Interview, News
„Niemand kann sich auf eine sichere Position zurückziehen“
László Nemes über SON OF SAUL
Mit seinem ersten Langfilm SON OF SAUL gewann László Nemes den Großen Preis der Jury bei den Filmfestspielen in Cannes. Thomas Abeltshauser hat sich mit dem Regisseur über sein atemberaubendes Debüt auf dem Filmfest in San Sebastián unterhalten.
INDIEKINO BERLIN: Ihr Film sorgte auf dem Filmfest in Cannes letztes Jahr für Furore. Warum kommt er erst jetzt in die deutschen Kinos?
László Nemes: Ich wollte, dass der Film für Aufruhr sorgte. Ich will diesen Widerstand überwinden. Aber in Cannes hat sich kein deutscher Verleiher an den Film getraut.
Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
Es gibt diese sogenannten Holocaustfilme, konventionelle Dramen, die immer auf der ganz sicheren Seite bleiben. Sie haben ganz bestimmte Codes, Geschichten, Elemente und Emotionen, sie sind ihr eigenes Genre, das nach festgelegten Regeln funktioniert. Auf der einen Seite ist der absolut Böse, auf der anderen das sehr menschliche Opfer. Und es gibt all diese beruhigenden und vergewissernden Elemente, man bleibt als Zuschauer immer auf Distanz, es ist ein Blick von außen. Und es endet meist mit dem Überleben des Protagonisten.
Davon unterscheidet sich Ihr Film SON OF SAUL ganz radikal.
Mir war klar, dass ich diese Geschichte ganz anders erzählen muss. Ich wollte die Herausforderung eines Films, der schwieriger zu machen ist. Wenn man sich eines Themas wie diesem annimmt, hat man eine große Verantwortung. Man muss den Kontext mit berücksichtigen. Und Filmemacher haben bisweilen die Tendenz, sich dieser Verantwortung zu entziehen. Wir wollten dem etwas entgegensetzen, einen Film, den der Zuschauer bis in die Eingeweide wahrnimmt. Und weil unser Film so anders ist als diese beschwichtigenden Holocaustfilme, wusste niemand, was er davon halten soll. Mein Film funktioniert nicht auf einer intellektuellen Ebene, niemand kann sich auf eine sichere Position zurückziehen, man ist mittendrin. Ich wollte, dass man die Geschichte aus einer sehr individuellen Perspektive erlebt, vieles spielt sich dabei im Kopf des Zuschauers ab anstatt dass es gezeigt wird. Wenn man alles zeigt und erzählt, bleibt am Ende nichts übrig. Es schwächt ab, was es bedeutet hat, in diesen KZs zu sein.
Was war die Motivation, diese Geschichte, dieses Thema für ihren Langfilmdebüts zu wählen?
Ich wollte einen Film über das machen, was man allgemein Holocaust nennt, auch wenn ich den Begriff nicht mag. Ich stieß vor etwa zehn Jahren auf die Schriften von Sonderkommandoführern und las über den Alltag in den Konzentrationslagern, aufgeschrieben nicht als Erinnerungen, sondern während es geschah. Es sind Tagebücher, sie wissen nicht, was am nächsten Tag passieren wird, entstanden inmitten der Vernichtungsmaschinerie. Sie waren dem Tode geweiht, aber sie haben rebelliert. Das war mein Ausgangspunkt. Erst danach machte ich mir Gedanken über das Formale und die Handlung. Ich wollte etwas ganz simples, auf keinen Fall eine Survivorgeschichte. So entstand die Idee mit dem Mann, der den Jungen begraben will, den er für seinen Sohn hält. Und dann brauchte ich ein paar Jahre, um mir klar zu werden, wie das funktionieren kann. Mit dem Ansatz haben wir dann schon in meinen Kurzfilmen experimentiert.
Man weiß nie, was im nächsten Moment oder hinter der nächsten Ecke passieren wird
Eine zusätzliche Herausforderung scheint mir zu sein, dass Sie auf 35mm gedreht haben und nicht wie mittlerweile gewöhnlich auf kleinen Digitalkameras...
