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Interview, Feature

„Die Schönheit des Lebens besteht in der Flucht“

Interview mit François Ozon zu SOMMER 85

Seit seinem Kinodebüt SITCOM (1998) dreht François Ozon nahezu jährlich einen Film, manchmal mehrere. Dabei sind so unterschiedliche Arbeiten enstanden, wie die Adaption des Fassbinder-Stücks TROPFEN AUF HEISSE STEINE (2000) und die Boulevard-Komödie 8 FRAUEN (2002), die beide auf der Berlinale zu Gast waren, der Psycho-Thriller SWIMMING POOL (2005), das Beziehungs-Puzzle 5x2 (2004), das Historiendrama FRANTZ (2016) und der dokumentarisch anmutende GELOBT SEI GOTT (2018) über Missbrauch in der katholischen Kirche. Mit SOMMER 85 hat Ozon ein langjähriges Lieblingsbuch verfilmt: Den Teenager-Roman „Tanz auf meinem Grab“ von Aidan Chambers. Dieter Oßwald hat sich mit François Ozon über SOMMER 85 unterhalten.

Dieter Oßwald: Monsieur Ozon, Sie wollten den Roman „Tanz auf meinem Grab“ seit 35 Jahren verfilmen. Weshalb hat es derart lange gedauert?


François Ozon: Dinge passieren, wenn sie passieren sollen. Es ist bisweilen ganz gut, eine gewisse Reife und Distanz zu haben. Den Roman las ich 1985 mit 17 Jahren, damals träumte ich davon, Regisseur zu werden. Und dieses Buch hätte der Stoff für meinen ersten Film werden sollen. Vor allem die Position des Beobachters hatte mich dabei interessiert. Als alter Mann kann ich nun zu diesem Punkt meiner Jugend zurückkehren und mich meiner melancholischen Nostalgie hingeben (lacht).

Wäre der Film von einem jungen Wilden anders ausgefallen?

Hätte ich den Film früher gemacht, wäre er vollkommen anders ausgefallen. Es hätte vermutlich mehr Gewalt gegeben, alles wäre weniger charmant und sexy ausgefallen. Jetzt porträtiere ich die Teenager ja mit einer großen Zärtlichkeit.

Die Soundtrack reicht von Bananarama über The Cure bis zu Rod Stewarts „I am Sailing” - da lässt es sich leicht nostalgisch werden. Waren die 80er Jahre für Sie die gute alten Zeit?

Es war ein besonderes Vergnügen für mich, filmisch in diese Zeit zurückzukehren: Von der Mode über die Ausstattung bis zur Musik. Für die Zuschauer stellen sich schnell nostalgische Gefühle ein, zumal unsere aktuelle Zeit nicht unbedingt einfach ist. Allerdings sollte man das nicht zu verklärt sehen: Ganz so happy waren die 80er Jahre nicht, auch damals gab es große Probleme wie Aids oder die Arbeitslosigkeit.

Die Szene in der Disco mit dem Walkman erinnert stark an den französischen Teenie-Film-Klassiker schlechthin. Was halten Sie vom Prädikat: LA BOUM meets CALL ME BY YOUR NAME?

LA BOUM war ein enormer Erfolg und für mich als Teenager damals ein ganz wichtiger Film. CALL ME BY YOUR NAME gefällt mir gut, wobei ich das Buch nicht gelesen habe. Es gibt durchaus Parallelen zwischen den beiden Filmen, letztlich jedoch sind sie doch ganz unterschiedlich.

Sie erzählen eine Lovestory und einen Krimi. Die sexuelle Orientierung spielt überhaupt gar keine Rolle mehr.

Genau dieser Umstand hat mir sehr gefallen, als ich den Roman 1985 las. Diese große Selbstverständlichkeit im Umgang von Schwulsein war damals alles andere als üblich. Hier gibt es nicht die üblichen Selbstzweifel, keine Probleme mit Coming-Out oder Homophobie. Und auch Aids spielte zu dieser Zeit noch keine Rolle. Es war einfach eine ganz universelle Liebesgeschichte, die mich schwer beeindruckte.

Wer Ihre Filme kennt, dürfte in SOMMER 85 einige déjà-vu-Erlebnisse haben. Cross-Dressing kennt man aus EIN SOMMERKLEID oder EINE NEUE FREUNDIN, die Szene in der Leichenhalle aus UNTER DEM SAND, eine Beziehung zu einem Professor aus IN IHREM HAUS, dazu der Friedhof in FRANTZ - das kann kaum Zufall sein?

