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Lara

Familiengespenstergeschichte

Es ist Laras sechzigster Geburtstag, und eigentlich hätte sie allen Grund zur Freude, denn ihr Sohn Viktor gibt an diesem Abend das wichtigste Klavierkonzert seiner Karriere… Der neue Film von Jan-Ole Gerster (OH BOY).

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Jan-Ole Gerster hat den Erwartungsdruck nach OH BOY damit beantwortet, etwas ganz anderes zu machen. Sein zweiter Film erzählt von Lara (Corinna Harfouch), die am Morgen ihres sechzigsten Geburtstags auf der Fensterbank steht und springen will. Ein Türklingeln unterbricht sie, danach entscheidet sie sich dann doch, sich mit dem Tag zu konfrontieren. Ihr Sohn Viktor (Tom Schilling) ist Pianist und hat am Abend ein wichtiges Konzert, erfahren wir – für Lara ist das fast so, als sei es ihr eigenes.
Zu tun hat die pensionierte Verwaltungsbeamtin nichts, und niemand feiert sie. Wie eine Wiedergängerin besucht sie vergangene Lebensstationen, trifft Ex-Kolleginnen, die sich darüber nicht freuen, sucht den verehrten Klavierlehrer ihrer Jugend auf, spricht ihrem Sohn auf die Mailbox, der nicht zurückruft. Freundlichkeit weist sie zurück, und wo es geht, verspritzt sie Gift – Lara ist keine Figur, die man leicht mögen kann. Kameramann Frank Griebe filmt sie in Bildern, in denen die Einsamkeit sie zu erschlagen droht, in den Betonschluchten des Hansaviertels, wo sie lebt und unter dem übermenschlich großen Eingangsportal der Kunstakademie, an der sie nicht studiert hat.

In Laras scheiternden Begegnungen entsteht nach und nach das Bild ihrer Geschichte. Der Sohn musste an ihrer Stelle die Pianistenkarriere machen, ihre gescheiterten Träume hat sie ihm übergestülpt, und ihre Macht über ihn ist ungebrochen. Warum Viktor nicht mit ihr sprechen will, versteht man bald. Tom Schilling spielt Viktor überzeugend zerrissen zwischen Rebellion, Abhängigkeit und Liebe. In einer Beziehung wie dieser, gute und böse Prägungen, Liebe und Manipulation zu trennen, ist kompliziert. Wenn während der schließlich doch stattfindenden Begegnung von Mutter und Sohn Laras Mutter schemenhaft über ihnen am Fenster erscheint, ist das ein Bild wie eine Familienaufstellung - eine destruktive Ahnenreihe, in der jede Generation die eigene Verletzung an die Kinder weitergibt. Jan-Ole Gerster thematisiert auch die angstvolle Künstlerfrage nach der Berechtigung des eigenen Tuns. „Wer braucht meine Musik?“ fragt Viktor verzweifelt kurz vor dem Konzert nach einigen vernichtenden Bemerkungen Laras. Er weiß noch nicht, dass das die falsche Frage ist.

Im Erzählen von ungelebtem Leben und einer tiefen elterlichen Schuld ähnelt LARA David Nawraths ATLAS, in dem Rainer Bock einen gescheiterten Vater auf Wiedergutmachungstrip spielte. In LARA spielt Bock nun einen guten Vater, der den Sohn loyal unterstützt. Über die Prägungen der Geschlechter erzählen beide Filme Typisches: Während der Vater in ATLAS vor Gefühlen und Verantwortung geflohen ist, hat die Mutter in LARA sich nicht getraut, ihren Platz in der Welt zu behaupten. Ein großer Mangel steckt in beidem.

Glücklicherweise steckt in Lara auch Corinna Harfouch, die ihr nicht nur Verzweiflung und Geisterhaftigkeit, sondern auch eine paradoxe Vitalität verleiht. Darin, wie intelligent sie Beleidigungen abschießt und wie genau sie böse Wahrheiten formuliert, scheint auf, welches Potential diese Frau gehabt hätte, wenn sie gewagt hätte, ihr Leben zu leben. Manchmal entfährt ihr ein überraschendes Lachen, flackert eine koboldhafte Freude an der Boshaftigkeit auf, dass man sie plötzlich doch ein wenig mag. Jan-Ole Gerster sieht so genau und urteilsfrei hin, dass man Mitgefühl für Lara entwickelt, ohne ihre Schuld zu vergessen. Dass man das Interesse an ihr nicht verliert, liegt auch daran, dass sie nicht aufgibt, dass sie mit einem Hauch von Einsicht, hilflos, aber mit unerschöpflicher Energie versucht, etwas vielleicht Irreparables zu reparieren.

Susanne Stern

Details

Deutschland 2019, 100 min
Sprache: Deutsch
Genre: Drama
Regie: Jan Ole Gerster
Drehbuch: Blaz Kutin
Kamera: Frank Griebe
Schnitt: Guillaume Guerry, Isabel Meier
Musik: Arash Safaian, Alice Sara Ot
Verleih: STUDIOCANAL
Darsteller: Tom Schilling, Steffen Jürgens, Corinna Harfouch, Hildegard Schroedter, Susanne Bredehöft
FSK: oA
Kinostart: 07.11.2019

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