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Interview

„Schon als Teenager wollte einen Film über ein richtig wütendes Mädchen machen.“

Interview mit Nora Fingscheidt über SYSTEMSPRENGER

Nora Fingscheidt hat die selbstorganisierte Berliner Filmschule filmArche e.V. mitbegründet und später in Ludwigsburg szenische Regie studiert. Mit mehreren kurzen und mittellangen Spielfilmen - darunter SYNKOPE (2010) und DIE LIZENZ (2016) - war sie auf dem Max Ophüls Festival zu Gast. Ebenso hat sie Erfahrungen im Dokumentarfilmbereich gesammelt und ihr Filmstudium mit dem Dokumentarfilm OHNE DIESE WELT (2017) über eine Gruppe deutschstämmiger Mennoniten im nördlichen Argentinien abgeschlossen. Mit ihrem ersten Langspielfilm SYSTEMSPRENGER wurde sie in den Wettbewerb der diesjährigen Berlinale eingeladen und mit dem Alfred-Bauer-Preis für eine besondere künstlerische Leistung ausgezeichnet.

INDIEKINO BERLIN: Wie sind Sie auf das Thema für SYSTEMSPRENGER gekommen, und was hat Sie daran gereizt?

Nora Fingscheidt: Die Figur von Benni war schon immer sehr präsent in meinem Kopf. Schon als Teenager wollte ich mal einen Film über ein richtig wütendes Mädchen machen. Vielleicht weil ich selber ein recht wildes Kind war und manchmal ausgerastet bin und weiß, wie sich das anfühlt, wenn man Erwachsenen auf die Nerven geht. Aber ich habe so einen Charakter auch im Kino vermisst. Mädchen im Kino sind ganz oft niedlich und haben zwar oft ganz tolle, ausdrucksstarke Gesichter, aber beobachten eher, als dass sie etwas tun. Selten sind sie auch mal fies oder angsteinflößend.
Und so hatte ich diesen Charakter bei mir, aber ich hatte die Geschichte dafür nicht. Dann kam mein erstes Dokumentarfilmexperiment - eine Auftragsarbeit für die Caritas in Stuttgart - ein Porträt über ein Heim wohnungsloser Frauen. Es war ein deprimierender Ort, und dort zog eines Tages ein 14-jähriges Mädchen ein. Ich war schockiert und habe die Sozialarbeiterin gefragt: „Was zum Teufel macht eine 14-Jährige hier?“ und die sagte dann: „Och, die Systemsprenger, die dürfen wir immer aufnehmen zu ihrem 14. Geburtstag.“ Da habe ich zum ersten Mal diesen Begriff gehört und gedacht: „ Was ist das denn für ein Wort, und was steckt dahinter?“ und damit fing eine lange, lange Recherche an.

Sie haben bisher sowohl im Spiel- als auch im Dokumentarfilmbereich gearbeitet. Ist SYSTEMSPRENGER für Sie eher ein Spielfilm oder spielt auch Dokumentarisches eine Rolle?

Für mich musste SYSTEMSPRENGER immer ein Spielfilm werden. Beim Spielfilm kann man gezielter manipulieren und Rhythmus, Musik, Bilder bestimmen. Man kann die Emotionen genauer steuern. Ich wollte nicht in das Leben echter Betroffener herein rutschen. Da ist man als Dokumentarfilmer kurze Zeit sehr präsent und dann auch sehr schnell wieder weg. Am Anfang war ich noch ganz naiv und dachte: „Ich will aber auf jeden Fall ein betroffenes Kind als Hauptdarstellerin.“ Das habe ich nach der ersten Recherche komplett verworfen. Die Verantwortung wollte ich nicht übernehmen.
Es war mir wichtig, dass alles Hand und Fuß hat, aber es ist auch vieles fiktional vereinfacht. Die Realität wäre viel komplexer. Zum Beispiel wäre Frau Bafané in Wirklichkeit nicht eine Person sondern fünf verschiedene. Und dann gab es natürlich auch Dinge, die wir weggelassen haben, zum Beispiel das Thema sexueller Missbrauch. Das wäre in der Realität bei derartig traumatisierten Kindern sicher auch ein Thema gewesen , aber wir haben es weggelassen, weil es alles andere überlagert hätte. Es ist aber ein gut recherchierter Film, und er kommt dokumentarisch daher, auch wenn er es nicht ist. Die Schauspieler spielen naturalistisch, und manche Szenen sind auch improvisiert.

Teilweise ist SYSTEMSPRENGER wie ein Thriller aufgebaut. Wenn beispielsweise das Baby auftaucht, denkt man sofort „Oh Gott, es wird irgendwas mit dem Baby passieren.“ Auch die Kameraführung ist manchmal sehr expressiv. Haben Sie filmische Vorbilder gehabt?

