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Feature, Interview

„Es war mir wichtig, dass der Film buchstäblich unter die Haut geht“

Audrey Diwan im Interview zu DAS EREIGNIS

Audrey Diwan arbeitete zunächst als Journalistin, Schriftstellerin („La fabrication d’un mensonge") und Drehbuchautorin, bevor sie 2019 mit MAIS VOUS ÊTES FOUS ihren ersten Spielfilm drehte. Das sozialrealistische Drama handelt von einer Familie, die aufgrund der Drogensucht des Vaters das Sorgerecht verliert. Ihr Film DAS EREIGNIS, der basierend auf dem Roman von Annie Ernaux von einer jungen Frau erzählt, die Mitte der 1960er Jahre abtreibt, wurde auf den Filmfestspielen in Venedig 2021 mit dem Golden Löwen für den Besten Film ausgezeichnet. Pamela Jahn hat mit Audrey Diwan über DAS EREIGNIS gesprochen.

INDIEKINO: Die Geschichte, die Sie in DAS EREIGNIS erzählen, spielt im Jahr 1964. Aber die Bilder, die Sie dafür finden, entsprechen nicht dem typischen sechziger Jahre Flair, der uns im Kino gerne vermittelt wird.

Audrey Diwan: Ich bin grundsätzlich kein Freund von idealisierten Bildern. Ich denke, sie verklären die Realität. Für meinen Film war es mir wichtig, dass die Zuschauer sich nicht als Beobachter fühlen, dass sie Anne nicht zuschauen, sondern dass sie sich direkt in ihre Lage versetzen. Und dazu gehört auch, dass man sich in die sechziger Jahre einfühlt. Ich wollte kein Historiendrama in dem Sinne drehen, keinen nostalgischen Film. Ich wollte die Schwierigkeiten aufzeigen, die es damals gab, als Abtreibungen in Frankreich nicht nur illegal waren, sondern die Frauen, die sich trotzdem dafür entschieden, nicht nur gegen das Gesetz verstießen, sondern gleichzeitig ihr Leben riskierten. In dem Sinne sind die sechziger Jahre in meinem Film vielmehr eine sozialpolitische Idee als das Stimmungsbild einer Zeit, an die wir uns gerne mit verklärtem Blick erinnern.

Wie sind Sie auf Annie Ernaux‘ Buch aufmerksam geworden?

Ich bewundere Sie als Autorin schon sehr lange und habe viele ihrer Bücher gelesen. Nur „Das Ereignis“ kannte ich noch nicht, bis ich selbst eine Abtreibung erlebte. Ich wollte darüber lesen, darüber nachdenken. Daraufhin empfahl mir eine Freundin das Buch. Beim Lesen wurde mir der enorme Unterschied bewusst zwischen meiner Situation und dem, was Frauen in der Vergangenheit durchmachen mussten. Ich hatte den Prozess selbst nicht als eine derartige Tortur empfunden, habe auch nicht die Einsamkeit gespürt, die Verzweiflung, all das. Ich hatte das große Glück, in einer Zeit und in einem Land zu leben, wo eine Abtreibung unter ärztlicher Aufsicht möglich ist, ohne Nadeln auf dem Küchentisch. Ich spürte beim Lesen einerseits eine enorme Wut im Bauch, habe aber gleichzeitig auch die weibliche Lust bewundert, die in dem Buch zum Ausdruck kommt. Und genau darüber wollte ich einen Film machen. Einen Film, der beide Dimensionen umfasst: Den Horror der Abtreibung ebenso wie das weibliche Begehren.

Sie haben bisher vor allem für andere Leute Drehbücher geschrieben. Warum war es Ihnen so wichtig, bei diesem Film selbst Regie zu führen?

Ich war sehr jung, als ich meine ersten Romane schrieb. Mit siebenundzwanzig habe ich aufgehört, Geschichten zu schreiben, weil ich das Gefühl hatte, dafür noch nicht wirklich reif zu sein. Ich wusste, dass ich schreiben wollte, aber ich musste mir erst mal eine Meinung bilden über die Welt, ich musste mir Zeit nehmen zu leben. Ich dachte, früher oder später würde der Moment schon kommen, wo ich bereit sein würde - wenn nicht fürs Romanschreiben, dann für etwas anderes. Und irgendwann hatte ich all diese Bilder im Kopf und eine Vorstellung davon, wie ich die Dinge auch visuell ausdrücken könnte, um die es mir ging. Ich verspürte den Drang, selber Regie führen zu wollen. Das war vor vier Jahren, damals war ich sechsunddreißig. Daraufhin ist mein erster Film entstanden, MAIS VOUS ÊTES FOUS, und danach gab es für mich kein Zurück.

Wenn der Frieden in Gefahr ist, werden zuerst den Frauen ihre Rechte genommen, dann geht es an die Menschrechte.

Sie sagten, es ginge Ihnen darum, dass sich die Zuschauer in Annes Situation hineinversetzt fühlen. Wie sind Sie es angegangen, das zu erreichen?

Ich wollte, dass der Film eine Erfahrung wird, die Empfindungen vermittelt. Und nicht nur das. Ich habe mich gefragt, wie ich die Menschen dazu bringe, sich so zu fühlen, wie ich mich beim Lesen des Romans gefühlt habe. Es war mir wichtig, dass der Film nicht nur ein Erlebnis für die Augen ist, sondern dass er buchstäblich unter die Haut geht. Und das kann man natürlich auf verschiedene Weise erreichen. Aber ich glaube, was mir als erstes in den Sinn kam, war die Zeit. Ein sehr deutlicher Unterschied zwischen einer Emotion, die man beschreiben kann, und einem Gefühl, das man tief in sich spürt, liegt meines Erachtens darin, wie lange man als Zuschauer miterlebt, was da gerade auf der Leinwand mit einer Figur geschieht. Darum war es nicht einfach, den Film zu drehen und auch nicht, zu schneiden, denn die Versuchung ist immer da, bestimmte Szenen und Einstellungen zu kürzen, weil sie zu schmerzlich sind. Aber ich denke, in der Dauer liegt das Geheimnis.

Sie haben Journalismus und Politikwissenschaften studiert. Wie hat diese Ausbildung Ihre Art des Filmemachens beeinflusst?

Ich möchte die Welt verstehen, in der wir leben, und dazu gehört eben auch, sie mit der Vergangenheit in Verbindung zu setzen. Ein weiterer Grund dafür, dass ich mich sehr für soziokulturelle Veränderungen interessiere, liegt in meiner eigenen Kindheit. Meine Großeltern lebten ein sehr einfaches Leben. Sie hatten nicht viel Geld. Meine Eltern dagegen schon. Ich bin quasi zwischen zwei sozialen Klassen aufgewachsen – und zwischen verschiedenen Kulturen. Ich hatte Freunde im Libanon und in Rumänien, weil meine Eltern von dort stammen. All das hat dazu geführt, dass ich sehr wachsam bin, was soziale und kulturelle Unterschiede angeht, weil es ein Teil meiner eigenen Geschichte ist.

Warum ist das Thema Abtreibung Ihrer Meinung nach bis heute so aktuell?

Ich denke, es ist ein ewiger Krieg und eine Machtfrage. Es geht darum, wer wen kontrolliert. Und die Seite der Frauen ist stets in Gefahr, weil die Männer Angst haben, ihre Machtposition zu verlieren. Deshalb läuft es überall immer wieder nach dem gleichen Muster ab: Wenn der Frieden in Gefahr ist, werden zuerst den Frauen ihre Rechte genommen, dann geht es an die Menschrechte. Wir leben in unruhigen Zeiten und ich würde zum Beispiel gerne etwas mehr darüber verstehen wollen, was genau gerade in Texas passiert. Denn ich glaube, auch dort zeichnet sich bereits ein ähnliches Muster ab, zuerst geht es um Abtreibung und dann greifen sie die Bürgerrechte an. Es ist kein gutes Zeichen.

Was ist Kino für Sie?

Freiheit. Kino ist für mich die Freiheit, die Welt mit anderen Augen zu sehen. Ich mag am liebsten die Filme, die meine eigenen Horizont erweitern, auch wenn es manchmal weh tut. Und das Kino erlaubt mir die Freiheit, mich zu verändern, mich weiterzuentwickeln, mich zu bilden. All das und noch so vieles mehr.

Glauben Sie an die Kraft des Kinos, die Welt zu verändern?

Wenn nicht, würde ich keine Filme drehen. Wir alle sind Teil dieser Kraft, dieser Bewegung. Wir schaffen Ideen, Bilder, Geschichten von der Wirklichkeit, um dadurch etwas anzustoßen, um die Menschen zum Nachdenken anzuregen. Ob es funktioniert oder nicht, wir können es nur immer wieder versuchen.

Was für Angebote haben Sie seit Ihrem Triumpf in Venedig erhalten? Bekommen Sie schon den Druck der Industrie zu spüren, gleich einen neuen Film nachzulegen?

Nein, weil ich meine Filme selbst schreibe. Ich laufe nicht Gefahr, in irgendein ein Hamsterrad zu geraten, weil ich nicht auf die Drehbücher anderer Leute angewiesen bin. Ich wähle meine Themen selbst. Und ich fühle mich in der Hinsicht sehr geschützt. Aber Sie haben schon auch recht, der Druck ist da und auch die Versuchung, mit einem ähnlichen Film an den Erfolg von DAS EREIGNIS anknüpfen zu wollen. Aber ich arbeite an verschieden Projekten und wenn die Zeit reif ist, werde ich meinen nächsten Film drehen. Ich habe es nicht eilig.

Das Gespräch führte Pamela Jahn

Pamela Jahn