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Interview

"Wir mussten die ganze Zeit in Bereitschaft sein, um diesen einen winzigen Moment einzufangen"

Interview mit Nadine Labaki zu CAPERNAUM

Die libanesische Regisseurin und Schauspielerin Nadine Labaki (*1974) begann ihre Karriere mit der Produktion von Musikvideos. 2007 drehte sie ihren ersten Spielfilm, die Komödie CARAMEL, in der sich fünf Frauen regelmäßig in einem Schönheitssalon treffen und dabei Liebe, Sexualität, Tradition, und das alltägliche Auf und Ab verhandeln – im Januar noch einmal im Il Kino zu sehen. 2010 folgte die Komödie WHERE DO WE GO NOW? über ein kleines Dorf, in dem Moschee und Kirche unmittelbar nebeneinander stehen und die Frauen das Mannsvolk davon abhalten, aufeinander loszugehen. CAPERNAUM, ihr dritter Spielfilm, wurde dieses Jahr in Cannes mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet. Patrick Heidmann hat sich mit Nadine Labaki über ihren Film unterhalten.

INDIEKINO BERLIN: Frau Labaki, Ihr Film CAPERNAUM – STADT DER HOFFNUNG handelt von dem kleinen Zain, der seine Eltern verklagt, weil er lieber nicht geboren worden wäre. Haben Sie ähnliche Aussagen in Ihren Recherchen tatsächlich zu hören bekommen?


NADINE LABAKI: Oh ja, sehr häufig sogar. Ich kann Ihnen keine genaue Zahl nennen, mit wie vielen Kindern ich insgesamt in den letzten vier Jahren gesprochen habe. Ich habe sehr, sehr viele Familien besucht habe, die unter sehr schwierigen Bedingungen leben. Ich war in Flüchtlingslagern, in Jugendgefängnissen und zahllosen Gerichtsverhandlungen. Am Ende von den vielen Gesprächen, die ich geführt habe, habe ich immer gefragt: Bist du glücklich, dass du geboren wurdest? Und die Antwort lautete meistens: Nein, bin ich nicht. Ich habe kein glückliches Leben, ich gehöre nicht in diese Welt, ich leide. Viele dieser Kinder verstehen nicht, warum ihre Eltern sie in diese Welt gebracht haben, wenn sie sie doch nicht einmal mit dem Nötigsten versorgen können.

Wobei es nicht nur um materielle Dinge geht, oder?

Da haben Sie Recht. Natürlich ist es für viele der Kinder furchtbar, dass kein Geld da ist und sie selten genug zu essen haben, um ihren Hunger zu stillen. Aber in vielen Fällen mangelt es ihnen einfach an Liebe. Ein Kuss der Mutter, das war es, was viele Kinder sich am meisten wünschten. Ich erinnere mich an einen Jungen, der von seiner Mutter so sehr vernachlässigt und misshandelt wurde, dass er von zu Hause weglief. Er lebte auf der Straße, wurde immer wieder vergewaltigt und landete schließlich im Gefängnis, wo ich ihn kennen lernte. Und alles, worauf er hoffte, war ein Anruf seiner Mutter. Diese Wut und Verzweiflung, die ich bei so vielen dieser Kinder erlebte, war für mich die Hauptmotivation, meinen Film zu drehen.

Ist CAPERNAUM also eine Anklage an Eltern, die ihre Kinder nicht lieben?

So simpel ist die Sache nicht. Mir geht es einerseits um ein Verantwortungsgefühl – und darum, dass man sich bewusst macht, was es heißt, Kinder zu haben. Es kann sich sein, dass eine Empfängnis quasi als Selbstverständlichkeit hingenommen wird, wenn man seinen sexuellen Bedürfnissen nachgeht. Ein Kind in die Welt zu setzen ist nun einmal nicht das gleiche wie sich ein Möbelstück zu kaufen. Gleichzeitig gibt es andererseits natürlich auch ein großes Unwissen, einen Mangel an Bildung. Ich habe eine Mutter getroffen, die 16 Kinder bekommen hatte, von denen bereits sechs durch Vernachlässigung gestorben waren. Eines war vom Balkon gefallen, ein anderes erfroren. Auf die Frage, warum sie so viele Kinder bekommen habe, sagte sie mir, ein Arzt habe ihr gesagt, das sei gut für ihre Kinder. Andere Frauen glauben, Kinder brächten Glück und die Chance auf ein besseres Leben. Aber sie machen sich keine Gedanken darüber, was passiert, wenn sie diese Chance gar nicht erst bekommen.

Ich glaube nicht, dass wirklich allen immer bewusst war, was für ein harsches Bild des Alltags in unserem Land wir zeigen würden

Flüchtlinge, Einwanderung, Armut, Kinderrechte – welches Thema stand während der Arbeit am Drehbuch für Sie im Vordergrund?

Mein Anliegen war zunächst einfach, etwas über mein Land zu erzählen. Die Arbeit am Drehbuch begann damit, dass wir Schlagzeilen zusammengetragen haben, von denen wir uns inspirieren ließen. Zuwanderung, illegale Arbeiter, Kindesmissbrauch, Armut, Fragen wie die nach dem Sinn von Grenzen oder warum man Papiere braucht, um offiziell überhaupt zu existieren – das alles interessierte mich gleichermaßen, weil es den Alltag im Libanon prägt. Wir recherchierten in verschiedene Richtungen und entwickelten die Geschichten der illegalen Einwanderin Rahil und des kleinen Zain, der seine Eltern verklagt, deren Wege wir sich dann kreuzen ließen. Vor dem Hintergrund dieser beiden Schicksale ließen sich alle die genannten Themen vereinen.

Warum haben Sie den Film in einem neo-realistischen Stil gedreht, der sich visuell von Ihren vorherigen Arbeiten unterscheidet?

Eigentlich wollte ich immer schon auf diese Art und Weise drehen, wenn ich ehrlich bin. Aber wahrscheinlich war ich dafür früher noch nicht reif genug. Oder hatte vielleicht auch noch nicht das richtige Knowhow. Realismus wurde bei mir jedenfalls immer schon groß geschrieben, selbst wenn ich ihn nie so konsequent umgesetzt habe wie nun bei CAPERNAUM.

Warum ging es dieses Mal?

Weil ich mir mehr Zeit als sonst genommen und zugestanden habe. Und weil wir uns entschlossen, den üblichen, vorgegebenen Weg, wie man einen Film dreht, konsequent zu verlassen. Wir waren fest entschlossen, diesen Film umzusetzen, komme was wolle. Auch wenn das manchmal bedeutete, dass wir nicht wussten, ob wir für den nächsten Drehtag Geld haben würden. Aber genau deswegen hatten wir nur eine ganz kleine Crew, haben uns von Tag zu Tag gehangelt und das Drehbuch der Realität angepasst statt andersherum. Anders als früher habe ich mich komplett für Improvisationen geöffnet und mehr denn je darauf reagiert, was mir angeboten wurde, sei es von den Darstellern oder den allgemeinen Gegebenheiten.

Sie haben auf öffentlichen Straßen und in Gefängnissen gedreht. Gab es Probleme mit Behörden oder Drehgenehmigungen?

Nein, zum Glück. Alle Regierungsvertreter, mit denen wir zu tun hatten, kamen uns sehr entgegen und unterstützten den Film, was natürlich auch damit zu tun hat, dass ich im Libanon eine gewisse Bekanntheit und einen guten Ruf habe. Außerdem glaube ich nicht, dass wirklich allen immer bewusst war, was für ein harsches Bild des Alltags in unserem Land wir zeigen würden.

Aber es kam doch während der Dreharbeiten zu Verhaftungen, oder nicht?

Ja, leider, das stimmt. Zwei Tage nachdem wir die Szene gedreht hatten, in der Rahil verhaftet wird, wurde ihre Darstellerin Yordanos tatsächlich verhaftet, weil sie keine Papiere hatte. Sie landete in einer genau solchen Gefängniszelle wie wir sie im Film zeigen. Die Realität und unsere Fiktion lagen immer wieder so nah beieinander, dass sie sich zu vermischen schienen. Den Eltern unseres kleinen Yonas, der in Wirklichkeit ein Mädchen namens Treasure ist, ging es zum Beispiel genauso. Sie leben und arbeiten im Libanon komplett illegal, weswegen natürlich auch ihre Tochter offiziell gar nicht existiert. Beide Eltern wurden zur gleichen Zeit verhaftet wie Yordanos und Treasure lebte für drei Wochen bei unserer Casterin.

Ich empfinde jedenfalls als Filmemacherin und Geschichtenerzählerin, dass ich meinen Einfluss bei jeder Gelegenheit nutzen sollte, um auf die Realität einzuwirken

Die beiden Kinder im Zentrum Ihrer Geschichte sind bemerkenswert. Selbst Treasure, die fast noch ein Baby ist, liefert eine echte schauspielerische Performance ab, wenn man das so nennen kann. Wie haben Sie mit den Kindern gearbeitet?

