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Interview

Im Streit fallen mir bessere Dialoge ein

Interview mit Nuri Bilge Ceylan

In diesem Jahr erhielt der radikale Autorenfilmer Nuri Bilge Ceylan die goldene Palme für seine bitter-komische Zustandsbeschreibung der türkischen intellektuellen Oberschicht WINTERSCHLAF. Ceylan liebt es seine Protagonisten in Landschaften und Wetterlagen einzubetten und ihnen bei Alltagsbeschäftigungen zuzusehen. Seine ersten Filme hat er mit minimalen Dialogen inszeniert, in WINTERSCHLAF dagegen wird ständig und im Überfluss geredet. Thomas Abeltshauser hat sich mit Nuri Bilge Ceylan über seinen neuesten Film und seine Arbeitsweise unterhalten.

INDIEKINO: Herr Ceylan, Sie haben im Mai mit Ihrem Film WINTERSCHLAF in Cannes die Goldene Palme gewonnen und den Preis den jungen Menschen in der Türkei gewidmet, die bei den Protesten im letzten Jahr ums Leben kamen. Inwieweit reflektieren Ihr Film und die Streitgespräche der drei Hauptfiguren die Situation in der heutigen Türkei?

Nuri Bilge Ceylan: Ich habe den Film vor den Gezi-Protesten geschrieben und gedreht. Und ich bin auch nicht der Meinung, dass ein Filmemacher darauf anspielen sollte, was gerade politisch passiert. Wenn ich einen Film über die derzeitige Situation drehen will, würde ich das in drei Jahren tun, aber nicht jetzt. Man braucht diesen Abstand, um eine weitere Perspektive zu bekommen. Aber natürlich steckt in den Diskussionen der Hauptfiguren auch viel über die Situation der Intellektuellen in der Türkei und das Land an sich. Aber sie sind zugleich universell, denn einige Fragestellungen sind überall ähnlich. Die Kluft zwischen der Intelligenzija und der restlichen Bevölkerung etwa, Tradition und Moderne, Stadt und Land, Männer und Frauen. Es geht um unterschiedliche Weltsichten. Jeder glaubt an das, was nützlich für ihn ist. Glaube ist nicht unschuldig. Es gibt immer eine versteckte Absicht dahinter. Ich sehe die Aufgabe eines Filmemachers darin, sich auf die Seele und die menschliche Natur zu konzentrieren. Ich kann in meinen Filmen dem Zuschauer Ideen geben und versuchen, ihn anzuregen und zu rühren. Wenn ich das erreiche ist, meine Arbeit als Regisseur erfolgreich. Ich will die menschliche Psyche verstehen. Ich glaube, der Mensch und wie er tickt, ist bis heute ein größeres Mysterium für uns als ein ferner Planet.

Sie zeichnen einen ein sehr verzweifeltes Bild vom Leben in der türkischen Provinz. Ist es dort wirklich so trostlos?

Unsere Verzweiflung hat nichts damit zu tun, wo wir leben oder wie arm wir sind. Ich glaube, dass wir alle ein gewisses Maß an Unglücklichsein brauchen.

Der Film basiert auf drei Kurzgeschichten von Anton Tschechow. Was haben Sie in den Geschichten gesehen?

Sie haben für mich deutliche Parallelen mit unserem Leben in der Türkei. Im Grunde sind sie humanistisch und allgemeingültig. Ich habe das Drehbuch mit meiner Frau geschrieben und wir haben die Geschichten stark verändert, Handlungen und Charaktere zugefügt. Es ist also keine Adaption, sondern eine von Tschechow inspirierte Geschichte ebenso wie es eine Geschichte über die Situation von Intellektuellen in Anatolien ist. Ich wollte keinen Thesenfilm machen, sondern etwas Mehrdeutigeres. Nichts ist schlimmer, als die Frage: Können Sie mir in einem Satz sagen, worum es in Ihrem Film geht?

Ist der Protagonist eine Art Alter Ego von Ihnen?

Aydin hat zwar einige Züge von mir, ist aber ganz anders. Ich kenne viele Menschen, die in einer ähnlichen Situation wie er sind. Es gibt eine ganze Reihe türkischer Schauspieler, die ihre Karriere beendet haben und jetzt Hotels in Kleinstädten betreiben, darunter auch Freunde von mir. Dieses Umfeld und dieses Leben sind mir also sehr vertraut. Aber es bin nicht ich.

Im Gegensatz zu ihren früheren Filmen wie etwa ES WAR EINMAL IN ANATOLIEN wird hier sehr viel geredet...

Ich wollte ausprobieren, ob ich Dialoge schreiben kann und tatsächlich mag ich es. Dieser Film sollte etwas Theaterhaftes haben. Als ich meine ersten Filme machte, waren die Dialoge im türkischen Kino sehr unnatürlich und ich wollte mehr Realismus, aufs Nötigste beschränkte Dialoge, auch Schweigen. Mittlerweile gibt es neue Regisseure, die Dialoge schreiben, wie Leute sie wirklich sprechen. Und deshalb wollte ich für meinen Film eine literarische, intellektuell überhöhte Sprache finden. Ich will die Freiheit, die Romanschriftsteller haben. Darin liegt ein gewisses Risiko, weil diese Art von Sprache im Kino oft nicht funktioniert, aber ich wollte es versuchen. Und deshalb habe ich diesmal auch mit professionellen Schauspielern gearbeitet, Laiendarsteller wäre es wahrscheinlich schwer gefallen, diese Sätze glaubhaft zu artikulieren. Bei Dostojewski redet auch der arme Mann sehr intelligent und klug. Und in meinem Fall ist die Hauptfigur tatsächlich ein Intellektueller, ein belesener Mann und Schauspieler. Dadurch ist es dann doch wieder natürlich.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, den Film in Kappadokien mit seinen Felshöhlen anzusiedeln?

Ursprünglich wollte ich dort gar nicht drehen. Ich wollte eine viel simplere Landschaft, zugleich musste es eine touristische Gegend sein. Ich war auf der Suche nach einem kleinen Hotel, das ein bisschen abseits liegt und auch im Winter geöffnet hat. Und das einzige, das ich finden konnte, war jenes, das jetzt im Film zu sehen ist. Kappadokien ist eine der wenigen Gegenden in der Türkei, in der es auch im Winter Touristen gibt. Ich hatte Bedenken, weil ich Angst hatte, dass die Landschaft ein bisschen zu schön und interessant sein könnte. Aber ich zeige hoffentlich nicht allzuviel davon. Nur am Anfang gibt es ein paar Totalen als der erste Schnee fällt, weil damit eine Veränderung der Atmosphäre sichtbar wird, was für die Psychologie der Hauptfigur wichtig ist. Leider hat es kaum geschneit, so dass wir die ganzen Schneeszenen nur an einem Tag drehen konnten.

Der Großteil des Films spielt allerdings in Innenräumen.

Ich wollte die Innenräume vor allem intim haben, dunkel und warm. Sie sollten ein Kontrast zum hellen, winterlichen Außen sein. Die Gebäude in dieser Gegend sind oft in den Berg hineingebaut, wie Felsenhöhlen. Sie haben nur wenige, kleine Fenster und sind sehr verschlossen, fast klaustrophobisch. Diese Atmosphäre der Isolation wollte ich für die Geschichte. Deswegen zeige ich auch nicht zu viel von der Außenwelt, ich wollte auf keinen Fall eine Postkartenidylle.

Sie gelten als der einsame Wolf des türkischen Kinos, der seine Filme allein und unabhängig von der Branche dreht.

Meinen ersten Film haben wir zu zweit gedreht, ich habe selbst die Kamera geführt. Beim zweiten waren wir zu fünft. Später wurde ich aber professioneller, weil ich erkannte, dass die Unabhängigkeit nicht notwendig ist, sondern eine Obsession von mir war. Ich habe gelernt, anderen mehr zu vertrauen. Aber kontrollieren tue ich sie natürlich immer noch! Und manche Dinge muss ich immer noch selbst machen, wie den Schnitt des Films. Da lasse ich niemand anderen heran. Vielleicht bin ich deswegen auch erst einen Tag vor Beginn des Festivals in Cannes fertig geworden.

Sind Sie beim Schreiben des Drehbuchs mit Ihrer Frau auch so ein Kontrollfreak?

Wir haben beim Schreiben viel gestritten, aber das war aus mehreren Gründen auch notwendig. Im Streit funktioniert Ebrus Hirn viel schneller und besser. Mir geht es ähnlich, oft fallen mir im Streit Worte ein, auf die ich in einem normalen Gespräch nicht kommen würde. Im Streit fallen mir viel bessere Dialoge ein. Wir können stundenlang streiten, manchmal bis in den frühen Morgen. Weil jeder von uns das letzte Wort haben will. Das Problem mit anderen Leuten, mit denen ich an einem Drehbuch arbeite, ist, dass sie Nichts zu erwidern wagen, weil ich mehr Erfahrung als sie habe. Sie nicken alles ab, was ich sage. Aber mit meiner Frau funktioniert das nicht. Sie gibt mir ordentlich Kontra, sie stellt jede Idee in Frage und das ist gut so. Und in manchen Dingen ist sie einfach besser, strukturierter. Aber am Ende entscheide natürlich trotzdem ich, schließlich bin ich der Regisseur. Und so gibt es in WINTERSCHLAF Dialoge, die ich durchgesetzt habe und die Ebru nach wie vor nicht gut heißt.

Wie beeinflusst die derzeitige politische Situation in der Türkei ihre Arbeit als Filmemacher?

Die Situation ist seit letztem Jahr sehr angespannt, wie sie wissen. Es ist vor allem das Leben, das sich verändert hat. Die Gesellschaft ist extrem polarisiert. Die Finanzierung von Filmen betrifft das noch nicht, aber wenn es sein muss, kann ich auch für sehr wenig Geld Filme machen, zur Not mit meinem eigenen. Für meine ersten drei Filme habe ich von niemandem finanzielle Unterstützung bekommen. Ich kann jederzeit wieder so arbeiten.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser.

Hier kommen Sie zur Filmkritik und zu den Spielzeiten von WINTERSCHLAF.