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Winterschlaf

Skeptische Zustandsbeschreibung

Der ehemalige Schauspieler Aydin wohnt mit seiner jungen Frau Nihal und seiner geschiedenen Schwester Necla in einem entlegenen Ort in Kappadokien. Hier besitzt er ein kleines Hotel und etliche Häuser. Die tägliche Arbeit lässt er von seinem Verwalter Hidayet verrichten. Er selbst verbringt seine Zeit damit, für eine Lokalzeitung Kommentare zu verfassen, und sich mit den ebenfalls gelangweilten Frauen in endlosen Streiutgesprächen zu verlieren. Bitter-komische Zustandsbeschreibung der lethargischen türkischen Intelligenzija.

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Nicht weniger als den Zustand der modernen Welt versucht Nuri Bilge Ceylan in seinem neuen Film „Winterschlaf“ zu beschreiben, für den der türkische Regisseur im Mai mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde. Er tut dies anhand eines klassischen Themas: Dem Verfall einer Ehe, der symbolhaft für einen Verfall zwischenmenschlicher Kommunikation steht, für einen Verfall von Anstand, Sitte und Moral.

Schauplatz der elegischen drei Stunden, in denen sich die Geschichte entfaltet, ist Kappadokien, eine von zerklüfteten Felsen geprägte Region im Zentrum der Türkei, die mit ihren in Felsen gehauenen Häusern Platz einer alten Zivilisation ist, die heutzutage nur noch vom Tourismus lebt. Hierhin hat sich der ehemalige Schauspieler Aydin (Haluk Bilginer) zurückgezogen und bewirtschaftet mit seiner geschiedenen Schwester Necla (Demet Akbag) ein kleines Hotel. Nach dem Tod der Eltern haben die Geschwister etliche Häuser in der Region geerbt, die ihnen ein gutbürgerliches Leben ermöglichen, dass Aydin dazu nutzt, für eine Lokalzeitung gesellschaftskritische Kommentare zu verfassen. Doch eigentlich träumt er von Größeren, einem Buch über die Geschichte des türkischen Theaters. Während Aydin sich mit geistigen Dingen beschäftigt, lässt er die meiste Arbeit im Hotel und seinen Häusern von Hidayet (Ayberk Pekcan) verrichten, der auch den schwelenden Konflikt mit einem Mieter lösen soll, der in finanziellen Schwierigkeiten steckt. Aydins deutlich jüngere Frau Nihal (Melisa Sözen) wiederum nutzt den finanziellen Wohlstand ihres Mannes, um als Mäzenin lokaler Schulprojekte aufzutreten und der unterentwickelten Region eine Zukunft zu geben.

Aydin bedeutet auf türkisch Intellektueller und laut Nuri Bilge Ceylan befinden sich viele türkische Intellektuelle in einer Art Winterschlaf, einem selbst gewählten inneren Exil, in dem sie sich mit hochgeistigen Themen und Fragen beschäftigen, dabei aber den Bezug zum wirklichen Leben zu verlieren drohen. Liest man die Figur des Aydins – die zumindest in Ansätzen sicher auch ein Alter Ego des Regisseurs selbst ist – mit diesem Gedanken im Hinterkopf, entfaltet „Winterschlaf“ vielfältige Bedeutung. Als Selbstkritik eines Intellektuellen könnte man die Geschichte verstehen, das Unverständnis, das zunächst Aydin, dann Nihal den Ehr- und Moralvorstellungen des Mieters entgegenbringen, der zwar in Geldnöten ist, jegliche Form von (finanzieller) Hilfe aber als Beleidigung empfindet. Erst Recht, wenn diese von einer Frau angeboten wird, ein Aspekt, in dem Nuri Bilge Ceylans oft schwieriges, bisweilen auch grenzwertig misogynes Frauenbild durchscheint. Einmal mehr ist auch hier die (Ehe-) Frau lange Zeit kaum mehr als Staffage, wie immer ausgesprochen attraktiv, wie so oft ihrem Mann geistig unterlegen. Gebrochen wird diese Konstruktion in diesem Fall durch die schleichende Dekonstruktion des männlichen Helden und damit quasi der Männlichkeit. So bestimmt und selbstbewusst Aydin lange Zeit auch agiert, immer deutlicher werden die Grenzen seines Blicks auf die Welt. So sehr er in seinen Texten einen geistigen Verfall beklagt, so wenig nimmt er die akuten Probleme einer ärmlichen Region wahr, in der der Durchschnittsbürger keine Zeit für die Beschäftigung mit schöngeistigen Themen hat. Doch auch seine Frau, die im Gegensatz zu Aydin tatkräftige Unterstützung leisten will und sich als Wohltäterin geriert wird nicht als Gegenmodell dargestellt. Zu kurzsichtig sind ihre Hilfsversuche, zu sehr auf bloße monetäre Hilfe reduziert, ohne Verständnis für verletzten Stolz.

Am Ende, wenn der Winter eingebrochen ist, der Schnee die ohnehin kargen Landschaften Kappadokiens komplett unzugänglich gemacht hat, beginnt Aydin sein Buch zu schreiben. Seine Frau ist gefangen in einer Ehe, aus der sie weder entkommen kann noch will, Versuche, etwas „Gutes“ zu tun sind kläglich gescheitert, die intellektuelle Betätigung wirkt kaum mehr als Flucht vor der Realität. Eine ausgesprochen skeptische Zustandbeschreibung der Gegenwart, aber eine, deren erzählerischer Wucht man sich nicht entziehen kann.

Michael Meyns

Details

Originaltitel: Kis Uykusu
Frankreich/Türkei/Deutschland 2014, 196 min
Sprache: Türkisch, Englisch
Genre: Drama
Regie: Nuri Bilge Ceylan
Drehbuch: Nuri Bilge Ceylan, Ebru Ceylan
Kamera: Gökhan Tiryaki
Schnitt: Nuri Bilge Ceylan, Bora Göksingöl
Verleih: Weltkino Filmverleih
Darsteller: Nejat Isler, Demet Akbag, Serhat Mustafa Kiliç, Nadir Saribacak, Haluk Bilginer, Melisa Sözen, Ayberk Pekcan, Tamer Levent
FSK: 6
Kinostart: 11.12.2014

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