns alle wäre, wenn wir mehr normale Körper sehen würden.

Was hat Sie an diesem Drehbuch gereizt?

Das Drehbuch ist unglaublich modern. Es behandelt Fragen von Scham und Lust, wie ich es in dieser Form noch in keinem Film gesehen habe. Nancy, die Heldin, ist keine Puritanerin, sondern eine ganz durchschnittliche Frau mit einem ganz gewöhnlichen Beruf. Sie war verheiratet und hat zwei Kinder. Vielleicht ist ihre Einstellung nicht unbedingt sehr liberal, doch das macht ihre Normalität eben aus. Im Kern erzählt der Film davon, wie zwei Menschen in einem Raum voneinander lernen. Wie sie Vorurteile ablegen. Und wie wichtig es ist, miteinander zu reden. Unter normalen Umständen würden diese beiden Menschen kaum miteinander sprechen. In diesem Hotelzimmer jedoch müssen sie ihre Komfortzone verlassen.

Wie würden Sie Ihre Figur charakterisieren?

Nancy ist mutig, aber sie hat ihre Fehler. Viele ihrer Überzeugungen sind das Gegenteil von woke, was ich liebe, weil das bei 90% der Bevölkerung ebenso ist. Ihre Einstellungen, ihre Vorurteile, ihre Voreingenommenheit sind nicht ungewöhnlich. Nancy hat die Regeln ihr ganzes Leben lang befolgt. Doch langsam erkennt man, dass es hinter dieser vermeintlich so perfekten Konstruktion in Wirklichkeit ganz anders aussieht. Es gibt eine Leere, die Nancy daran gehindert hat, wirklich ein menschliches Wesen zu sein.

Ist die sexuelle Revolution an Nancy vorbeigegangen?

In einer Szene sagt Nancy einmal, dass es Frauen ihrer Generation gibt, die sexuell aktiver waren als sie selbst. An ihr selbst ging das alles vorüber. Sie lebte in einer kleinen Stadt und verbrachte dort ein ordentliches Leben: Beruf, Ehe, Kinder. Sie hat sich anständig verhalten, so wie es Frauen damals gesagt wurde: Sei ein gutes Mädchen! Die Lust am eigenen Körper war für sie mit Sicherheit nie ein Thema.

Man hat uns Frauen unser ganzes Leben lang eine Gehirnwäsche verpasst, damit wir unsere Körper hassen.

Sorgen Flirt-Plattformen wie Tinder heute für mehr Freiheiten?

Nein, solche Plattformen sind eine Einladung, die eigenen Fotos zu industrialisieren. Das Ziel ist, möglichst perfekt auf seinen Bildern auszusehen. Was Werbung und Kino vormachen, wird dort nachgestellt. Dort werden perfektionistische Varianten des menschlichen Körpers als Vorbild gefeiert, die man selbst niemals erreichen kann. Das sorgt natürlich für ganz große Unzufriedenheit. Unser Film hingegen zeigt, wie Zufriedenheit entstehen kann, nämlich durch Kommunikation. Am Ende hat Nancy diese sehr schöne Bindung mit diesem Mann, eine tiefe und unromantische Intimität. So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen.

Wie entspannt sind Dreharbeiten in einem kleinen Raum mit sehr viel Dialog und nur einem Partner?

Zwölf Seiten Dialog in einem Drehbuch stellen schon eine Herausforderung dar! Wir mussten den Text wirklich sehr gut kennen. Wie immer, wenn etwas derart komprimiert wird, müssen Dinge sich von diesem Druck auch wieder befreien. Das ist einschränkend und zugleich sehr befreiend gleichermaßen.

Wie gelingt es, die Intimität glaubhaft darzustellen?

Die Regisseurin Sophie, mein Partner Daryl und ich haben gemeinsam sehr viel geprobt. Es gab diese Übung, bei der wir auf dem Boden lagen und beschreiben musste, welche Stellen am Körper einem gefallen und welche nicht. Dann haben wir einen ganzen Tag damit verbracht, unbekleidet zu sein. Damit hat sich die Nacktheit zwischen uns normalisiert.

Ihre Figur Nancy betrachtet sich am Ende mit Stolz nackt im Spiegel. Wie ergeht es Ihnen dabei?

Ich kann nicht so vor einem Spiegel stehen. Sobald ich das tue, ziehe ich den Bauch ein, drehe mich seitwärts. Ich ertrage das nicht, mich so anzugucken. Man hat uns Frauen unser ganzes Leben lang eine Gehirnwäsche verpasst, damit wir unsere Körper hassen. Und alles, was uns umgibt, erinnert uns daran, wie unvollkommen wir sind und was alles nicht perfekt ist. Ziehen Sie sich mal aus und stellen Sie sich still vor einen Spiegel. Bewegen Sie sich nicht. Akzeptieren Sie, wie Sie sind.

Das Gespräch führte Dieter Oßwald.

Dieter Oßwald