Interview
„Für mich ist das eigentlich eine Durchschnittsfamilie.“
Interview mit Matthias Glasner zu STERBEN
Mit seinen Kinofilmen begibt sich Matthias Glasner (*1965 in Hamburg) bevorzugt in psychische Extremsituationen. Unter anderem drehte er die Komödie SEXY SADIE (1996) in der Jürgen Vogel einen Serienmörder mit Hirntumor spielt, der die Gefängnisärztin zur Geisel nimmt und für ein paar letzte Tage ausbricht. In DER FREIE WILLE (2006) spielte Vogel dann einen Vergewaltiger, der nach seiner Gefängnisstrafe eine Beziehung mit einer Frau mit Missbrauchserfahrungen eingeht, und in GNADE (2012) kämpfen Jürgen Vogel und Birgit Minichmayr mit den Folgen einer Fahrerflucht. Ebenso wie DER FREIE WILLE und GNADE war auch STERBEN zu Gast bei der Berlinale und erhielt dort soeben den Silbernen Bären für das beste Drehbuch.
Pamela Jahn hat sich mit Matthias Glasner über STERBEN unterhalten.
INDIEKINO: Herr Glasner, Ihre Eltern sind beide verstorben. Wann und warum habe Sie sich entschieden, sich filmisch mit der Beziehung zu Ihrer Mutter auseinanderzusetzen?
Der Gedanke kam mir ziemlich bald nach ihrem Tod und der Geburt meiner ersten Tochter. Mein Vater war ein Jahr zuvor gestorben. Und wie das so ist bei kleinen Kindern, konnte ich nachts nicht schlafen. Ich befand mich in einem Zustand der emotionalen Dauerkrise. Aber jedes Mal, wenn ich zwei, drei Stunden für mich hatte, nutzte ich die Gelegenheit zum Schreiben. Ich fühle mich immer am wohlsten, wenn ich arbeite, das ist meine Art von Entspannung. In der Auseinandersetzung mit dem Tod meiner Eltern habe ich mir jedoch extrem viele Vorwürfe gemacht. Es war ein langsamer Tod, ein jahrelanger Prozess, mit dem ich nur schwer umgehen konnte. Das führte mich dazu, darüber nachzudenken, warum ich so bin, wie ich bin. Und ich begann, mir Notizen zu machen, ohne einen Plan, was für ein Film das einmal werden könnte. Nach zwei Monaten hatte ich 200 Seiten zusammen, und die waren genauso wie der Film, in all seiner Brüchigkeit, ohne eine klare dramaturgische Stringenz, aber geprägt von einer rohen Kraft. Ich hatte keine Ahnung, ob jemand das jemals finanzieren würde. Es war mir auch egal. Aber eins war klar: Ich würde es entweder so machen oder gar nicht. Da gab es für mich keine Diskussion.
Wieso haben Sie befürchtet, dass sich der Film schwer finanzieren lässt?
Der Film ist lang, er hat keine durchgehende Handlung, im Zentrum steht ein passiver Held. Tom wirkt eher sehr verloren in dieser Geschichte. Und man sagt immer, das ist ganz schlecht. Man braucht am Anfang ein Problem und jemanden, der oder die das Problem lösen will. Das ist klassische Filmdramaturgie nach Robert McKee. Aber all das fehlt hier. Der Film verstößt so ziemlich gegen sämtliche Regeln des kommerziellen Kinos. Auch was die Musik betrifft.
Inwiefern?
Es war mir wichtig, dass die Musik, die im Film vorkommt, Raum einnimmt. Das haben die Produzenten total unterschätzt. Im Drehbuch überliest sich das leicht. Aber das letzte Stück ist zum Beispiel fünf Minuten lang. Ich wollte, dass es ausgespielt wird. Das geht eigentlich nicht.
Hat sich Ihr schwieriges Verhältnis zu Ihrer Mutter durch die Arbeit an dem Film verändert? Blicken Sie heute anders auf die Beziehung zurück?
Nein, der Film hat daran nichts geändert. Es war auch keine Therapie für mich. Mein Leben ist eingeteilt in die Zeit vor und nach meiner jetzigen Familie. Ich habe zwei kleine Kinder und eine Partnerin. Mir war von Anfang an klar, dass ich sie raushalten wollte aus dieser Geschichte. Dass ich von etwas erzähle, was in der Vergangenheit liegt. Nur so konnte es ein zärtlicher Film werden, denke ich. Ich wollte mit Empathie auf diese Figuren blicken, dafür brauchte ich Abstand.
Solche Menschen machen Filme - Menschen wie du nicht
Es gibt Szenen im Film, die wirken auf den Zuschauer extrem erschütternd. Haben Sie Ihr Familienleben damals auch als so krass empfunden?
Meine Eltern haben ein sehr unspektakuläres Leben gelebt. Wenn ich jetzt lese und höre, was für eine irre Familie das angeblich sein soll, bin ich immer überrascht. Ich empfinde das gar nicht so. Für mich ist das eigentlich eine Durchschnittsfamilie, sehr kleinbürgerliche Verhältnisse. Ursprünglich sagt das Corinna Harfouchs Figur auch in der Aussprache mit Tom: Findest du nicht, dass wir eine ganz normale Familie sind? Keiner war im Gefängnis, nichts Asoziales. Darauf ist sie stolz, das war immer wichtig für sie.
Tom ist Dirigent, auch nicht unbedingt ein gewöhnlicher Beruf. Was ist er für ein Typ?
Er ist keiner dieser exzentrischen Dirigenten, er hat keine kapriziöse Persönlichkeit. Er ist Künstler, das ist seine Art, damit umzugehen, dass er nicht geliebt wurde, und er versucht, diese Liebe zu bekommen, indem er Kunst schafft, die größer ist als er selbst. Das ist oft der Ehrgeiz von Künstlern, weil man ihnen als Kind immer gesagt hat, du bist nichts wert. Meine Mutter hatte verschiedene Arten, mir das zu verstehen zu geben.
Zum Beispiel?
Ich erinnere eine Szene, da bin ich als Kind einfach über die Straße gelaufen, obwohl ein Auto kam, und mein Vater hat mit mir geschimpft. Aber meine Mutter sagte: Nein, Matthias wird nicht bei einem banalen Autounfall sterben, der ist was Besonderes. Später, als ich ihr erzählte, dass ich gerne Filmregisseur werden würde, hat sie mich sanft angelächelt und gesagt: „Ich habe gerade diesen Fassbinder in einer Talk-Show gesehen. Solche Menschen machen Filme - Menschen wie du nicht.“ Und diese Mischung aus Hervorhebung und Kleinmacherei führt eben dazu, dass man sein Leben lang um Anerkennung kämpft. Man sucht nach dieser Magie des Augenblicks, um ihn mit anderen Menschen zu teilen.
Kommt daher auch Toms Arbeitswut?
Ja, er ist immer dann glücklich, wenn er arbeitet, dann vergisst er sich selbst. Wie gesagt, ich kenne das auch sehr gut. Ich war früher auch immer unglücklich, wenn ich nicht gedreht habe. Nur dann konnte ich mich vergessen. Ich konnte vergessen, dass ich zu dick bin, dass ich nicht schlau genug bin, was auch immer. Wenn ich arbeite, verschwinden alle Selbstzweifel. Und auch davon wollte ich erzählen, dass Kunst glücklich machen kann.
Dieser Freiheitsbegriff, den wir gerne so hochhalten, ist ein Trugschluss.
Waren Sie bei der Besetzung von vornherein auf Lars Eidinger fixiert?
Corinna war die Einzige, von der ich wusste, dass sie meine Mutter spielen sollte. Wir haben schon einige Filme zusammen gedreht, und ich bin sehr gut mit ihr befreundet. Ich schätze sie sehr als Mensch und als Schauspielerin. Sie schafft es, der Figur eine Wärme zu verleihen, die meine Mutter nie hatte. Meine Mutter hat mir zum Beispiel ihr Leben lang immer nur die Hand gegeben, wenn wir uns gesehen haben. Aber Corinna hat diese Würde, diese Intelligenz, diese Empathie, die sie in den Film einbringt.
Mussten Sie Überzeugungsarbeit leisten, damit sie die Rolle annimmt?
Ein bisschen schon. Diesmal hat sie distanzierter reagiert als sonst, weil sie nicht so gerne jemanden spielen wollte, der stirbt. Dafür ist sie selbst zu lebendig. Ich glaube, sie hat die Rolle im Grund nur mir zuliebe gespielt, weil wir befreundet sind. Erst als wir uns am Abend vor dem ersten Drehtag alle zu einem gemeinsamen Abendessen trafen, kam sie auf mich zu und meinte: „Matthias, ich freue mich auf morgen! Ich habe das Drehbuch noch einmal gelesen. Jetzt habe ich verstanden, dass es auch eine Komödie ist.“
Es stimmt, der Film hat trotz all dem Schmerz und der erschreckenden Ehrlichkeit, die in ihm liegen, einen überraschenden Unterhaltungswert.
Das war von Anfang an so im Drehbuch angelegt. Immer wenn ich im Freundeskreis Geschichten von meinen Eltern erzählte, wurde sehr viel gelacht, je mehr, desto haarsträubender die Fakten waren, wie etwa, dass meine Mutter in ihrem eigenen Kot saß, das wusste ich von der Nachbarin. Und natürlich ist es grausam, sich das vorzustellen, aber irgendwie muss man auch lachen, obwohl oder gerade weil es so schrecklich ist. Das wollte ich gerne in den Film transportieren, dass insbesondere die dunklen Szenen trotzdem einen Humor haben, weil das so ein schönes Lachen ist, so ein empathisches Lachen. Darin liegt ein Humor, der etwas wiedererkennt, der etwas versteht, und das finde ich ein tolles Lachen.
Glauben Sie, dass der traditionelle Familienbegriff heute überbewertet ist?
Ja, ich bin eigentlich kein Freund vom klassischen Model der Kleinfamilie, obwohl ich selber eine habe. Wie so oft, macht man sich vor, bei mir wird das alles anders, und schon steckt man mittendrin in den Ritualen von Weihnachten und Ostern, Urlaub und Kita. Diese Kleinfamilie ist ein Gefängnis, zumindest empfinde ich das so. Ich glaube auch nicht, dass es die beste und weiseste Art ist, Kinder zu erziehen. Ich habe auch das Gefühl, dass es in den letzten Jahren wieder schlimmer geworden ist. Da waren wir in den 1970er Jahren garantiert schon mal weiter.
Wann war Ihnen klar, dass Sie in Ihrem Film jedem Familienmitglied ein eigenes Kapitel widmen wollen?
Ich wusste von Anfang an, dass ich den Kindern ähnlich viel Raum geben wollte wie den Eltern, weil mich eben auch interessiert hat, was aus den Menschen wird, wenn sie mit so einer Mutter groß werden, wie sie damit umgehen, dass sie nicht geliebt wurden. Die Frage ist doch: Kann man nach so einer Erfahrung überhaupt jemals sich selbst lieben? Und wenn nicht, kann man dann auch andere nicht lieben. Was genau macht das mit einem Menschen? Wie geht man damit um? Macht man es wie Tom, der Künstler wird. Oder gibt man sich dem Rausch hin, so wie Ellen, die regelrecht eine Hassliebe zum bildungsbürgerlichen Betrieb entwickelt, die in die Philharmonie kotzt, einfach weil sie das Recht dazu hat, wenn sie schon ungefragt in dieses Leben geworfen wurde.
Wie meinen Sie das?
Dieser Freiheitsbegriff, den wir gerne so hochhalten, ist ein Trugschluss. Wir sind ja nicht frei. Wir waren von Anfang an nicht frei. Wir werden in etwas hineingeworfen, was wir uns nicht ausgesucht haben. Hier, das ist dein Leben, was für ein Geschenk! Für mich war es das nie. Eine Sichtweise, die ich übrigens mit Lars Eidinger teile. Ich glaube, deshalb verstehen wir uns so gut, weil wir beide morgens aufwachen und denken: Ach, wieder aufstehen, leben müssen, funktionieren.
Wie möchten Sie sterben?
Ich möchte sterben, wenn die Menschen, die ich liebe, bei mir sind. Ich finde es schlimm, dass meine Eltern beide alleine gestorben sind. Ich stelle mir das ganz furchtbar vor, dass man stirbt und weiß, die Kinder sind irgendwo, aber sie kommen einfach nicht. Das würde jetzt zu lange dauern zu erklären, warum das so war. Andererseits möchte ich nicht, dass sie im Sterbeprozess da sind. Ich möchte nicht, dass sie mich pflegen müssen. Nur in dem Moment, wenn es zu Ende geht, wäre ich froh, sie wären da.
Das Gespräch führte Pamela Jahn.
Pamela Jahn