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Enfant Terrible

Wuchtiges, zärtliches Denkmal

In Pappkulissen und bewusst künstlich inszeniert setzt Oskar Roehler dem mit 37 Jahren verstorbenen Filmemacher Rainer Werner Fassbinder ein wuchtiges, zärtliches Denkmal.

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„Hey, hey, hey, ich war der goldene Reiter/ Hey, hey, hey, ich war so hoch auf der Leiter“, singt Oliver Masucci als Rainer Werner Fassbinder, kurz vor Ende von Oskar Roehlers ENFANT TERRIBLE, kurz vor dem Höhepunkt von Fassbinders kurzem, exzessiven Leben. Den Goldenen Bären gewann der bedeutendste deutsche Regisseur der Nachkriegszeit noch, „Doch dann fiel ich ab, ja, dann fiel ich ab,“ wie es in Joachim Witts Neue Deutsche Welle-Klassiker heißt und wie es auch in Fassbinders Leben ging.

Am 10. Juni 1982 starb Fassbinder mit nur 37 Jahren, an einer Mischung aus Kokain, Alkohol, Tabletten und Überarbeitung. Über 40 Filme hatte Fassbinder zu diesem Zeitpunkt in knapp 13 Jahren gedreht, im extremsten sagenhafte sieben. Dieses Arbeiten bis zur Erschöpfung mag erklären warum Oliver Masucci, zum Zeitpunkt der Dreharbeiten 50 Jahre alt, dennoch jünger aussieht als der am Ende aufgedunsene, verschwitzte Fassbinder mit 37 Jahren. Zu Beginn des Films ist Fassbinder 22, Masucci also eigentlich viel zu alt, aber doch die ideale Besetzung. Mit einer Mischung aus Selbstgefälligkeit und Verletzlichkeit spielt er den jungen Regisseur, der am Münchner antiteater begann, schnell zum Film wechselte und nicht mehr aufhörte. Ein Menschenschinder war er ohne Frage, ein Ausbeuter, ein Sadist, der Freunde und Mitarbeiter für seine Kunst und seine Begierden benutzte und wegwarf. Der aber dennoch einen Kreis Getreuer um sich scharte, die ihm zum Teil hörig waren, sich seinen Launen unterwarfen, zum Teil wohl einfach auch wussten, dass es künstlerisch im deutschen Kino nicht besser ging als mit und unter Fassbinder.

In losen Episoden zeichnet Roehler das Leben Fassbinders nach, erzählt von seinen beiden großen Lieben, dem Tunesier El Hedi ben Salem, der in ANGST ESSEN SEELE AUF neben Brigitte Mira die Hauptrolle spielte und Armin Meier, einem Münchner Barkeeper, aber auch den großen Diven, mit denen sich Fassbinder umgab, die hier Martha und Gudrun heißen, gespielt von Katja Riemann und Frida-Lovisa Hamann, Pseudonyme, hinter denen sich Barbara Sukowa und Hanna Schygulla verbergen.

Auch andere Wegbegleiter fehlen, bezeichnenderweise auch Juliane Lorenz, die angeblich mit Fassbinder verheiratet war und als Leiterin der Fassbinder-Foundation die Kontrolle über den Nachlass hat. Vielleicht auch deswegen werden Fassbinders Filme hier nicht beim Namen genannt: Aus seinem Debüt LIEBE IST KÄLTER ALS DER TOD wurde KÄLTER ALS DER TOD, der Western WHITY heißt BLACKY. Eine seltsame Verfremdung, die sich jedoch als ideale Fortführung der radikalsten künstlerischen Entscheidung Roehlers erweist: Der Verzicht auf jeglichen Realismus. Keine authentischen Kulissen gibt es, keine Szenen, die auf echten Straßen, unter freiem Himmel spielen. Stattdessen wurde ENFANT TERRIBLE komplett im Studio gedreht, in Pappkulissen, die offensichtlich gemalt sind. In dieser Künstlichkeit bewegen sich die Akteure, hantieren mit wenigen echten Requisiten – vor allem Flaschen, Kippen und zunehmenden Mengen an Koks – und lassen Realität und Fiktion verwischen.

So wie in Fassbinders Leben Arbeit und Werk zu einer Einheit wurden, Schauspieler Geliebte, Freundinnen Schauspielerinnen waren, so deutet auch ENFANT TERRIBLE an, wie durchlässig die Sphären sind. Und zeigt so auf kongeniale Weise, worin die große Qualität des Fassbinderschen Ouevres lag: So manieriert und künstlich seine Filme oft auch wirken, sie leben von ihrer Wahrhaftigkeit und Authentizität, von der schneidenden, oft bösen, immer wahren Analyse von zwischenmenschlichen Beziehungen. Oskar Roehler setzt diesem außerordentlichen, einzigartigen deutschen Regisseur ein mitreißendes, wuchtiges, zärtliches Denkmal.

Michael Meyns

Details

Deutschland 2020, 134 min
Genre: Drama, Biografie
Regie: Oskar Roehler
Drehbuch: Klaus Richter, Oskar Roehler
Kamera: Carl-Friedrich Koschnick
Schnitt: Hansjörg Weißbrich
Musik: Martin Todsharow
Verleih: Weltkino
Darsteller: Oliver Masucci, Katja Riemann, Hary Prinz, Anton Rattinger, Felix Hellmann
FSK: 16
Kinostart: 01.10.2020

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Keine Programmdaten vorhanden.

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