Wir haben über die Jahre bestimmt 50 Filme angeschaut, die irgendwie im weitesten Sinne mit dem Film zu tun haben. Manchmal will man einfach wissen, wie andere das gemacht haben, damit man es nicht genauso macht, oder es zumindest weiß, wenn man das Gleiche macht. Mit dem Kernteam – also dem Schnittmeister Stephan Bechinger, dem Kameramann Junus Roy Imer, dem Musiker John Gürtler und der Kostümbilderin Ulé Baselos - habe ich schon fünf Filme gemacht, und wir haben auch einfach viel experimentiert. So in der Art „jetzt filmen wir einfach mal irgendwelche bunten Plastiklampen mit Makroobjektiven und versuchen, Bilder für diese Gefühlswelten zu kriegen“. Ich hatte das auch ins Drehbuch geschrieben, und alle haben immer gesagt: „Mach das raus. Das sind total bekloppte Albträume.“ Und ich habe immer gesagt, „Jaja, aber lass uns das als Platzhalter drin lassen, damit wir dann am Set einfach mal ein bisschen experimentieren können.“ Am Ende ist es auch eine Montageleistung. Man hätte aus diesem ganzen Zeug, was wir da gedreht haben, auch einen furchtbar schlechten Film schneiden können. Wir hatten 67 Drehtage und 120 Stunden Rohmaterial.

Für mich ist der Film auch relativ hoffnungsvoll.

Die 67 Tage sind vor allem durch den Dreh mit Helena Zengel entstanden, die Benni spielt und in fast in jeder Szene zu sehen ist, oder?

Von den 67 Tagen war Helena an einem Tag nicht dabei. Man darf mit Kindern in dem Alter ja nur fünf Stunden arbeiten, und das ist auch gut so. In unserem Fall war es auch deshalb gut, weil es in dem Film ja viele Ausrast-Szenen gibt. Durch die Stückelung konnte man die Szenen abwechseln. So gab es auch mal ruhige Tage oder lustige Tage und nicht immer nur Stress.

Brauchten Sie neben der normalen Kinderbetreuung, die ja alle am Set haben, auch eine psychologische Betreuung, damit die junge Darstellerin mit dem, was sie da erfährt, auch klarkommt?

Das hatten wir am Anfang so geplant, aber dann hat es sich anders ergeben. Ich habe sechs Monate mit Helena vorbereitend gearbeitet, und irgendwann war unsere Beziehung so eng und so klar inhaltlich am Film orientiert, dass die psychologische Betreuerin selbst gesagt hat: „Mach du das mit ihr. Du bist die Bezugsperson und wenn ich jetzt noch am Set dazukomme, dann ist es für die Kleine nur noch verwirrender.“ Ich habe dann jeden Tag mit ihr nach Drehschluss eine Seite Tagebuch geschrieben - was war gut, was war schlecht - um das alles irgendwie zu verarbeiten und dann auch zu verabschieden.

Helena spielt unglaublich souverän, fast wie eine erwachsene Schauspielerin.

Ja, sie ist für ihr Alter extrem weit. Sie redet auch in Interviews wie eine Erwachsene. Das ist der Wahnsinn. Und sie kann wirklich rein und raus aus dem Charakter. Helena ist ein hoch intelligentes Mädchen, gut in der Schule, reitet gerne, macht Eiskunstlauf. Sie hat mit der wirklichen Benni nicht viel gemeinsam – aber sie hat wie Benni ein hohes Energielevel und ein sehr schnelles Gehirn.

Wie haben Sie Helena gefunden?

Während der vier Jahre Recherche und Drehbuchschreiben habe ich gedacht, ich werde bestimmt kein Kind finden, dass das spielen kann. Wo findet man so ein Kind? Bestimmt nicht in Schauspielagenturen. Benni ist ja kein Kind, das so niedlich ist, dass die Eltern es deswegen in einer Agentur anmelden. Und selbst wenn, dann würde man nie Eltern finden, die das erlauben. Deshalb haben wir recht früh angefangen zu suchen. Die Kindercasterin Jaqueline Rietz hat die Synopsis an bestimmte Agenturen rausgeschickt und sie gefragt, wer das erste Mädchen ist, das ihnen dazu einfällt. So kam eine erste, handverlesene Runde von 10 Mädchen zusammen und Helena war Mädchen Nummer 7. Ich habe dann noch 150 weitere Mädchen gecastet, weil ich dachte, das kann ja nicht so einfach sein. Aber sie war wirklich die Einzige, die diese krasse Aggression mit Verletzlichkeit koppeln konnte, so dass sie nicht nur das freche, aufmüpfige, nervige Mädchen ist, sondern man wirklich spüren kann, dass hinter der Wut Verzweiflung steckt.

Mit ihrer unglaublichen Energie trägt Benni den Film, aber sie läuft damit auch immer wieder gegen die Wand. Gibt es Hoffnung für ein Kind wie Benni?

Hoffnung gibt es immer. Für mich ist der Film auch relativ hoffnungsvoll. Wir wollen jetzt nicht über das Ende reden, aber für mich ist es ehrlich gesagt ein positives Ende. Ich verstehe schon, warum man das auch anders interpretieren kann, hatte das beim Dreh aber gar nicht auf dem Zettel. Für mich geht es auch um eine Befreiung, ums Überleben gegen alle Widerstände. Die Realität ist schon so, dass ein reines Happy End sich für mich falsch angefühlt hätte, weil so eine Geschichte in vielen Fällen tragisch - auf der Straße oder im Gefängnis - endet. Aber es gibt immer wieder Einzelfälle, wo plötzlich ein Mensch in das Leben des betroffenen Kindes kommt und doch den Zugang findet. Manchmal ist es die Oma, manchmal ist es der Nachbar, also irgendwer, der dann plötzlich doch etwas bewirkt in dem Kind, und dann kann so ein Leben auch eine gute Wendung nehmen.

Es braucht mehr Akzeptanz von Wut, aber nicht mehr Wut.

Wie häufig kommen Geschichten wie die von Benni in der Realität denn vor?

„Systemsprenger“ ist ja kein klar definierter Begriff sondern es ist eine Umschreibung für das Phänomen, dass dieses System für dieses Kind keinen Platz findet. Weil es überall rausfliegt oder rausfliegen will. Und man sagt, von allen Kindern, die in Deutschland in der Jugendhilfe untergebracht sind, sind 3-5% Fälle, bei denen das so ist. Da gibt’s Fälle, da wechselt ein Kind fünfmal das Heim, aber bei der Recherche bin ich auch über einen Fall gestolpert, bei dem ein 11-jähriger Junge in 52 Heimen war. Das müssen wir uns als Erwachsene mal vorstellen: Wenn man dreimal im Jahr umzieht, dann hat man schon das Gefühl, man kommt nirgendwo an. Mit 11 Jahren in 52 Einrichtungen - das ist natürlich ein großer Schaden für die Seele.

Das bedeutet, eine Einrichtung sagt, wir können nicht mehr, und dann kommt die nächste?

Genau, und jede Einrichtung hat für sich gesehen einen guten Grund. Jede Einrichtung hat 10 Kinder und es gibt Fälle, da sprengt ein Kind die ganze 10er Gruppe. Da kann man die Sicherheit der anderen neun Kinder nicht mehr gewährleisten, geschweige denn irgendwas mit denen machen, weil dieses eine Kind die ganze Aufmerksamkeit auf sich zieht. Die Gruppe sagt dann irgendwann, es geht nicht mehr. Zack raus, Problem gelöst. Und dann kommt die nächste Gruppe. Und wenn ein Kind zum Beispiel sein Zimmer anzündet, oder versucht, sich umzubringen, was es auch gibt, heißt es selbst in einer geschlossenen Anstalt, das schaffen wir nicht, das Kind muss in die Kinderpsychiatrie. In der Kinderpsychiatrie kann ein Kind aber nur sein, wenn es fremd- oder eigengefährdet ist. Es kann sein, dass sie dort nach zwei oder drei Monaten sagen, das Kind ist nicht mehr gefährdet, es muss leider gehen, wir sind kein Platz auf Dauer. Und so passiert das dann.

Verstehen Sie Ihren Film auch als politische Stellungnahme zu unserem Fürsorgesystem, oder geht es Ihnen vor allem um Benni als Figur?

Meine Intention war, zuallererst mal von Benni zu erzählen. Aber natürlich leistet der Film hoffentlich einen Beitrag zu einer gesellschaftlichen Diskussion - die aber ohnehin stattfindet, mit oder ohne den Film. Am Anfang dachte ich auch, das ‚böse System‘, aber bei der Recherche hat sich dann herausgestellt, dass es so einfach gar nicht ist. Ich bin eigentlich, egal wo ich war, Menschen begegnet, die aus guten menschlichen Gründen in diesen Beruf gestartet sind und dann manchmal Arbeitsbedingungen haben, die es extrem schwierig machen. Der Personalmangel, die schlechte Bezahlung, die geringe gesellschaftliche Anerkennung. Dabei hat die Kindergärtnerin in der Kita um die Ecke unter Umständen einen lebensprägenden Einfluss auf mein Kind. Ich würde mir wünschen, dass der Film Menschen in sozialen Berufen eine Plattform bietet, und man sich am Ende vielleicht denkt: „Wow, was habt ihr für krasse Jobs.“

Um noch einmal auf Benni zurück zu kommen: Braucht es mehr Wut?

Ich glaube nicht, dass es mehr Wut braucht. Ich glaube, es ist schon relativ viel Wut da in der Gesellschaft, aber wir haben keinen guten Umgang mit Wut. Wut wird ganz oft unterbunden und dann bricht sie irgendwo anders heraus. Wenn ich im Alltag unterwegs bin, habe ich schon das Gefühl, dass relativ viele Leute sehr schnell gereizt sind. Wut ist ein tabuisiertes Gefühl. Man soll eigentlich nicht wütend sein, aber alle sind es, und sobald ein Kind wütend ist muss es die Klasse verlassen. Es braucht mehr Akzeptanz von Wut, aber nicht mehr Wut.

Das Gespräch führte Hendrike Bake