Das Geheimnis hinter ihren erstaunlichen Leistungen ist schlicht und einfach die Zeit, die ich mir genommen habe. Wir haben insgesamt sechs Monate gedreht, am Ende hatte ich 500 Stunden Material. Die erste Fassung von CAPERNAUM war 12 Stunden lang. Alles, was mir an Geld zur Verfügung stand, ging dafür drauf, so lange und so viel wie möglich zu drehen. Das war gerade wegen der Kinder wichtig. Manchmal kam es vor, dass wir eine Stunde oder länger darauf warten mussten, dass Treasure lächelt oder in eine bestimmte Richtung guckt. Das war mitunter wirklich ein mühsames Arbeiten, denn wir mussten die ganze Zeit in Bereitschaft sein, um diesen einen winzigen Moment einzufangen. Aber ich hatte das große Glück, mein kleines Team aus leidenschaftlichen Mitstreitern zu haben, die sich mit mir auf dieses Abenteuer einließen. Gemeinsam lernten wir, wie wir uns trotz Kamera und Ton-Equipment so unsichtbar und leise wie möglich um die Kinder herum bewegen konnten, ohne deren Natürlichkeit zu stören. Das war eine Choreografie der ganz besonderen Art.

Über Ihren kleinen Hauptdarsteller Zain, der in der Realität den gleichen Vornamen hat, müssen Sie natürlich auch noch ein paar Sätze verlieren...

Zain ist ein Flüchtling aus Syrien und lebte sieben Jahre lang mit seiner Familie im Libanon. Und das unter Bedingungen, die noch eine ganze Ecke schlimmer waren als die, die er im Film erlebt. Der große Unterschied ist, dass seine Eltern ihn und seine vier Geschwister bedingungslos lieben und sich immer um sie kümmern, selbst wenn es ihnen elend geht und nichts zu essen da ist. Sein Vater hat Zain eine unglaubliche Weisheit mitgegeben, deswegen wirkt er viel reifer als es eigentlich seinem Alter entspricht. Wobei das natürlich auch an all der Brutalität und Gewalt liegt, die er in seinem Leben schon mitansehen musste. Wahrscheinlich konnte er auch nur deswegen all das spielen, was Zain in CAPERNAUM“ durchmacht.

Sie selbst spielen auch in CAPERNAUM mit, als Zains Anwältin. Warum das?

Schon aus Kostengründen machte es Sinn, dass ich selbst mitspiele. Und die Rolle lag nahe, denn in den Jahren, in denen ich an dem Film arbeitete, wurde ich ja ohnehin zu einer Art Verteidigerin von Kindern wie Zain. Überall sprach ich ihr Schicksal an und argumentierte für ihre Rechte, warum also nicht auch vor der Kamera. Wobei die Rolle anfangs viel größer war, mit einer flammenden Rede am Ende. Doch irgendwie fühlte sich das nicht richtig an. In einem Film, in dem vieles, auch in Sachen Darsteller, so nah an der Realität war, war ich als Anwältin ein Fremdkörper. Deswegen habe ich sie so gut wie möglich gekürzt.

Wo Sie gerade den Kampf für die Kinder erwähnen: Was erhoffen Sie, mit Ihrem Film zu bewirken?

Mir geht es darum, mit dem Film eine Aufmerksamkeit zu schaffen. Und zwar nicht in dem Sinn, dass ich die Zuschauer erst auf Themen wie illegale Einwanderer oder Kinderarmut aufmerksam machen will, denn bekannt sind diese Probleme ja. Aber ich will die Augen öffnen dafür, was sie wirklich für die Betroffenen bedeuten, wo ihre Wurzeln liegen und was sich vielleicht ändern könnte, im Kleinen wie im Großen. Ich würde sehr gerne eine Debatte auslösen. Wenn jemand aus dem Kino kommt und sagt: „Ich muss was tun, ich kann nicht weiter weggucken wie bisher“ – das wäre doch großartig. Und wenn dann vielleicht zu Hause im Libanon irgendwann auch konkrete Maßnahmen ergriffen oder Gesetze geschaffen würden, das wäre natürlich das Allerbeste. Ich empfinde jedenfalls als Filmemacherin und Geschichtenerzählerin, dass ich meinen Einfluss bei jeder Gelegenheit nutzen sollte, um auf die Realität einzuwirken.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann