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Der vermessene Mensch

„Haben Sie eigentlich Gräber geschändet?“

Kraume erzählt von dem jungen Berliner Ethnologen Alexander Hoffmann, der Anfang des 20. Jahrhunderts in die Fußstapfen seines Vaters, eines Afrikaforschers, treten will. Als er Zweifel an den rassistischen Anwendungen der Evolutionstheorie anmeldet, gerät seine Karriere ins Stocken.

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Lars Kraume hat bisher einige zeithistorische Filme gedreht, wie DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER über die Folgen einer Gedenkminute, die eine DDR-Schulklassse für die Opfer des 17. Juni 1953 hielt, und DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER über den Frankfurter Staatsanwalt, der Informationen über den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann an den israelischen Geheimdienst weiterleitete. Kraumes Filme waren eher Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsensus, als dass sie kontrovers diskutiert wurden. Mit DER VERMESSENE MENSCH beteiligt sich Kraume dagegen direkt an den aktuellen Debatten über die Rückgabe von geraubten Kulturgütern und menschlichen Überresten der Kolonialzeit, um die Ausrichtung und die Zukunft der Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und des „Humboldt-Forums“ und nicht zuletzt um die Reparationsforderungen der Herero und Nama.

Kraume erzählt von dem jungen Berliner Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der um die Jahrhundertwende in die Fußstapfen seines Vaters, eines Afrikaforschers, treten will. An der Friedrich-Wilhelms-Universität lernt er, dass die Schädel von „Buschmännern“ kleiner seien als die von Weißen. Seinem Professor zufolge sei dass der Beweis, dass Afrikaner auf einer niedrigeren Evolutionsstufe stünden als Weiße. Die Studenten sollen die Schädel einer Delegation von Nama und Herero vermessen, die im Glauben, in Friedensverhandlungen mit dem Kaiser treten zu können, nach Berlin gereist sind, tatsächlich aber als Propagandadarsteller in der Völkerschau des Kaisers auftreten müssen und als pseudowissenschaftliche Studienobjekte dienen sollen. Dabei trifft er Kezia Kambazembi, die Übersetzerin der Delegation, und ist völlig fasziniert davon, dass die vermeintliche „Wilde“ einen intelligenten Eindruck auf ihn macht. Hoffmann präsentiert Kezias Fähigkeiten bei einem Vortrag und verkündet die These, dass die Afrikaner nicht auf einer niedrigeren Stufe der Evolution stünden, sondern dass Unterschiede etwas mit Umweltumständen und kultureller Sozialisation zu tun haben könnten. Ein Eklat: will Hoffmann etwa Darwins Evolutionstheorie in Frage stellen? Der Vortrag veranlasst den Professor, einem eifrigeren Rassisten als es Hoffmann ist, zur Professur zu verhelfen. Hoffmanns akademische Karriere steht dagegen still. Aber er kann seinen Konkurrenten noch auf eine Expedition nach Deutsch-Südwestafrika begleiten, wo er Zeuge des sogenannten Vernichtungsbefehls des Generalleutnants von Trotha wird.

Kraume zeigt einerseits die Strategien der deutschen Kolonialtruppen, die den Völkermord durchführen: die Erschießung von Gefangenen, das Vertreiben der in die Wüste geflohenen Herero von den Wasserlöchern, die Errichtung von Konzentrationslagern, in denen die Gefangenen nur so lange am Leben gehalten werden, wie ihre Arbeitskraft ausgebeutet werden kann. Andererseits geht es um die Plünderung der Kulturgüter der Herero, die Schändung der Leichen ihrer Toten und der Grabstätten durch deutsche Wissenschaftler, deren perverser Höhepunkt das Sammeln von etwa dreitausend Schädeln toter Herero für das Ethnologische Institut in Berlin und andere Einrichtungen war. In einem Gespräch zwischen Hoffmann und einem Missionar geht es um die Schuldfrage von Kirche und Wissenschaft. Hoffmann wirft der Kirche vor, sich nicht immer die besten Bettgefährten ausgesucht zu haben. Das gelte doch aber auch für die Wissenschaft, antwortet der Missionar, und: „Haben Sie eigentlich Gräber geschändet?“.

Kraumes Film zeigt Kontinuitäten des deutschen Rassismus und Imperialismus auf, die von der Kolonialpropaganda des Kaiserreichs über die NS-Formel des „Volk ohne Raum“ und bis zum eindeutigen Bezug der NS-Propaganda auf die Kolonialpolitik reichen – etwa in Propagandafilmen wie CARL PETERS (1941). Der „Lebensraum“ in den 1918 verlorenen Kolonien sollten später durch die Eroberung neuen „Lebensraums“ im Osten ersetzt werden. DER VERMESSENE MENSCH erinnert auch an das beschämende Verhalten der deutschen Bundesregierungen, die zunächst jahrzehntelang die Bezeichnung „Völkermord“ für die Massaker an Herero und Nama in UN-Resolutionen verhinderten, explizite Reparationsleistungen bis heute verweigerten und stattdessen „Entwicklungshilfe“ anboten und schließlich die Rückerstattung von kolonialem Raubgut systematisch verhinderten und verzögerten. Von den ca. 3000 geraubten Schädeln sind bis heute nachweislich 34 (und eine nicht genauer bestimmte Zahl „menschlicher Überreste“) zurückgegeben worden.

Nebenbei zeigt Kraume den Opportunismus des akademischen Betriebes. Die Ergebnisse der Vermessungen zeigen, dass die Schädel der Herero nicht kleiner sind als die von Europäern. Die absurde These, die an der Schädelgröße den evolutionären Entwicklungsstand ablesen will, ist nicht haltbar. Hoffmanns Professor lässt die Ergebnisse, als auch die Vermessung der Schädel aus geschändeten historischen Gräbern keine andere Daten liefert, einfach nicht veröffentlichen. Auch wenn Kraume über einen einigermaßen gutwilligen, „liberalen“ Mann in seinen Film hinein führt, von einer „White Saviour“-Erzählung ist DER VERMESSENE MENSCH meilenweit entfernt.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Der vermessene Mensch – Ein Platz an der Sonne
Deutschland 2023, 116 min
Genre: Drama
Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Lars Kraume
Kamera: Jens Harant
Schnitt: Peter R. Adam
Verleih: STUDIOCANAL
Darsteller: Leonard Scheicher, Girley Charlene Jazama, Peter Simonischek
FSK: 12
Kinostart: 23.03.2023

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