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Caught by the Tides

Musik, Gesang, Tanz, Tee

Wichtiger als die fiktionale Erzählung um Qiao und Guo Bin sind Straßenszenen, Bushaltestellen, Bergarbeiter, die sich für eine Fotografie aufstellen, entlassene Arbeiterinnen, die für Trinkgeld Shangxi-Opern für Rentner singen.

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„Nicht einmal ein Waldbrand kann dieses Unkraut vernichten, es wächst im Frühlingswind wieder nach.“ – aus „Underground“, ein Song der Band Brain Failure am Anfang des Films. Es geht um das Durchkommen durch harte und sich schnell wandelnde Zeiten.

CAUGHT BY THE TIDES ist Jia Zhangkes experimentellster Film und einer seiner besten. Einerseits ist der Film eine Art Coda, eine Wiederholung oder eine Variation von ASCHE IST REINES WEISS (2019). CAUGHT BY THE TIDES beginnt, wie der ältere Film, 2001 in Datong. In beiden Filmen sind die Hauptfiguren die Tänzerin Qiaoqiao (Tao Zhao) und der Gangster Guo Bin, der allerdings in ASCHE von Fan Liao, in CAUGHT BY THE TIDES von Zhubin Li gespielt wird. In beiden Filmen sind sie ein Paar, dann werden sie getrennt, und sie sucht ihn einige Jahre später. Die Parallelen gehen noch weiter, aber ASCHE IST REINES WEISS war noch eine Art Neo-Noir, in CAUGHT BY THE TIDES ist die Liebesbeziehung aufs extremste reduziert. Qiao und Bin reden nicht ein einziges Mal miteinander. Erst in der allerletzten Szene spricht Qiao ein Wort: „Ha!“ Ihre Beziehung im Film besteht nur aus Gesten.

Dafür ist die reine filmische Wucht von CAUGHT BY THE TIDES noch größer. Es gibt drei Episoden: 2001 in der Bergarbeiterstadt Datong in Nordchina, 2006 in Fengjie, einer Stadt im Einzugsgebiet des monumentalen „Drei Schluchten“-Staudamms, die komplett umgesiedelt wurde, und 2022 in Zhuhai, Südchina und wieder zurück in Datong, das sich gewaltig verändert hat.

Die Aufnahmen in Datong sind größtenteils dokumentarisch, aber es gelingt Jia, seine Figuren en passant in die Szenen einzufügen. Datong ist eine Stadt im kalten, staubigen Wind. Die Stimmung erinnert an die ersten Jahre nach dem Mauerfall in der DDR. Einerseits stehen die alten Fabriken und der Kulturpalast noch, aber das Überleben hängt von der Fähigkeit der Einzelnen ab, sich durchzuwursteln. Noch sitzt man nach der Arbeit in Baracken zusammen, trinkt Tee, der auf offenem Feuer gekocht wird, und singt Lieder. Aber es gibt auch schon die Kirmes-Techno-Disco mit Gogo-Girls, darunter Qiao. Es gibt neue Stände, an denen Schnapsproben einer neuen Firma verteilt werden, auch dazu tanzt Qiao.

Qiao und Bing sind nur in kurzen Szenen zu sehen, wichtiger sind Straßenszenen, Bushaltestellen, Bergarbeiter, die sich für eine Fotografie aufstellen, entlassene Arbeiterinnen, die für Trinkgeld Shangxi-Opern für Rentner singen. Im zerfallenden Kulturpalast steht eine verstaubte Wandschrift: „Musik, Gesang, Tanz, Tee. Die Genüsse der Welt“. Bin geht nach Süden, Qiao bleibt in Datong, als Model für Bademoden. Das Radio verkündet des Beitritt Chinas zur WHO. Eine Parade feiert den Erfolg der chinesischen Olympiabewerbung.

2006 reist Qiao nach Fengjie, eine sterbende, halb abgerissene Stadt in der spektakulären Landschaft der Drei Schluchten. Sie sucht Bing, der hier zum richtigen Gangster wurde. Jias Film ist nicht mehr so körnig. Die Landschaft ist grün, aber die Abrissarbeiten erzeugen ähnlichen Staub wie in Datong. Die Menschen nehmen Abschied, voneinander und von ihrer Stadt. 2023 in Südchina und zurück in Datong hat sich die Welt an Bin vorbeibewegt. Qiao spielt mit einem Roboter. Auf der einst staubigen Hauptstraße dominieren LED-Reklamen für westliche Firmen, es gibt einen Mega-Supermarkt.

Die „drifting generation“ nennt Jia die Generation seiner Hauptfiguren. In den ersten zwanzig Jahren des Jahrhunderts fand in China ein gewaltiger Wandel statt. In Jias Film spiegelt sich dieser Wandel. CAUGHT BY THE TIDES ist ein Film, der Treibgut sammelt, Überreste untergegangener Welten und über Bord geworfener Traditionen der Gemeinschaft. Der Film ist aber auch eine Feier des widerständigen Unkrauts, der Menschen, die ziellos durch diese Welt treiben. Einige gehen verloren, viele Abschiede werden genommen, einigen gelingt es, eine neue Art von Gemeinschaft zu finden, und sei es, wie Qiaoqiao, in einer Laufgruppe, die sich die Stadt und die Straßen auf ihre Art zu eigen macht.

Tom Dorow

Details

Originaltitel: Feng liu yi dai
China 2024, 111 min
Sprache: Mandarin, Chinesisch
Genre: Drama, Liebesgeschichte
Regie: Jia Zhangke
Drehbuch: Jia Zhangke, Wan Jiahuan
Kamera: Lik Wai Yu
Schnitt: Xudong Lin
Musik: Lim Giong
Verleih: rapid eye movies
Darsteller: Zhao Tao, Li Zhubin, Pan Jianlin, Lan Zhou
Kinostart: 15.05.2025

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Caught by the Tides

(Feng liu yi dai) | China 2024 | Drama, Liebesgeschichte | R: Jia Zhangke

Wichtiger als die fiktionale Erzählung um Qiao und Guo Bin sind Straßenszenen, Bushaltestellen, Bergarbeiter, die sich für eine Fotografie aufstellen, entlassene Arbeiterinnen, die für Trinkgeld Shangxi-Opern für Rentner singen.

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