Neue Notiz
Oppenheimer
Steinerner Stoizismus
OPPENHEIMER ist visuell beeindruckend, dramaturgisch raffiniert, und Christopher Nolans Pazifismus ist absolut überzeugend und relevant.
In den Mainstream-Großproduktionen der letzten Jahre ging es, gelinde gesagt, nicht um viel. Es gab erheblichen Fortschritt, was die Repräsentation von People of Color, Frauen und queeren Menschen anging, es gab auch einige (Anti-)Kriegsfilme mit humanistischer Botschaft, aber so wuchtig-politisch wie Christopher Nolans OPPENHEIMER, in dem es um das Überleben der Menschheit geht, waren Hollywood-Filme schon lange nicht mehr. Wer mit Nolans BATMAN-Filmen, Marvel- und DC-Comics-Verfilmungen aufgewachsen ist, muss OPPENHEIMER unbedingt für das Meisterwerk aller Meisterwerke halten.
OPPENHEIMER ist der richtige Film zur richtigen Zeit. Die Wahrscheinlichkeit der Vernichtung der Welt durch einen Krieg mit Atom-, Wasserstoff- und Neutronenbomben ist so hoch wie schon seit Jahrzehnten nicht mehr, dennoch ist die Bedrohung durch Nuklearwaffen kaum in der öffentlichen Debatte, Abrüstungsinitiativen sind nicht in Sicht. Nolans Film ist drei Stunden lang, und obwohl OPPENHEIMER vor allem ein Dialog-Film ist – anders als Nolans DUNKIRK, der auch als Stummfilm funktioniert hätte – und obwohl der Kern der Geschichte bekannt genug ist, hält der Film über die gesamte Zeit eine enorme Spannung. OPPENHEIMER ist visuell beeindruckend, dramaturgisch raffiniert, und Christopher Nolans Pazifismus ist absolut überzeugend und relevant.
Es geht es um die Entwicklung der Atombombe, den Beschluss zur Bombardierung von Hiroschima und Nagasaki, obwohl der Krieg in Europa bereits gewonnen und die japanische Armee weitestgehend zerschlagen war, und um den Beginn des Wettrüstens zwischen Russland und den USA, der mit dem Bau der Wasserstoffbombe begann. Nolan erzählt in drei Zeitebenen: J. Robert Oppenheimer (Cillian Murphy) schildert 1953 seinen Lebenslauf vor einer Kommission, die darüber berät, ob Oppenheimers „Sicherheitsgarantie“ ausgesetzt werden soll. In einer späteren (fiktiven) Anhörung wird verhandelt, ob Oppenheimer seine security clearance wieder erhalten soll, und Oppenheimers Gegenspieler wird selbst zum Angeklagten. Tatsächlich wurde Oppenheimer erst 2022 voll rehabilitiert, allerdings erhielt er 1963 auf Vorschlag von Lyndon B. Johnson den Enrico-Fermi-Preis der US-Atomkommission, aus der er 1954 ausgeschlossen worden war.
Alles beginnt mit Robert Oppenheimers kosmischen Träumen als Student. Bilder wie aus Terrence Malicks TREE OF LIFE: das Vibrieren der Elementarteilchen, aber auch ein unaufhaltbarer Weltbrand. Es reiche nicht, das wissenschaftliche Gerüst der Physik zu erlernen, sagt ein Wissenschaftler zu Oppenheimer: „Can you hear the music?“. Nolan montiert danach Oppenheimer bei der Betrachtung moderner Kunst und Literatur: Kubismus, T.S. Eliot, Picasso. Diese ästhetische Dimension spielt aber später keine Rolle mehr.
Oppenheimer wird durch den faschistischen Putsch und den Bürgerkrieg in Spanien politisiert. Seine Freunde sind Kommunisten. Oppenheimer ist überzeugter Antifaschist, unterstützt die republikanische Sache und will eine Wissenschaftsgewerkschaft gründen, nimmt aber sofort davon Abstand, als ihm vor Augen geführt wird, welche Konsequenzen das für seine Karriere hätte. Zum Sex mit der schicken Kommunistin Jean Tadlock (Florence Pugh) reicht Oppenheimers Engagement dennoch. Die Szenen zwischen Jean und Robert zeigen, dass Nolan zwar großartig konstruierte Filme drehen kann, mit menschlichen Beziehungen aber eher wenig anfangen kann. Wenn die nackte Jean den nackten Robert bittet, ein paar Sätze Sanskrit zu übersetzen, und Oppenheimer das berühmte Zitat „Now I have become death, the destroyer of worlds“ vorträgt, und sie sich daraufhin auf seinen Penis setzt, wirkt das weniger existentialistisch-transgressiv als unfreiwillig komisch.
Im großen Ganzen des Films macht das wenig aus. Nolan interessiert sich halt für Ideen, nicht für Beziehungen. Auch wenn seine Figuren innere Konflikte durchmachen oder verzweifelt sind, ist der Grund wichtiger als der Ausdruck. Seine Schauspieler*innen müssen vor allem zeigen, dass es in ihnen denkt, während sie nach Außen steinernen Stoizismus ausstrahlen. Das machen vor allem Cillian Murphy als Oppenheimer und Robert Downey jr. als Lewis Strauss, Chef der Atomkommission, sehr gut. Dieses doppelte Spiel, das Zeigen einer Fassade, hinter der sich etwas anderes abspielt, legt oft genug den Grundstein für Oscar-Nominierungen, wie einst für Greta Garbo als Kameliendame, die Prostituierte, deren Job es ist, Liebe vorzuspielen, die aber aufrichtig liebt, und vortäuscht nur professionell verführt zu haben. Zu einer Oscar-Performance gehört es aber auch, mindestens einmal die Fassade abzulegen. Das findet hier nicht statt, und das ist auch gut so.
Es geht Nolan nicht um Schauspiel-Höchstleistungen, sondern um Präzision. Meist funktioniert das, auch wenn Nolan inzwischen einen Authentizitätsfetisch entwickelt hat, der ihm nicht immer zum Vorteil gereicht. Nach dem Bombenabwurf hält Oppenheimer eine Rede vor einer Wissenschaftscommunity. Er weiß kaum, was er sagen soll, so innerlich zerrissen ist er, aber das Publikum (das aus echten Wissenschaftler*innen besteht, weil Nolan glaubt, die würden intelligenter blicken) jubelt und freut sich, als hätte gerade jemand den Krebs geheilt. Die Wissenschaftler*innen darstellenden Wissenschaftler*innen finden nicht ganz die richtige Tonalität, aber damit wir alle verstehen, was das Problem ist, schneidet Nolan Bilder von Bombenopfern zwischen die Bilder des johlenden Publikums. Das ist dann doch etwas dick aufgetragen.
Grandios dagegen die Szene, in der der Abwurf der Bombe auf Hiroshima und Nagasaki diskutiert wird, obwohl der Krieg in Europa beendet und die japanische Armee zerschlagen ist. „Ich habe Kyoto von der Liste genommen, wegen der kulturellen Bedeutung für die Japaner. Und weil meine Frau und ich dahin unsere Hochzeitsreise gemacht haben. So eine schöne Stadt“, sagt ein Militär. Oppenheimer verteidigt den Abwurf, weil er vorgibt zu glauben, ein abschreckendes Beispiel würde ein Ende aller Kriege bedeuten. Der Enthusiasmus, der über der ganzen Szene liegt, straft alle Argumente Lügen, ohne Zwischenschnitte und filmische Kabinettstückchen.
Immer wieder jagt Nolans Film solch kalte Schauer über den Rücken. OPPENHEIMER ist ein großartiger, spannender, schockierender und wichtiger Film.
USA 2023, 180 min
Genre: Drama, Biografie, Historienfilm
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch: Christopher Nolan
Kamera: Hoyte Van Hoytema
Schnitt: Jennifer Lame
Musik: Ludwig Goransson
Verleih: Universal Pictures
Darsteller: Cillian Murphy, Florence Pugh, Emily Blunt, Kenneth Branagh, Matt Damon, Robert Downey Jr., Jack Quaid, Rami Malek
Kinostart: 20.07.2023
Website
IMDB
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