Magazin für unabhängiges Kino

Feature, Interview

„Ich dränge mich den Menschen nicht auf“

Interview mit Nicolas Philibert über AUF DER ADAMANT

Der französische Dokumentarfilmer Nicolas Philibert (*1951) studierte zunächst Philosophie, bevor er im Filmbusiness landete. Am besten bekannt ist Philibert für SEIN UND HABEN (2002), das Porträt einer kleinen Dorfschule im Massif Central, in der ein einziger engagierter Lehrer alle Grundschulkinder in einer Klasse unterrichtet. Sein Dokumentarfilm IM LAND DER STILLE (1994) über Menschen mit Hörbehinderungen, ist in französischer Gebärdensprache gedreht. Zu jüngeren Arbeiten gehören NÉNETTE über eine 40-jährige Orang-Utan Äffin im Jardin des Plantes und LA MAISON DE LA RADIO (2013) über den Alltag der Menschen im Radio France-Gebäude. Sein jüngster Dokumentarfilm AUF DER ADAMANT über ein Boot auf der Seine, das als Anlaufstelle für Psychiatriepatient*innen fungiert, wurde auf der Berlinale 2023 mit dem Goldenen Bären ausgezeichnet.

INDIEKINO: Herr Philibert, wann haben Sie zum ersten Mal von dieser einzigartigen Tagesklinik auf der Seine erfahren?

Nicolas Philibert: Ich habe eine Bekannte, die Psychologin und Psychiaterin ist, und sie war an der Gründung dieses besonderen Ortes beteiligt. Daher wusste ich schon vor 15 Jahren von der Existenz der Adamant, bevor sie überhaupt eröffnet wurde. Am Anfang war es eine Gruppe von Architekten, Psychiatern, Krankenschwestern und Patienten, die darüber diskutierten, was man tun könnte, um mitten in der Stadt eine Anlaufstelle zu schaffen, die Schutz und Hilfe bietet. Und sie träumten von diesem Ort. Bis jemand dazu kam, der für die Psychiatrie im Zentrum von Paris zuständig war, und der ein kleines Krankenhaus hatte, das ein paar Stockwerke hoch und ziemlich hässlich war. Eines Tages sagte er: „Warum stecken wir die Verrückten immer in solche Löcher? Wir sollten sie an schönen Orten unterbringen.“

Sie haben sich 1996 in LA MOINDRE DES CHOSES schon einmal mit dem Alltag der Menschen in einer Psychiatrie befasst. Warum ist diese Welt wichtig für Sie?

Ich habe mich schon immer für psychiatrische Einrichtungen interessiert, seit meinen Zwanzigern. Die Welt der Psychiatrie scheint nahe und doch so weit weg zu sein. Alles, was mit dem Thema zu tun hat, mit den so genannten Verrückten, bewegt mich sehr. Ich habe die großen Philosophen studiert und unzählige Geschichten gelesen, die sich mit psychisch kranken Menschen beschäftigen. Vielleicht gibt es irgendwelche Schattenseiten in mir, derer ich mir nicht bewusst bin. Ich bin dem nie nachgegangen. Vielleicht will ein Teil von mir durch diese Filme herausfinden, wer ich bin. Für mich sind die Patienten Menschen wie du und ich, von denen wir unheimlich viel lernen können. Sie legen die Messlatte für uns alle ziemlich hoch.

Inwiefern?

Die Psychiatrie offenbart einen Blick auf die Menschheit im Allgemeinen. Es ist ein Ort, der uns Angst macht und der gleichzeitig sehr stimulierend sein kann. Die Patienten selbst sind in bestimmten Dingen sehr klar. Sie sind sehr direkt, sehr radikal. Sie kommen sofort auf den Punkt. Und darin liegt meines Erachtens ein großes Potential. Diese Direktheit hat etwas Aufrüttelndes, sie regt uns zum Nachdenken an. Was die psychiatrischen Patienten uns erzählen, ihre Art, die Welt zu sehen, ist immer auch ein Spiegelbild unseres eigenen persönlichen Bewusstseins. Es erinnert uns an unsere eigenen Fehler und Mängel.

Ist das Thema psychische Gesundheit in der öffentlichen Diskussion in Frankreich immer noch eine Art Tabu?

Psychisch kranke Menschen sind in Frankreich immer noch eher unsichtbar. Die Gesellschaft will nichts von ihnen hören. Die Gesellschaft will sie nicht sehen. Also behandeln wir sie, als ob es sie nicht geben würde. Und wenn wir über sie sprechen, dann nur unter der Prämisse, dass sie gefährlich sind. Auch in den Medien wird nur über das Thema diskutiert, wenn etwas schiefläuft. Die Regierung will kein Geld für therapeutische Maßnahmen ausgeben, weil man an Schizophrenie leidende Menschen sowieso nicht heilen kann. Oder anders gesagt: Die Investition lohnt sich nicht. Deshalb gibt es auch kein staatliches Geld. Den Behörden sind diese Patienten egal, sie werden im Stich gelassen.
Wie steht es um das nötige Pflegepersonal?
Wie überall ist es auch um das öffentliche Gesundheitssystem in Frankreich nicht gut bestellt, vor allem was die Psychiatrie betrifft. Das Pflegepersonal in diesem Bereich ist unterbesetzt und überarbeitet. Überstunden sind die Regel, aber es bleibt trotzdem nie genug Zeit für die Patienten. Und was macht man also? Man sperrt die Leute ein. Aber die Krankenschwestern und Pfleger in der Psychiatrie wollen keine Gefängniswärter sein. Deshalb wechseln viele von ihnen den Beruf.

Es ist nicht leicht, ein Gleichgewicht zu finden, wen man zeigt und wen nicht.

Aber haben Sie nicht auch den Eindruck, dass sich das Bewusstsein der Öffentlichkeit zumindest so weit verändert hat, dass die Menschen heute offener über ihre psychischen Probleme sprechen, und das allgemeine Interesse zunimmt?

Richtig, es gibt eine Nachfrage, und der Bedarf an therapeutischen Leistungen hat seit der Pandemie dramatisch zugenommen. Aber das medizinische Gesundheitssystem reagiert nicht. Wer sich um Hilfe bemüht, kommt auf eine Warteliste und muss mindestens sechs Monate bis zu einem Jahr ausharren, weil das Geld fehlt, um zusätzliche Maßnahmen zur Verfügung zu stellen. Es gibt ja noch nicht einmal genügend Stellen, an die sich betroffene Menschen wenden können. Von qualifizierten Arbeitskräften ganz zu schweigen. Glücklicherweise gibt es in diesem Zusammenhang überall Teams und Orte, an denen man sich weigert, aufzugeben, und die versuchen, eine Psychiatrie zu betreiben, die ihren Namen verdient.

Wie das Adamant.

Das Adamant ist ein kleines Wunder. Es ist wie eine kleine Gruppe von Widerstandskämpfern, die immer noch für eine menschliche Form der Psychiatrie kämpfen. Und es gibt solche Initiativen überall, aber man muss sich darüber im Klaren sein, dass sie in der absoluten Minderheit sind und immer die Gefahr besteht, dass auch diese letzten Orte der Zuflucht und Heilung zerschlagen werden.

Was ist für Sie das Besondere an dieser Klinik?

Sie liegt im Herzen von Paris, aber man hat das Gefühl, woanders zu sein, wenn man so nah am Wasser und am Flussverkehr ist. Es ist, wie gesagt, sehr schön dort, was extrem wichtig ist, denn im Allgemeinen sind psychiatrische Einrichtungen und Krankenhäuser nicht besonders einladend. Auch das Pflegeteam ist sehr lebendig und bemüht; Sie laden Redner, Philosophen, Schriftsteller ein, und sind sogar Filmemachern wie mir gegenüber aufgeschlossen, was nicht selbstverständlich ist. Es ist also ein Raum, der offen für das Leben ist und den Patienten eine Anlaufstelle bietet, wenn sie den Kontakt zur Außenwelt verloren haben oder ihr Zuhause nicht mehr verlassen wollen.

Ihr Film vermittelt nicht den Eindruck, dass der Ort überfüllt ist. Gibt es dort auch ein Wartesystem? Wie wird entschieden, wer wann Zugang bekommt?

In Paris funktioniert das so: Die Stadt ist in Sektoren eingeteilt. Wenn man innerhalb der ersten fünf Bezirke von Paris wohnt, können die Ärzte oder Psychiater einen in eine Einrichtung wie das Adamant schicken. Sie nehmen etwa 50 Patienten pro Tag auf. Manche kommen wieder, und zum Teil sind es sogar bis zu 150 Patienten im Monat, was sehr viel ist. Aber man wird dort nicht abgewiesen. Jeder ist willkommen. Es gibt also eigentlich keine Grenzen. Aber wenn man einen Film über eine Gruppe von Menschen macht, kann man nicht alle zeigen, weil man sich dann auch als Regisseur verliert. Ich habe mich auf bestimmte Protagonisten konzentriert.

Wie haben Sie für sich entschieden, welche Patienten Sie porträtieren?

Es ist nicht leicht, ein Gleichgewicht zu finden, wen man zeigt und wen nicht. Einige der Patienten kommen jeden Tag, vielleicht 15 oder 20 von ihnen sind jeden Morgen da. Andere kommen einmal im Monat. Es ist sehr unregelmäßig. Zudem muss man beachten, dass es auch eine Gruppendynamik gibt. Denn die Gruppe ist unheimlich wichtig für die Patienten. Sie hat eine heilende Wirkung, eine heilende Kraft. Wie man das dann gewichtet, die einzelnen Menschen und wie sie zusammen interagieren, das ist die große Herausforderung.

Ich wollte, dass sich die Zuschauer von den Klischeevorstellungen lösen, die wir alle von psychischen Erkrankungen haben.

Es gibt keine Heilung für Schizophrenie, aber mit der richtigen Behandlung ist es möglich, die Symptome zu begrenzen. Was halten Sie nach Ihren Beobachtungen für besonders hilfreich?
Man weiß nie genau, was dem Einzelnen hilft, aber neben der Gruppendynamik ist eben auch die Atmosphäre wichtig. Zum Beispiel die Tatsache, dass man sich in diesen Räumlichkeiten frei bewegen kann. Was mich fasziniert hat, ist, dass es nicht darauf ankommt, welchen Status man in diesem in sich geschlossenen System hat. Es ist ganz gleich, ob du Arzt, Lehrling oder die Putzfrau bist. Jeder kann dazu beitragen, dass es einen positiven Effekt auf einen Patienten hat. Das gilt selbst für die Patienten untereinander. Das ist es auch, was ich meine, wenn ich sage, dass ich als Filmemacher eine bestimmte Rolle in dem Heilungsprozess spiele. Wie wichtig meine Präsenz ist, vermag ich nicht zu beurteilen, aber ich weiß, dass meine Anwesenheit nicht unwesentlich ist.

Weil die Patienten dadurch das Gefühl haben, dass man ihnen Aufmerksamkeit und Gehör schenkt?

Ja, weil sie das Gefühl haben, dass sie beachtet werden. Weil da jemand ist, der sie in ihrer Würde wahrnimmt und ehrliches Interesse bekundet. Das kennen sie nicht.

Wie schafft man es, Menschen mit zum Teil schweren inneren Leiden zu porträtieren, und dabei sogar ein wenig Humor zu vermitteln?

Ich wollte keinen Film über die Psychiatrie machen, der die Zuschauer in eine unweigerlich düstere Welt führt. Wenn man an einem Ort wie diesem Zeit mit Patienten verbringt, trifft man auf Menschen, die offensichtlich leiden, und andere, die das nicht tun, die einen Weg gefunden haben, mit ihrer Krankheit zu leben, sie zu kontrollieren und zu akzeptieren. Die Art und Weise, wie sie damit umgehen, mag manchmal ein wenig wild erscheinen, aber es gibt dort einige wirklich gebildete, unglaublich klare Menschen, die oft auch lustig sind, selbst wenn die Situation es nicht zulässt. Aber das kennt doch jeder von uns, es gibt auch Höhen und Tiefen in unserem Leben. Ich wollte, dass sich die Zuschauer von den Klischeevorstellungen lösen, die wir alle von psychischen Erkrankungen haben: Gewalt, Geschrei, Hysterie. Es ist nicht immer so, und genau das versucht der Film zu vermitteln. Es geht mir darum, die allgemeine Vorstellung, die wir oft mit dem Wort „Wahnsinn“ verbinden, zu verändern.

Ist es immer ein ähnlicher Prozess, den Sie bei Ihrer dokumentarischen Arbeit durchlaufen, unabhängig davon, wer Ihre Protagonisten sind?

Ja, es ist immer die gleiche Frage, ob man mit Kindern oder mit Patienten spricht oder sie filmt. Als ich vor Jahren einen Film über Menschen drehte, die von Geburt an taub waren, hatte ich das Gefühl, das sie einen völlig anderen sensorischen Zugang zur Welt haben. Wichtig ist, dass man sie als verantwortungsvolle Personen zeigt, unabhängig von ihrem Alter oder ihrem sozialen Status. Natürlich ist es zunächst immer schwierig, wenn man mit einer Kamera und einem Mikrofon kommt, denn die meisten Menschen fühlen sich erstmal unwohl, sie fühlen sich beobachtet, das ganze Equipment beunruhigt sie. Aber das ist eine ganz natürliche Reaktion. Das Gefühl kennt jeder, der schon einmal gefilmt oder vor der Kamera interviewt worden ist.

Wie sind haben Sie speziell bei den Patienten diese Scheu überwunden?


Ich dränge mich den Menschen nicht auf, wenn sie sich in einer Krise befinden. Die Patienten, die man im Film sieht, sind sich über ihren Gesundheitszustand, ihre Schwierigkeiten und ihre Krankheit im Klaren, und sie sprechen darüber. Aber ich filme keinen von ihnen, wenn es ihnen nicht gut geht, wenn sie im Delirium sind, wenn sie sich verfolgt fühlen, was vorkommen kann. Ich halte mich fern, weil man daran denken muss, was danach kommt. Was würden sie dazu sagen, wenn es ihnen wieder besser geht? Dass ich versucht habe, ihr Leiden in ein Spektakel zu verwandeln? Diese ethische Dimension prägt den Film.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn