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Interview

„Privat kriegen mich keine zehn Pferde in ein Gotteshaus“

Interview mit Alice Rohrwacher über GLÜCKLICH WIE LAZZARO

Seit 2005 dreht Alice Rohrwacher, Tochter eines Deutschen und einer Italienerin und Schwester der Schauspielerin Alba Rohrwacher, Filme. In Arthouse- und Festivalkreisen hat sie sich schnell einen Namen gemacht. Bereits ihr erster Spielfilm FÜR DEN HIMMEL BESTIMMT/CORPO CELESTE (2011) wurde zu den Filmfestspielen nach Cannes eingeladen. LAND DER WUNDER/LA MERAVIGLIE (2014), ihr zweiter Spielfilm und der erste, der es zu uns ins Kino geschafft hat, lief dann bereits im Wettbewerb und wurde mit dem großen Preis der Jury ausgezeichnet. Der Film spielt auf dem Land in einem heißen Sommer, es geht um Aussteiger, um ein junges Mädchen, für das sich in diesem Sommer alles ändern wird, und um Bienen. Es ist ein Film, der naturalistisch und zugleich surreal wirkt. Eine ähnliche Tonlage schlägt auch GLÜCKLICH WIE LAZZARO an, der dieses Jahr in Cannes Weltpremiere feierte und mit dem Preis für das beste Drehbuch ausgezeichnet wurde. Pamela Hahn hat sich für INDIEKINO mit Alice Rohrwacher unterhalten.

INDIEKINO BERLIN: Frau Rohrwacher, Ihr Film steckt voller mythologischer Referenzen. Das fängt schon bei der Namensgebung der Figuren an. Was hat es damit auf sich?

Alice Rohrwacher: Ich stamme aus einem von Mythen und Legenden stark beeinflussten Land, und ich denke, es ist ein Teil unserer Identität – oder zumindest meiner Identität. Wir Italiener leben in einer Mischung aus Realität und Mythologie, und die Grenzen sind oftmals fließend. In unserem Land werden die kleinsten Fakten nicht selten zu Legenden und die größten Abenteuer zu Märchen.
Was konkret die Namen der Figuren angeht, lege ich Wert darauf, dass sie einen gewissen Bezug zu mir, zu meiner Persönlichkeit haben. Oftmals handelt es sich dabei um literarische Referenzen, wie Gelsomina in LAND DER WUNDER/LE MERAVIGLIE oder Lazzaro hier. Namen sind meine Talismane. Aber die Namen nehmen auch jeweils Bezug auf die Welt, aus der sie stammen. Sie spiegeln einen gewissen Hintergrund wieder, ohne zu viel vorweg zu nehmen, und das ist mir sehr wichtig. Im Grunde kommt es der Geburt eines Kindes gleich. Da macht man es doch auch so. Keiner würde auf die Idee kommen, seinem Kind einen Namen zu geben, den man nicht mag. Und für mich ist dabei eben immer auch ein Stück Mythos und Realität im Spiel. Es ist mein Erkennungsmerkmal – und das meiner Heimat.

Sie drehen Spielfilme und dennoch wohnt Ihrem Blick immer auch eine gewisse dokumentarische Qualität inne. Ist das eine bewusste Vorgehensweise?

Es war immer mein Traum, Dokumentarfilme zu drehen, aber ich traue mich nicht. Ich hadere zu sehr mit mir selbst. Ich könnte niemals Menschen in ihrem wirklichen Leben filmen und sie damit gewissermaßen ans Kreuz schlagen. Dagegen erscheint mir die Vorstellung, jemandem die wundervolle Möglichkeit zu geben, sein eigenes Leben hinter dem einer fiktiven Gestalt zu verstecken, als eine reizvolle Alternative. Zum Beispiel handelt es sich bei den Protagonisten in GLÜCKLICH WIE LAZARRO größtenteils um echte Bauern und Landwirte. Aber natürlich leben sie heute nicht mehr in einer Großfamilie, abgeschottet von der Welt, wie man es im Film sieht. Das heißt, sie spielen eine Rolle, die nicht unbedingt ihrer unmittelbaren Lebenssituation entspricht.
Trotzdem hätte ich mich nicht getraut, auch nur eine Aufnahme zu stehlen. Was ich damit meine ist, dass wir stets um Erlaubnis gefragt haben, ob wir das Material verwenden dürfen. Darüber hinaus ist jede Einstellung bis ins kleinste Detail vorab geprobt und vorbereitet worden, auch wenn es im Film eher den Anschein hat, als sei vieles improvisiert. Aber in Wirklichkeit hat das alles eher mit meinem persönlichen Anspruch als Mensch zu tun und weniger mit meiner Herangehensweise als Regisseurin.

Fest stand, dass er ein gewisses Licht ausstrahlen musste

Wie bereits in Ihren früheren Filmen ist auch LAZZARO stark von religiösen Motiven geprägt.

Und das, obwohl ich selber nie in die Kirche gegangen bin. Kein einziges Mal. Vielleicht werden sie mir dafür irgendwann einmal ein Denkmal errichten.

Die Frage ist, warum es trotzdem so wichtig für Sie ist? Was ist Ihre persönliche Beziehung zu Religion und Glauben?

Ich stamme nicht aus einer religiösen Familie. Ich wurde nie getauft und, wie gesagt, habe ich in meiner Kindheit nie auch nur einen Fuß in eine Kirche gesetzt. Mittlerweile hat sich das geändert, allerdings nur aus arbeitstechnischen Gründen. Für meinen Film CORPO CELESTE musste ich zwangsweise in die Kirche, um zu sehen, wie Religion heutzutage gelehrt wird. Und ich musste an einem Katechismus teilnehmen. Aber privat kriegen mich auch heute keine zehn Pferde in ein Gotteshaus. Trotzdem stamme ich aus einem katholischen Land und habe durchaus auch ein inniges Gefühl für Religion, wobei dieses Gefühl ausschließlich auf einem prähistorischen Glauben beruht, nicht auf einem dogmatischen. Meine Religion ist die des Glaubens an die Menschlichkeit.

Wie schwer war es, den richtigen Lazzaro zu finden?

Ganz ehrlich, die größte Herausforderung war es, den richtigen Wolf zu finden. Wir haben ewig und überall gesucht, bis wir schließlich in Frankreich fündig wurden.

Und Lazzaro?

Es war kaum möglich, sich auch nur vorzustellen, wie Lazzaro sein sollte, welche Wesenszüge er haben sollte. Ich muss gestehen, dass ich beispielsweise zunächst nicht davon ausging, dass er so hübsch sein würde wie Adriano. Einzig von vornherein fest stand, dass er ein gewisses Licht ausstrahlen musste. Aber wie erklärt man das? Man kann schließlich nicht sagen, man sucht nach leuchtenden Personen. Und deshalb wurde uns bald klar, dass wir so nicht weiter kamen, weil der echte Lazzaro natürlich auch niemals zu einem offiziellen Vorsprechen erscheinen würde. Und so blieb uns nichts anderes übrig, als selbst auf die Suche zu gehen, nicht auf der Straße, aber in Schulen. Wir streiften durch unzählige Klassenzimmer, bis meine Casting Direktorin Chiara Polizzi irgendwann Adriano entdeckte.
Das Problem war jedoch, dass er unser Angebot, im Film mitzuspielen, zunächst dankend ablehnte. Er meinte, er wüsste nicht, ob er die Rolle übernehmen könne, weil er keine Ahnung hatte, worauf es uns ankam, geschweige denn, was für einen Job er da überhaupt annehmen würde. In dem Moment überkam mich eine schreckliche Angst, weil ich wusste, dass ich mich ihm gegenüber zu beweisen hatte. Er stellte mich auf die Probe. Wir gingen den kompletten Film von Anfang bis Ende gemeinsam durch. Einen ganze Monat lang haben wir mit ihm an der Rolle gearbeitet in der Hoffnung, dass er sie am Ende annimmt. Und Gott sei Dank tat er es auch. Aber er entschied sich für mich, nicht umgekehrt. Es war eine nervenaufreibende Zeit und eine extrem wichtige Lektion für mich.

Inwiefern?

Unser Beruf wird heute allzu leicht überbewertet. Die allgemeine Auffassung ist, dass ein Regisseur stets bekommt, was oder wen er will, weil man meint, dass jeder, der das Angebot bekommt, in einem Film mitzuspielen, sich automatisch darauf stürzt. Und meine Erfahrung mit Adriano hat mir gezeigt, dass wir eben nicht die Macht und die Kontrolle haben, die uns so oft nachgesagt wird. Das war ein echter Realitätscheck für mich, der mich am Ende in die richtige Position rückte, um den Film zu drehen.

Das Gespräch führte Pamela Jahn