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Interview

„Warum Fiktion? Da geht viel von der Wucht des Realen verloren.“

Interview mit Kaouther Ben Hania über OLFAS TÖCHTER

Die tunesische Regisseurin und Drehbuchautorin Kaouther Ben Hania (*1977) studierte Film in Tunis und Paris und drehte zunächst Kurz- und Dokumentarfilme, bevor sie mit ihrem Spielfilmdebüt AALA KAF IFRIT (2017) nach Cannes eingeladen wurde. Der Film erzählt nach realen Vorkommnissen von einer Frau, die, nachdem sie mehrfach vergewaltigt wurde, auch noch der Sittenwidrigkeit angeklagt wird. Ihr zweiter Spielfilm DER MANN, DER SEINE HAUT VERKAUFTE über einen syrischen Flüchtling, den ein Tattoo zum lebenden Kunstwerk macht, war für den fremdsprachigen Oscar nominiert. In ihrem jüngsten Film OLFAS TÖCHTER, der im Wettbewerb von Cannes Premiere feierte, experimentiert sie mit dokumentarischen und fiktionalen Formaten. Thomas Abeltshauser hat sich mit Kaouther Ben Hania über OLFAS TÖCHTER unterhalten.

INDIEKINO: Wie haben Sie von Olfa und ihrer Geschichte erfahren?

Kaouther Ben Hania: 2016 hörte ich im Radio zufällig ein Interview mit ihr, in dem sie von ihren Töchtern erzählte und darüber, was passiert war. Ich war fasziniert von ihr und dem, was sie erzählte, auch weil es so widersprüchlich war. Es warf viele Fragen bei mir auf, was es bedeutet, Mutter zu sein. Ich wollte sie kennenlernen und mich weiter mir unterhalten, also kontaktierte ich die Redaktion des Radiosenders. Ich bekam ihre Nummer und rief sie an. Sie dachte zuerst, ich sei auch eine Journalistin. Und sie wollte nichts mehr damit zu tun haben, weil sie für ihre Geschichte immer wieder angegriffen und beleidigt wurde. In den sozialen wurde sie als Monster beschimpft.

Wie haben Sie dann ihr Vertrauen gewonnen?

Ich sagte ihr, dass ich keine Journalistin sei und auch, dass ich sie nicht verurteilen will. Ich wollte wissen und verstehen. Und wir begannen zu reden. Über die Beziehung zu ihren Töchtern, die tragischen Details ihres Verschwindens. Und vor allem das Warum? Warum geschieht so etwas mit Jugendlichen? Warum radikalisieren sich zwei Töchter einer tunesischen Frau und schließen sich in Libyen der Terrororganisation Islamischer Staat an? All das zu verstehen, hat mir keine Ruhe gelassen. Aber diese Gespräche haben sich über Jahre hingezogen, in dieser Zeit sind wir uns nähergekommen, und sie hat mir mehr und mehr vertraut.

Es geht im Film auch um durch Gewalt ausgelöste Traumata, die von Generation zu Generation weitergereicht werden …

Das war ein weiterer Grund, warum ich den Film gemacht habt. Ich wollte diesen Prozess verstehen. Olfa nennt es einen Fluch. Sie sagte mir, dass ihr erst durch den Film klargeworden sei, dass sie sich ihren Töchtern gegenüber so verhalten hat, weil bereits ihre Mutter ihr selbst ganz Ähnliches angetan hat. Das Trauma überträgt sich auf die nächste Generation. Das passiert unbewusst, nicht aus Böswilligkeit. Olfas Leben war hart und von Gewalt geprägt, sie wuchs vaterlos auf, mit ihrer Mutter und den Schwestern. Sie musste lernen, sich zu verteidigen, wurde selbst sehr gewalttätig. Das Aufwachsen in diesem höchst schwierigen Umfeld machte sie dazu. Sie musste selbst Gewalt ausüben, um zu überleben. Und sie hinterfragte es all die Jahre nicht, weil dafür kein Platz und keine Zeit war. Erst im Film kommt der Moment, als sie sich mit der Katzenmutter vergleicht, die sich nicht anders zu helfen weiß, als ihre Neugeborenen aufzufressen.

Sehen Sie das als Konsequenz eines patriarchalen Systems?

Absolut. Und Olfa zieht daraus ihre eigenen Schlüsse. Sie hat Männern gegenüber kein Vertrauen und keinen Respekt, und sie wird ihren Töchtern Mutter- und Vaterfigur zugleich. Sie glaubt, nur so ihre Töchter beschützen zu können. Eine doppelte Unterdrückung, die womöglich auch ein Grund ist, warum die älteren Töchter diesen Weg eingeschlagen haben.

Es ist ein Dokumentarfilm, in dem ich Mittel der Fiktion und des Kinos nutze

Wie haben Sie das Konzept für Ihren Film gefunden, in dem sie Momente rekonstruieren und dabei Schauspielerinnen und die realen Frauen miteinander agieren lassen? Das hat etwas von einer Familientherapie.

Auch das war ein langer Prozess. Zunächst begleitete ich 2016/17 Olfa und ihre beiden jüngsten Töchter mit der Kamera, wie eine Fliege an der Wand, ohne einzugreifen. Ich dokumentierte ihr Leben und ihren Alltag, die von den tragischen Ereignissen geprägt waren. Aber das reichte schnell nicht mehr. Denn was mich interessierte, war ja bereits geschehen, bevor ich dazukam. Aber wie erweckt man die Vergangenheit oder die Erinnerungen daran wieder zum Leben? Ich dachte an Reenactments, nachgestellte Szenen, aber das finde ich in Dokumentarfilmen selten gut. Dann dachte an Gruppentherapie. Und weil ich auch Spielfilme inszeniere, weiß ich, dass Schauspieler*innen oft sehr viele Fragen stellen, um ihre Figuren und deren Situation zu verstehen. Also schuf ich Szenen, in den die Darstellerinnen die realen Vorbilder spielen, die realen von ihnen geführten Gesprächen rekreieren. Und dann können sie aus dieser Szene heraustreten und den realen Töchtern Fragen zu diesen Erinnerungen stellen, um sie so nicht nur nachzustellen, sondern auch zu analysieren und kontextualisieren.

Hatten Sie überlegt, die Geschichte als klassischen Spielfilm zu inszenieren?

Nein, weil die realen Frauen so faszinierend sind und ich sie selbst beobachten und filmen wollte. Warum Fiktion? Da geht viel von der Wucht des Realen verloren. Aber der Film ist auch nicht einfach eine Dokumentation. Mich interessiert die Gratwanderung. Für mich ist es ein Dokumentarfilm über Olfa und ihr Leben, und zugleich ein Dokumentarfilm über das Schauspielen. Es ist ein Dokumentarfilm, in dem ich Mittel der Fiktion und des Kinos nutze, und zugleich sind die Geschichte und die Menschen real. Und die Darstellerinnen zeigen uns im Spiel, dass sie spielen, machen den Prozess sichtbar. Wenn Sie so wollen, ist es eine Dokumentation eines Spielfilms, den wir nicht drehen werden, ein Making-Of zu einem Film, der nicht existiert.

Warum haben Sie alle männlichen Figuren mit demselben Darsteller besetzt?

Weil es um die Frauen geht, auf sie wollte ich mich konzentrieren. Jedes Mal einen neuen Schauspieler einzuführen, hätte da nur abgelenkt. Und zugleich verdeutlicht es nochmal, dass ihr Verhältnis zu Männern sich jedes Mal sehr ähnelt. Der Mann als Archetyp.

Was hat der Versuch dieser Filmtherapie bewirkt?

Während der Dreharbeiten ist sehr viel passiert. Olfa hat sich zum ersten Mal hinterfragt, ihre Entscheidungen im Leben, ihr Handeln und Verhalten. Die Beziehung zu ihren Töchtern hat durch den Film sehr gewonnen, sie sind heute viel enger. Bevor Olfa den fertigen Film zum ersten Mal sah, hatte sie große Angst davor. Sie dachte, sie würde als schlechte Mutter erscheinen, alle würden sie hassen. Nachdem ich ihr den Film gezeigt hatte, war sie sehr erleichtert, dass er mehrere Facetten zeigt.

Ich empfinde es als große Bereicherung, am Leben eines anderen Menschen teilnehmen zu dürfen.

Sie leben in Tunesien, sind eine international erfolgreiche Regisseurin. Wie nehmen Sie den Wandel des Landes seit der Revolution 2010/11 wahr? Wie hat sich Ihre persönliche Situation verändert?

Allem voran Meinungsfreiheit. Während der Diktatur herrschte eine harte Zensur. Man musste bei allem sehr vorsichtig sein, Anspielungen auf versteckte Konflikte wurden schnell als politischer Protest verstanden. All meine Filme sind nach der Revolution entstanden. Aber die Folgen des Wandels sind nicht immer gleich spürbar. Bei der Französischen Revolution hat es zwei Jahrhunderte gedauert. Also erwarten Sie nicht, dass sich in Tunesien jedes Problem in zehn Jahren löst.

Nach dem internationalen Erfolg Ihres letzten Films DER MANN, DER SEINE HAUT VERKAUFTE und der Oscarnominierung 2021 standen Ihnen vermutlich viele Türen offen. Warum haben Sie kein Angebot aus Hollywood angenommen, sondern beschlossen, mit diesem Dokumentarfilm ein Risiko einzugehen?

Mir wurde in den Vereinigten Staaten wirklich sehr viel angeboten. Sehr viel Mist. Ich hätte alle möglichen englischsprachigen Filme drehen können als Auftragsregisseurin, aber nichts hat mich interessiert. Und OLFAS TÖCHTER begann wie gesagt bereits 2016, es war ein Work-in-Progress. Ich wollte es nicht aufgeben, wollte auch die Menschen nicht einfach im Stich lassen. Alle hielten mich für verrückt. Aber ich bin mir sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben. Ich liebe das dokumentarische Arbeiten. Es erdet mich im realen Leben. Ich empfinde es als große Bereicherung, am Leben eines anderen Menschen teilnehmen zu dürfen.

Werden Sie trotzdem irgendwann dem Ruf Hollywoods folgen?

Wer weiß? Was mich nicht interessiert, ist anderer Leute Drehbücher zu verfilmen und eine unter Hunderten zu sein. Das wäre Zeitverschwendung. Dazu habe ich zu viele eigene Geschichten, die mir unter den Nägeln brennen. Ich habe ein Science-Fiction-Projekt über Künstliche Intelligenz, das könnte überall und nirgends spielen. Aber ich muss mich beeilen, es wird mit jedem Moment weniger Sci-Fi und mehr Realität. Vielleicht wird es dann doch wieder ein Dokumentarfilm.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser.

Thomas Abeltshauser