Diese Szenen finden sich alle im Roman, davon ist nichts von mir erfunden. Als ich vor zwei Jahren „Tanz auf meinem Grab“ nochmals las, war ich tatsächlich schockiert. Offensichtlich war dieser Roman unbewusst derart wichtig für mich, dass mich Elemente daraus viel später für Szenen in ganz unterschiedlichen Filmen inspirierten. Ich wurde vom Autor Aidan Chambers bei meinen Filmen beeinflusst, ohne es überhaupt zu merken.

Damals hatte ich den Eindruck, die Deutschen mögen Fassbinder nicht besonders. Mittlerweile hat sich das wohl geändert.

Welche Szenen aus dem Roman finden sich in Ihrem neuen Film PETER VON KANT, der Adaption von Fassbinders DIE BITTEREN TRÄNEN DER PETRA VON KANT?

Vielleicht gibt es Parallelen, wenn es um das Prinzip der Liebe geht. So unterschiedlich ein Paar sein mag, ist es in der Liebe doch vereint. Da treffen sich die Werke von Aidan Chambers und Rainer Werner Fassbinder.

Sie sind Fan von Fassbinder, haben sein Bühnenstück „Tropfen auf heiße Steine“ verfilmt und auf der Berlinale präsentiert. Was macht die Faszination aus?

„Tropfen auf heiße Steine“ ist zwanzig Jahre her, damals hatte ich den Eindruck, die Deutschen mögen Fassbinder nicht besonders. Mittlerweile hat sich das wohl geändert, man erkennt auch in Deutschland die Fähigkeiten und das Genie von Fassbinder. Entsprechend neugierig bin ich auf die Reaktionen, die es auf PETER VON KANT geben werden.

Sie haben SOMMER 85 auf klassischem Super 16 gedreht statt digital, was gab dafür den Ausschlag?

Auf Super 16 habe ich meine ersten Kurzfilme gedreht - damals war das Material übrigens weitaus günstiger als heute! Ich mag diese grobe Körnigkeit, die so spezifisch für diese Art von Filmmaterial ist. Die Farben wirken einfach viel schöner. Es gibt eine gewisse Unschärfe, die gerade bei Großaufnahmen der Haut sehr sinnliche Ergebnisse erzeugt, wie man es digital nie erreichen kann.

Nach fast zwei Dutzend Filmen, ist der Job auf dem Regiestuhl für Sie einfacher geworden oder schwieriger, weil Sie Ihre Unschuld verloren haben?

Die Unschuld hatte ich nie, das ist mein Problem. Wenngleich ich vielleicht unschuldig ausgesehen habe (lacht). Die Ideen sind mir nie ausgegangen. Es ist wird jedoch immer schwieriger, eine Finanzierung zu finden und seine Freiheit zu behalten. Zum Glück bin ich in Frankreich erfolgreich genug, um einen schwierigen Film wie GELOBT SEI GOTT drehen zu können. Auch SOMMER 85 konnte ich ohne Vorgaben einer Star-Besetzung realisieren. Mein Vorteil ist, dass ich genau weiß, wie viel ein Film kosten darf. Das lernt man, wenn man viele Kurzfilme dreht.

Bieten Streaming-Anbieter wie Netflix und Co. kein finanzielles Paradies für kreative Köpfe?

Für mich ist es politisch wichtig, die Kinos und die große Leinwand zu verteidigen. Aber vielleicht ändere ich meine Meinung, wenn ich ein Projekt finde, dass sich perfekt für Netflix und Co. eignet.

Am Ende des Films sagt Alexis: „Das einzig Wichtige ist, dass wir alle irgendwie unserer Geschichte entkommen!“ - was hat es damit auf sich?

Das ist die letzte Zeile im Roman. Es klingt sehr geheimnisvoll und ist offen für Interpretationen. Für mich steht der Satz dafür, dass wir durch Eltern und Gesellschaft geprägt werden, etwas Bestimmtes darzustellen. Aber die Schönheit des Lebens besteht in der Flucht. Niemand soll sich vorschreiben lassen, wie er zu sein hat. Für mich ist das ein persönliches Motto. Meine Eltern hatten mit Kino überhaupt nichts am Hut, für sie war es ein Schock, als ich meinen Berufswunsch äußerte. Aber ich bin meiner Fremdbestimmung erfolgreich entkommen!

Das Gespräch führte Dieter Oßwald