Die gewöhnliche Art des Filmemachens, wie Sie es nennen, ist für mich nur Videodreh. Ich finde das abstoßend. Es ist nur da, weil einige Hersteller von Projektoren dieses Konzept des digitalen Kinos entwickelt haben, dabei sind das zwei völlig verschiedene Dinge. Video ist okay, es hat seine Daseinsberechtigung. Aber es ist kein Kino! Es ist eine völlig andere Art der Erfahrung, beim Drehen, bei der Projektion, bei der Sichtung. Als Filmemacher bedeutet auf 35mm zu drehen eine Einschränkung, die jede Aufnahme zu größerer Konzentration zwingt. Man kann nicht jede Szene aus zig unterschiedlichen Einstellungen und Blickwinkeln drehen. Man muss sich alles vorher ganz genau überlegen und es ist ein Wunder, wenn es funktioniert. Das ist die Magie des Kinos. Man hat eine begrenze Anzahl an Kugeln. Was ohne Einschränkungen passiert, kann man sehen, wenn man sich die Qualität der Filme anschaut, die mittlerweile ins Kino kommen. Das ist Video. Es geht den Bach runter. Und das liegt daran, dass niemand mehr gezwungen ist, immer sein Bestes zu geben.
Um Fokussierung geht es auch auf der Blickebene. Wieso haben Sie sich auf die Perspektive eines einzelnen Protagonisten beschränkt?
Man sieht dadurch nicht alles, was passiert und muss als Zuschauer den Kontext selbst rekonstruieren. Es wäre sehr einfach, all das zu zeigen. Aber das würde es abwerten. Was man sieht, kann man verarbeiten. Wenn man es nur andeutet, hat es eine stärkere Wirkung. Und das ist das zugrunde liegende Konzept dieses Films, dass dieser Horror nicht darstellbar ist. Etwas habe ich erst im Nachhinein verstanden: der Film benutzt die Vorstellungen, die das Publikum hat, aber viele dieser Vorstellungen sind falsch, weil sie auf Filmen beruhen.
Zum Beispiel?
Viele wissen nicht, dass nicht alle Insassen der Konzentrationslager abgemagert waren, dass die Mitglieder der Sonderkommandos sehr wohl bessere Nahrung und Kleidung hatten. Oder warum die Insassen ganz unterschiedliche Sprachen verwenden. Warum da nicht überall Hakenkreuzflaggen hängen. Der Film benutzt unbewusst diese Annahmen und unterwandert sie, etabliert neue Referenzen.
Ein wichtiger Teil dieser Perspektive ist die Tonspur, man hört den Horror, statt ihn zu sehen...
Da das Blickfeld so eingeschränkt ist, suggeriert der Ton, was nicht zu sehen ist. Und nicht immer ist die Quelle klar, aus der die Geräusche kommen. Befehle, Gespräche, Flüstern, Züge, Maschinen... oft versteht man nicht, was genau zu hören ist. Aber genau diese Wahrnehmung und deren Grenzen wollten wir kreieren. Man weiß nie, was im nächsten Moment oder hinter der nächsten Ecke passieren wird. Es ist eine Mischung aus Chaos und Organisation, genauso wie in den Lagern. Und das wollte ich erfahrbar machen, die Enge, das Fehlen von Informationen. Und der Ton macht auch dem Zuschauer klar, dass mehr passiert, als er sehen kann.
Das ist ein Trauma, das sich über Generationen zieht
Sie haben von Holocaustfilmen als Konvention gesprochen. Wie stehen Sie zu den Dokumentarfilmen, etwa von Claude Lanzmann?
Das ist etwas völlig anderes. Ich werde mich nie daran gewöhnen, SHOA zu sehen, auch wenn ich es unzählige Male gesehen habe. Es erschüttert mich immer wieder. Es macht mich wütend. Ich kann gar nicht anders. Ich habe nur noch einen Bruchteil meiner Familie, weil die meisten ermordet wurden. Das ist ein Trauma, das sich über Generationen zieht. Ich habe nie verstanden, warum sie ermordet wurden, bis heute nicht. Deshalb habe ich meinen Film gemacht. Ich vergesse nicht und ich vergebe nicht.
Die politische Situation in Ihrer ungarischen Heimat ist schwierig. Wie sind die Reaktionen auf den Film?
Der Film lief extrem erfolgreich im Kino. Und die Leute reden darüber, der Film hat sie überrascht, was sehr gut ist. Er hat eine Debatte angestoßen.
Sie haben früher unter anderem als Assistent von Béla Tarr gearbeitet, der nicht mehr als Filmemacher arbeitet.
Aber aus persönlichen Gründen. Er hat nicht wegen der Regierung aufgehört, er braucht die ungarische Förderung nicht, um einen Film zu drehen. Ich konnte diesen Film nur in Ungarn machen, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, weil niemand diesen Film finanzieren wollte. Ursprünglich sollte es eine französische Produktion sein, aber niemand wollte es. Wir fanden niemanden in Österreich, die Deutschen rannten alle in Scharen davon, die Franzosen ignorierten es einfach, Israel wollte kein Geld geben. Niemand wollte diesen Film. Es geht also auch um die Frage, wie wenig Risiko man bereit ist einzugehen und wie diese Fördersysteme in Europa eigentlich funktionieren. Es herrscht sehr viel Angst und es funktioniert nicht gut. Sobald es formale oder narrative Experimente gibt, will sich niemand darauf einlassen. Zum Glück wollte Cannes den Film. Die Berlinale hat ihn für den Wettbewerb abgelehnt, in dem Jahr, als der 70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz gefeiert wurde! Das sagt sehr viel, finde ich, auch wenn sie die Absage jetzt im Nachhinein natürlich bereuen.
Wie sieht die Situation von Filmemachern in Ungarn aus?
Es ist seltsam, denn auf eine Art ist es ein hoffnungsloses Land, aber man hat immer noch etliche Freiheiten. Warum fragen Sie?
Weil es erstaunlich ist, dass Sie für Ihren Film keine Unterstützung aus Europa bekamen, aber dafür aus Ungarn, einem Land mit strammer Rechtsregierung, das von außen betrachtet die Meinungsfreiheit Ihrer Bürger stark einschränkt.
Ungarn sind vielleicht sture Menschen und nicht besonders offen. Das 20. Jahrhundert war eine Katastrophe für das Land. Und es werden immer wieder Idioten gewählt. Nicht nur der jetzige Typ an der Spitze, sondern auch der vor ihm und der davor auch. Alles Idioten. Der jetzt am Ruder ist sollte irgendwo im Mittelbau arbeiten, nicht mehr als das. In Europa fehlen intelligente Politiker, es gibt keine Perspektive. Aber der Filmfond läuft abseits der Politik. Dort sitzen fünf Leute im Gremium und entscheiden. Sehr viel demokratischer als zum Beispiel in Frankreich, wo man diesen oder jenen kennen muss. Das ist viel schlimmer, pseudodemokratisch, das ist ein Technokratenfilz, der sich immer für den kleinsten gemeinsamen Nenner entscheidet. Das tötet das Kino, das Fernsehen hat gewonnen.
35mm wird es in Kürze nicht mehr geben...
Ich kämpfe dagegen an. Und ich weiß, dass ich in zehn Jahren noch immer mein Negativ habe und mir davon ein Positiv ziehen lassen kann. Aber die Bilddateien in Ihrem Smartphone werden dann alle weg sein. Unsere Zivilisation beruht auf virtuellen Informationen, die nicht überleben werden. Die Erinnerungen werden ausgelöscht und existieren nicht mehr. Die Filme, die gemacht werden, können nicht archiviert werden. Wenn einer dieser Server, in Arizona oder wo auch immer, abfackelt, sind all ihre Daten Schall und Rauch. Und wozu? Um beschissene, flache Bilder aus toten Pixeln zu liefern. Das Ergebnis ist ein großer TV-Schirm statt einer Leinwand. Das Gegenteil von Kino.
Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser