Interview
"Die Wahrheit ist eine Figur, die mehrere Masken hat"
Interview mit Justine Triet über ANATOMIE EINES FALLS
Justine Triets Filme sind schwer zu fassen. Sie bewegen sich zwischen Genres und haben komplexe Frauenfiguren im Zentrum. Ein Thema, das sie zu verbinden scheint, ist die Frage nach dem Verhältnis von Sprache und Realität. Triet (* 1978, Fécamp, Frankreich) begann als Dokumentarfilmerin. Ihr zweiter Spielfim VICTORIA - MÄNNER UND ANDERE MISSGESCHICKE (2016), der erste ihrer Filme, der auch in Deutschland ins Kino kam, handelt von einer Anwältin (Virginie Efira), die bei ihrer Arbeit brillant ist, ansonsten aber im Chaos versinkt. Efira spielt auch bei SIBYL – THERAPIE ZWECKLOS (2019) die Hauptrolle, diesmal ist sie die Psychotherapeutin Sibyl, die eigentlich an ihrem neuen Buch schreiben will, sich aber obsessiv in der Liebesgeschichte einer Klientin verliert. Triets jüngster Film ANATOMIE EINES FALLS handelt von einem Schriftstellerpaar und einem Mord und hat dieses Jahr die goldene Palme von Cannes gewonnen.
Pamela Jahn hat sich mit Justine Triet über ANATOMIE EINES FALLS unterhalten.
INDIEKINO: Ihr Film ist so schwer ergründlich wie die Geschichte, die Sie erzählen. Worum ging es Ihnen bei der Inszenierung?
Ein wichtiger Aspekt für mich war die Beziehung des Paares. Was mich daran fasziniert hat, ist, wie man innerhalb einer Beziehung mit Liebe handelt, das, was man sich als Paar gibt und was man einander schuldet. Offensichtlich stimmt etwas nicht zwischen Sandra und Samuel, aber sie scheinen sich immer noch zu lieben. Sie sind ehrlich zueinander. Sie sagen einander, was sie denken und worunter sie leiden. Gleichzeitig versucht der Sohn, seine Mutter zu durchschauen, und das ist der wirklich spannende Teil. Ob Sandra die Wahrheit sagt oder nicht, ist das eine. Aber Daniel lernt in dem Prozess seine Mutter noch einmal ganz neu kennen. Diese allmähliche Veränderung vom Kind hin zu einer Person, die versucht, andere Menschen zu verstehen, das ist für mich das Herzstück des Films.
Was verbindet sie mit dem Krimigenre?
Es gibt jede Woche ein absolut überbordendes Angebot an Krimis auf den verschiedenen Plattformen, und als ich in dieses Genre eingestiegen bin, entwickelte sich in mir schnell das starke Bedürfnis, etwas anderes machen zu wollen als das, was ich dort sah. Ich fragte mich: Was habe ich damit zu tun? Ich wollte einen weniger optisch aufpolierten Film drehen als das, was ich im Fernsehen sah. Einen Film, der etwas unklarer und zwielichtiger daherkommt als die üblichen True-Crime-Formate, in dem sich die Widersprüche und verschiedenen Dynamiken aus der Ambiguität von Sandras Figur ergeben, und nicht aus der Frage, ob es Mord war oder nicht. Ich war eher auf der Suche nach einer Art dokumentarischer Unverfälschtheit.
Woher kommt unsere Faszination für Gerichtsdramen?
Es geht um die Sprache. Wie Menschen miteinander kommunizieren und versuchen, sich gegenseitig zu überzeugen, kann extrem faszinierend sein, was die Vorstellungskraft angeht. Es ist schwer, das zu filmen, aber es geht. Otto Preminger hat es in ANATOMIE EINES MORDES vorgemacht. Darin ist dieser Kampf der Sprache auf eine äußerst raffinierte filmische Art und Weise konstruiert, genial eigentlich.
Wie verhält es sich mit der Beziehung zwischen Sprache und Wahrheit in Ihrem Film?
Die Wahrheit ist eine Figur, die mehrere Masken hat. Die Sprache ist eine dieser Masken. Sandra hat für den Film und ganz speziell für die Szenen im Gerichtssaal Französisch gelernt. Sie wollte sich unbedingt auf Französisch verteidigen. Aber es funktioniert nur bedingt. Wenn sie vom Staatsanwalt überrumpelt oder in die Enge getrieben wird, wechselt sie ins Englische, das für sie eine Art Schutz ist. Obwohl es auch nicht ihre Muttersprache ist, aber es ist die Sprache, die sie mit ihrem Mann spricht, und in der sie ihre Romane schreibt. Sandra ist eine sehr vielschichtige Figur und die Duplizität der Sprache weist darauf hin. Sie beherrscht ihre verschiedenen Codes perfekt, die er ihr potentiell ermöglichen, uns in gewisser Weise zu täuschen.
Daraufhin meinte ich nur zu ihr, dass sie die Unschuldige spielen müsse. Mehr nicht
Sie ist eine komplexe, geheimnisvolle Frau, aber besonders sympathisch ist sie nicht.
Das ist mir egal. Ich weiß nicht einmal, ob man eine Figur so schreiben kann, dass sie nett, freundlich oder sympathisch ist. Sandra ist sehr eigen, sie ist extrem ehrlich, aber sie entschuldigt sich nicht. Sie weint auch nicht die ganze Zeit. Sie ist zäh, kein Opferlamm. Sie will frei sein, sie ist sehr direkt, und sie steht für ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte ein. Macht sie das unsympathisch? Ich weiß es nicht.
Haben Sie mit Sandra Hüller darüber gesprochen, ob ihre Figur schuldig ist?
Ja. Zwei Tage vor den Dreharbeiten rief sie mich etwas panisch an. Sie wollte meine Antwort wissen. Daraufhin meinte ich nur zu ihr, dass sie die Unschuldige spielen müsse. Mehr nicht.
Ihr Film hat mich an SAINT OMER erinnert, auch ein Gerichtsdrama, in dem die Regisseurin Alice Diop, ähnlich wie Sie, stilistisch einen besonderen Ansatz wählt. Wie haben Sie sich formal an die Geschichte angenähert?
Ich liebe SAINT OMER, ich war sehr beeindruckt von dem Film. Ich fand ihn sehr stark feministisch. Aber Alice Diop macht genau das Gegenteil von dem, was ich mir für mich überlegt habe. Es stimmt, die formale Herangehensweise war mir von vornherein sehr wichtig. Sobald ich wusste, dass ein großer Teil des Films im Gerichtssaal spielen würde, fragte ich mich, wie ich diesen Raum filmen würde, ohne dass es langweilig wird. Das Genre ist so speziell, und es gibt bestimmte Codes, so dass man über seine formalen Entscheidungen sehr genau nachdenken muss.
Sie haben Preminger bereits erwähnt. Gab es noch andere Referenzen?
Ein Film, der für mich eine obsessive Referenz war, ist THE BOSTON STRANGLER, das Original von 1968. Es ist zwar kein Gerichtsfilm, aber ich war fasziniert von der Art und Weise, wie Richard Fleischer visuell zwei Stile miteinander vermischt: Zum einen, gibt es sehr schnelle, mit der Handkamera gedrehte Szenen, die sich immer wieder mit sehr ruhigen, weiten Aufnahmen abwechseln. Die Möglichkeit, diese beiden konträren Spielarten miteinander zu kombinieren, fand ich unheimlich inspirierend.
Aber am besten lässt man sowieso alle anderen Quellen hinter sich und macht einfach sein eigenes Ding.
Sandras Sohn, Daniel, ist blind. Allein deshalb konzentriert sich vieles in Ihrem Film auf die Geräusche, an die er sich erinnert, mehr als auf Bilder.
Ja, ich wusste, dass Töne informativer sein würden als Bilder. Ich war wie besessen von der Idee, einen Film zu machen, in dem es keine visuellen Hinweise gibt. Daniel ist blind, aber es geht nicht um seine Sehbehinderung per se. So wie er, können auch wir oder die Jury nicht alles sehen. Und das muss man verstehen. Deshalb wollte ich auch Rückblenden vermeiden, so gut es geht.
Wieso war Ihnen das so wichtig?
Weil ich nicht einfach auf den Zuschauer herabschauen wollte. Es geht nicht um das Whodunnit. Ich wollte mir bewusst die Zeit nehmen, alles zu enthüllen, was uns an Informationen gegeben ist. Es gibt viele Lücken und Leerstellen, und ich wollte auf Augenhöhe mit dem Publikum nach den Antworten suchen.
Trotzdem haben Sie sich am Ende dafür entschieden, eine Rückblende zu zeigen.
Ja. Am Anfang wollte ich, dass man den Streit nur hört. Aber dann dachte ich, okay, wir müssen es einmal sehen. Da ist die Regisseurin in mir schwach geworden, wenn sie so wollen. Alles andere wäre zu konzeptionell gewesen, denke ich. Nur über Ton hätte es nicht funktioniert.
Was macht für Sie den Unterschied zwischen einem guten und einem schlechten Krimi aus, sowohl in der Literatur als auch im Film?
Abgesehen von Hitchcock, der für mich kein Krimi- sondern ein Autorenregisseur ist, mag ich keine Thriller mit zu vielen Twists. Ich liebe GONE GIRL, obwohl es darin auch eine Wendung gibt. Aber wie Fincher die Geschichte dreht, ist so speziell, dass es einem förmlich die Sprache verschlägt. Leider sind Twists im Allgemeinen nur selten derart raffiniert, außer, wie gesagt, bei Hitchcock. Ansonsten mag ich es lieber, wenn es ein bisschen extravagant ist. Aber am besten lässt man sowieso alle anderen Quellen hinter sich und macht einfach sein eigenes Ding.
Sie haben das Drehbuch gemeinsam mit Ihrem Partner geschrieben. Denken Sie im Nachhinein, das war eine gute Idee?
Als wir anfingen zusammenzuarbeiten, war uns nicht klar, dass es insgesamt drei Jahre dauern und er mich bis in den Schneideraum begleiten würde. Ursprünglich hatte ich ihn gebeten, für zwei Monate dabei zu sein. Aber dann wollte ich, dass er bleibt. Also wenn sie mich so fragen: Ja.
Inwiefern passt Ihr Film in die aktuelle Debatte über Autofiktion?
Ganz am Anfang des Films, als Sandra von ihrer Studentin interviewt wird, fragt diese, ob Sandra in ihrem Roman ihr eigenes Leben beschreibt. Sandra verneint und erklärt sinngemäß, dass alles Fiktion sei. Man könne sich von seinem eigenen Leben inspirieren lassen, aber damit hört es auch schon auf. Ich persönlich fand immer, dass Fiktion der beste Weg ist, sich zu verstecken. Man hat die Möglichkeit, sein Leben neu zu erfinden, das ist doch toll. Natürlich sind alle meine Figuren indirekt von meiner eigenen Person und meinem eigenen Umfeld inspiriert, aber ich bin nicht Sandra, und die Geschichte, die ich erzähle, ist nicht mein Leben. Gott sei Dank, denn sonst wäre mein Partner jetzt tot.
Wenn ich mich richtig erinnere, war die Titelfigur in Ihrem letzten Film SYBIL neben Ihrer Arbeit als Psychiaterin ebenfalls Schriftstellerin. Was hat es damit auf sich?
Wenn es sich um Regisseurinnen handeln würde, könnte man meinen, es ginge hier um mich. Also habe ich Schriftstellerinnen aus Ihnen gemacht, damit ich nicht zu viel von mir selbst preisgebe. Aber natürlich bin ich in erster Linie auch eine Frau wie Sybil oder Sandra, so sehr ich mir wünschen würde, dass dies eines Tages kein Thema mehr ist. Es hat eine Weile gedauert, bis ich für mich selbst erkannt habe, in welchen Situationen ich als Frau verurteilt wurde und Teil eines Systems der Kritik war, in dem Frauen nicht in gleicher Weise Fehler machen dürfen wie Männer. Ein System, in dem Frauen, die Erfolg haben, auch immer ein bisschen verdächtig sind.
Es heißt, Sie hätten die Rolle für Sandra Hüller geschrieben. Was fasziniert Sie an ihr?
Ich wollte unbedingt noch einmal mit Sandra arbeiten. In SIBYL hatte sie nur eine kleine Rolle. Aber danach sehnte ich mich, etwas Größeres mit ihr zu machen. Die Art von Tiefe, die Authentizität und die Stärke, die sie ihren Figuren verleiht, ist atemberaubend. Wenn Sandra ans Set kommt, schert sie sich einen Dreck um Berühmtheiten und die Filmindustrie. Sie kommt vom Theater, dieser Tradition des deutschen Theaters, des Schauspiels, das so eine körperliche Präsenz hat, so eine Art, im Moment zu sein. Und sie hat ein Konzentrationsniveau, das ich selten gesehen habe. Ich habe sehr von ihr gelernt und darüber auch meine eigene Arbeitsweise verändert.
Das Gespräch führte Pamela Jahn
Pamela Jahn