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Feature, Interview

„Martin Eden wird dazu getrieben, die soziale Klasse zu betrügen, der er selbst angehört“

Interview mit Pietro Marcello über MARTIN EDEN

INDIEKINO: Mister Marcello, was konkret hat Sie an der Figur Martin Eden so fasziniert, dass Sie sich an eine Verfilmung des Romans gewagt haben? Erkennen Sie sich in dem individualistischen Künstler ein Stück weit selbst wieder?

Pietro Marcello: Ich habe diese Frage befürchtet. Nein. Zwischen mir, dem Regisseur, und der Figur, mit der ich mich befasse, gibt es einen großen Unterschied: Eden ist ein Individualist, der den Bezug zur Realität verliert. Und für mich wäre das das Schlimmste, das mir passieren könnte. Ich kann mich mit ihm identifizieren, solange er danach strebt, sich zu bilden, ein klügerer Mensch zu werden, der sich von den Zwängen zu befreien versucht, ihn die er hineingeboren wurde. Aber man darf nicht vergessen, dass es sich hier um eine Parabel handelt, eine universelle Geschichte über Menschen, die sich darum bemühen, in der Gesellschaft aufzusteigen, Ruhm zu erlangen und ein besseres Leben zu führen. Aber in Edens Fall endet dieser Versuch tragisch, er scheitert an sich und seinen Idealen und hintergeht schließlich die Arbeiterklasse, aus der er selbst stammte.

Warum, denken Sie, werden so gerne Parallelen zwischen Ihnen und Eden gezogen?

Weil ich auch ein Autodidakt bin. Zudem stamme aus einfachen Verhältnissen und hatte viele Jobs in meinem Leben. Und in gewisser Weise bin wohl auch ich ein Individualist, zumindest gehe ich künstlerisch meinen eigenen Weg und produziere meine Filme weitestgehend selbst. Nur stelle ich mich darin nicht selbst in den Vordergrund. Natürlich lässt es sich nicht ganz vermeiden, dass auch immer ein Teil von mir mit in einen Film einfließt, aber darum geht es mir nicht. Es ist mir persönlich viel wichtiger, eine moralische Position zu einzunehmen. Ich glaube an Kunst und Kampfgeist, und an ein Kino, das aus der Notwendigkeit heraus entsteht, etwas auszudrücken und bewegen zu wollen.

Ist Jack London Ihrer Meinung nach mit einer ähnlichen Intention an seinen Roman heran gegangen?

Es heißt, er hätte den Roman aus Liebeskummer geschrieben. Aber auch für London war Martin Eden ein Anti-Held. Er kämpft sich nach oben in die bürgerlichen Kreise, wo er Ruhm, Kultur und ein edles Leben und Denken zu finden hofft und schließlich entsetzt ist über die gnadenlose Mittelmäßigkeit der Bourgeoisie. Er kämpft um eine Frau, die er abgöttisch liebt, bis er einsehen muss, dass er sein Idealbild mehr liebt als die Frau selbst. Und weil er konsequent ist in seinem Individualismus und ohne ein Bewusstsein für die Missstände in der Gesellschaft, bleibt ihm irgendwann nichts mehr, wofür es sich zu leben und zu kämpfen lohnt. Und diesem Martin Eden habe ich versucht, in das 20. Jahrhundert zu übertragen, habe versucht, ihn für die heutige Zeit relevant zu machen. Für mich ist er eine Art Rockstar, ein Dandy, ein Opfer seines eigenen Erfolges. Er ist in sich selbst gefangen und eingeschlossen. Er hat nichts anderes zu sagen, nichts anderes zu schreiben.

Was hat Sie an dem Buch fasziniert, und was macht den Roman für Sie heute wichtig?

Wir haben uns erlaubt hat, eine sehr freie Version des Buches für das Kino zu verfilmen. Unser Martin Eden ist ein eher südländischer Charakter, und die Geschichte ist viel eher in Europa und der europäischen Kultur verwurzelt, als in der amerikanischen, so wie es bei London der Fall war. Für mich ist Martin Eden wie ein moderner Hamlet oder Faust: Ein kleiner Junge, der irgendwie dazu getrieben wird, schließlich die soziale Klasse zu betrügen, der er selbst angehört. Mich fasziniert vor allem seine Aufopferung. Sein Talent und seine Hingabe, die Notwendigkeit, sich selbst etwas aufzubauen. Es ist so schwer und kompliziert sich heute etwas Eigenes zu schaffen. Und ohne Leidenschaft, Eifer und Aufopferungsfähigkeit ist es unmöglich.

"Meine Filme entwickeln sich über die Jahre in mir weiter, sie verformen sich, ändern ihre Struktur, manchmal auch ihre Perspektive."

Wie sind Sie konkret an die Adaption des Romans herangegangen?

Ich komme vom Dokumentarischen, das heißt, mein Schreibprozess ist sehr intuitiv und weniger strukturiert. Das Geschriebene ist unvollständig. Ich war nicht an der Chronologie oder Erzählung interessiert. Es ging mir in erster Linie darum, der Figur zu folgen. Das hat uns einerseits einen enormen Freiraum gegeben, andererseits haben wir aber auch stark an der Vorlage entlang geschrieben. Alles in allem war es ein sehr experimenteller Prozess.

Sie haben die Handlung nach Italien verlegt, genauer gesagt, nach Neapel. Warum dorthin?

Die Geschichte hätte überall in Europa spielen können. In Dublin, Lübeck, Marseilles. Mir ging es lediglich darum, die Struktur zu wahren und einige ausgewählte Schlüsselstellen im Text. Aber es ist auch immer ein Stück von mir und von meiner Kultur in meinen Filmen. Ich komme aus der Stadt. Und es ist immer einfacher und meistens besser, darüber zu reden, was einem vertraut ist.

Besonders auffällig ist, wie elegant Sie das verwendete Archivmaterial in die Geschichte einschneiden, die Sie erzählen.

Das ist für mich ein natürlicher Prozess. Ich habe eine Leidenschaft für Geschichte und benutze stets Archivmaterial in meinen Filmen. Ich glaube, Archivmaterial ist immer stärker als jedes gestellte Bild. Wenn man zum Beispiel Aufnahmen eines sinkenden Schiffes von 1912 sieht, dann müssen diese Bilder automatisch mehr wiegen als jede Szene, die ich hätte rekonstruieren können. In dem gleichen Sinne ist letztlich auch der Roman „Martin Eden“ stärker als jeder Film, den ich produzieren kann.

Was bedeutet es für Sie, am Set oder im Schneideraum zu arbeiten?

Ich stehe gerne hinter der Kamera. Ich mag es, mir meine Filme Schritt für Schritt zusammenzubauen. Erst wenn ein Film fertig ist, wird es schwierig für mich, weil es mir schwerfällt, einen Schlusspunkt unter ein Projekt zu setzen. Meine Filme entwickeln sich über die Jahre in mir weiter, sie verformen sich, ändern ihre Struktur, manchmal auch ihre Perspektive. Deshalb glaube ich nicht an ein Ende per se. Ich glaube nicht, dass ein Film jemals abgeschlossen ist. Und letztendlich ist und muss mein Kino immer ein mangelhaftes sein, weil ich stets auf der Suche bin nach Bildern und Momenten, die bleiben. Alle Filme, die ich toll finde, sind mangelhaft. Aber sie haben sich trotzdem in mein Unterbewusstsein hineingebohrt und haben in mir etwas hinterlassen, einen speziellen Augenblick, eine Szene, ein Bild, etwas. Und am Ende sind es genau diese kleinen Dinge an die wir uns erinnern. Und darauf kommt es an.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn