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Intrige

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Die fast dokumentarische, aber auch enorm spannend inszenierte Nachzeichnung der Dreyfus-Affäre ist ein Film, der zwar Ende des 19. Jahrhunderts spielt, aber auch viel über das 21. Jahrhundert erzählt.

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Kann man den Künstler und sein Kunstwerk unabhängig voneinander betrachten? Diese Frage stellt sich in diesen Tagen besonders oft. Darf man noch Woody-Allen-Filme sehen? Darf man sich über den Literaturnobelpreis für Peter Handke freuen? Und was macht eigentlich Roman Polanski? Der macht es Freunden wie Feinden mit seinem neuen Film INTRIGE besonders schwer, einen Text über ein neues Werk zu schreiben, ohne auf die Vergangenheit des Künstlers einzugehen. Das ist in diesem Fall umso bedauerlicher, als die gleichermaßen fast dokumentarische, aber auch enorm spannend inszenierte Nachzeichnung der Dreyfus-Affäre ein Film ist, der zwar Ende des 19. Jahrhunderts spielt, aber auch viel über das 21. Jahrhundert erzählt.

Basierend auf einem Tatsachen-Roman von Robert Harris zeichnet Polanski mit größter Genauigkeit den Justiz-Skandal nach, der ab 1894 die Dritte Französische Republik erschütterte. Gleich in der ersten Szene sieht man, wie der jüdische Hauptmann Albert Dreyfus (Louis Garrell) öffentlich degradiert und vor den Augen von tausenden, meist antisemitischen Parisern gedemütigt wird. Er wurde für schuldig befunden, militärische Geheimnisse an den Erbfeind, das Deutsche Reich, verraten zu haben. Verbannt auf die vor der Küste Südamerikas gelegene Teufelsinsel hätte Dreyfus wohl nie wieder seine Heimat erblickt, wenn nicht der Zufall einen Mann an die Spitze des Nachrichtendienstes gebracht hätte, der zwar selbst Antisemit, aber auch eine durch und durch rechtsgläubige Person war: Marie-Georges Picquart (Jean Dujardin). Schon nach kurzer Amtszeit findet Picquart deutliche Hinweise, die auf Dreyfus‘ Unschuld hindeuten, doch in den Führungsspitzen von Militär und Regierung will davon niemand etwas wissen: Im Gegenteil. Bald sieht sich Picquart selbst einer weitreichenden Intrige gegenüber, die die vorangegangenen Lügen und Täuschungen vertuschen soll.

Konservativ und klassisch inszeniert Polanski das, verlässt sich ganz auf die hyperrealistische Ausstattung, die das Paris der Jahrhundertwende lebendig macht, seine exquisiten Darsteller und die unglaublich präzisen Bilder seines polnischen Kameramanns Pawel Edelman. Verweise auf den zunehmenden Antisemitismus der Gegenwart, auf Fake-News und eine Mobkultur, die ihre Opfer sucht, ohne sich um die Fakten zu kümmern, bleiben subtil; jeder, der in den letzten Jahren auch nur sporadisch die Entwicklungen, die Krisen der Demokratie verfolgt hat, wird nicht anders können, als Parallelen zu sehen.

Ob man allerdings auch Parallelen zwischen dem Schicksal Dreyfus' und dem von Polanski gesehen hätte? Wohl kaum, doch genau solche Parallelen versuchte Polanski in einem weitreichenden Interview, das vor der Weltpremiere von INTRIGE beim Filmfestival von Venedig erschien, anzudeuten. Ja, Polanski wurde von der Presse übel mitgespielt, vor allem als er nach dem Mord an seiner damaligen Frau Sharon Tate einige Zeit als Verdächtiger galt. Und ja, er hat wie Dreyfus Exil erlebt: 1977 wurde er wegen Vergewaltigung einer damals 13-Jährigen angeklagt – eine Tat, die er nicht abstreitet. Der Fall sollte in einem Vergleich beigelegt werden, und als der Richter sich dennoch zu einem Strafverfahren entschloss, floh Polanski aus den USA und hat seine Wahlheimat seither nicht mehr betreten können. Aber sich als Opfer einer antisemitischen Verschwörung hinzustellen mutet angesichts der Umstände reichlich absurd an, eigentlich sogar obszön. Mit diesem Vergleich beschädigt Polanski seinen eigenen Film, missbraucht in gewisser Weise die Dreyfus-Affäre für seine eigenen Zwecke. Umso bedauerlicher ist das, da INTRIGE ein bemerkenswerter Film ist, der in Venedig zu Recht mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet wurde, aber eben leider auch ein Film, der nicht isoliert von seinem Autor betrachtet und gewürdigt werden kann.

Michael Meyns

Details

Originaltitel: J'accuse
Frankreich/Italien 2019, 126 min
Genre: Drama, Historienfilm
Regie: Roman Polanski
Drehbuch: Robert Harris, Roman Polanski
Kamera: Pawel Edelman
Schnitt: Hervé de Luze
Musik: Alexandre Desplat
Verleih: Weltkino
Darsteller: Emmanuelle Seigner, Jean Dujardin, Louis Garrel, Mathieu Amalric
FSK: 12
Kinostart: 06.02.2020

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