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Interview

„Mich interessiert, wie Zufälle unser Leben beeinflussen.“

Hamaguchi Ryûsuke im Interview zu DRIVE MY CAR

Hamaguchi Ryûsuke hatte seinen internationalen Durchbruch 2015 beim Filmfestival in Locarno mit dem Film HAPPY HOUR über vier Freundinnen, von denen eine inmitten eines Scheidungsprozesses plötzlich verschwindet. 2016 wurde sein Film ASAKO I & II über eine Frau, die dem Doppelgänger ihres verstorbenen Ehemanns begegnet, zum Festival nach Cannes eingeladen. 2021 wurde Hamaguchis Episodenfilm WHEEL OF FORTUNE AND FANTASY bei der Berlinale mit dem Preis der Jury ausgezeichnet, in Cannes erhielt DRIVE MY CAR den Preis für das beste Drehbuch und den FIPRESCI-Preis der Filmkritik.
Thomas Abeltshauser hat auf dem Filmfest San Sebastián mit Hamaguchi Ryûsuke über DRIVE MY CAR gesprochen.


INDIEKINO: Was hat Sie daran interessiert, ein Roadmovie zu drehen?

Hamaguchi Ryûsuke: Als ich die Dokumentarfilmtrilogie „Tōhoku“ über die Verwüstungen durch Erdbeben und Tsunami in Ostjapan drehte, bin ich mit meinem Ko-Regisseur oft stundenlang durch die Gegend gefahren. Mich interessiert das Auto als ein geschlossenes System, in dem Menschen fast gezwungen sind, miteinander zu kommunizieren. Zugleich hat es etwas Instabiles, Dynamisches, weil wir in Bewegung sind, uns auf etwas zu oder von etwas wegbewegen. Auf so engem Raum kommt man notgedrungen ins Gespräch und dabei können auch sehr intensive, tiefgründige Dialoge entstehen. Dabei wurde mir bewusst, welch interessante Grundkonstellation für einen Film das ist.

DRIVE MY CAR beruht auf einer Kurzgeschichte von Haruki Murakami. Wie schwer ist es, ihn zu überzeugen, eines seiner Werke verfilmen zu dürfen?

Murakami ist weltweit bekannt, aber in Japan ist er eine Legende. Es ist sehr schwer, an ihn heranzukommen. In meinem Fall hat mein Produzent einen Brief an Murakami geschrieben. Ein halbes Jahr hörten wir gar nichts. Dann kam die Antwort, dass wir die Geschichte verfilmen dürfen, mit allen Freiheiten. Da seine Short Story nur etwa 50 Seiten lang ist, habe ich das Drehbuch noch mit Szenen und Dialogen erweitert. Ansonsten bin ich der Vorlage recht treu geblieben. Nur den Wagen habe ich verändert. Bei Murakami war es ein gelbes Cabrio, das hätte aus zwei Gründen nicht funktioniert: ich drehe mit Live-Ton und die Dialoge sind in einem geschlossenen Auto besser zu verstehen. Und weil die Kamera dem Auto durch die Stadt oder das Grün der japanischen Landschaft folgt, hätte ein gelbes Auto zu wenig herausgestochen. Deswegen fahren sie jetzt im Film einen roten Saab 900 Hardtop.

Sie wechseln als Regisseur zwischen Spielfilmen und Dokumentarischem. Wie beeinflussen sich diese Arbeitsweisen?

Mein Fokus bleiben Spielfilme. Ich habe nur durch Fukushima und die Katastrophen in Japan beschlossen, eine Doku-Trilogie darüber zu machen. Und ich habe viel dadurch gelernt, mein Blick hat sich verändert. Wenn man so will, inszeniere ich meine Spielfilme heute wie einen Dokumentarfilm über die Bewegung der Körper der Schauspieler.

"Eine Begegnung oder ein unerwartetes Erlebnis lässt sie aus der Routine ausbrechen und unbekannte Seiten an sich selbst entdecken."

Ist der Protagonist ein Alter Ego, wie viel von Ihnen steckt in ihm?

Die Art, wie er als Theaterregisseur mit Schauspielern arbeitet, ist meiner sehr ähnlich. Ich lasse sie das Drehbuch gemeinsam lesen und möchte, dass sie die Dialoge dabei so emotionslos wie möglich vortragen. Und vor der Kamera sollen sie dann improvisieren. Diese Methode hat sich für mich bewährt. Einige hatten mit dieser Art Schwierigkeiten, aber die meisten sind nach einem anfänglichen Schock sehr begeistert über die Freiheiten, die es bringt.

Ihre Filme handeln oft vom Zufall, so auch hier. Was interessiert Sie daran?

Mich interessiert ganz allgemein, wie Zufälle unser Leben beeinflussen. Es ist für mich wie eine Langzeitstudie, vor allem wie zufällige Begegnungen Menschen verändern, sie über sich hinauswachsen und Dinge tun lassen, die sie bis vor Kurzem noch nicht für möglich gehalten haben. Eine Begegnung oder ein unerwartetes Erlebnis lässt sie aus der Routine ausbrechen und unbekannte Seiten an sich selbst entdecken.

Inwieweit zeigen Ihre Filme ein repräsentatives Bild Japans?

Mir geht es weniger um soziale Themen, als um das Innenleben der Charaktere. Und weil ich mit sehr kleinen Budgets arbeiten muss, bin ich darauf angewiesen, mit realen Gegebenheiten zu arbeiten. Im Fall der Darsteller*innen bin ich oft gezwungen, ihre eigenen Lebenserfahrungen mit einzubeziehen, bei HAPPY HOUR machte ich zum Beispiel Workshops mit den Frauen, um ihre persönliche Lebenssituation besser zu verstehen, daraus entstanden Szenen und Emotionen, die wir im Film nutzen konnten. Wenn ich dann einen Film im Ausland präsentiere, höre ich oft, wie sehr ich helfe, die soziale Realität in Japan zu verstehen. Dabei geht es mir nur darum, Gefühle darzustellen. Aber natürlich sind die Gefühle auch von äußeren Faktoren bestimmt.

DRIVE MY CAR haben Sie im Juli in Cannes präsentiert, im März feierte Ihr Film WHEELS OF FORTUNE AND FANTASY auf der Berlinale Premiere. Sind Sie parallel entstanden?

Die ersten beiden Teile von WHEELS OF FORTUNE hatte ich 2019 gedreht. Anfang 2020 musste ich den Dreh von DRIVE MY CAR wegen der Pandemie unterbrechen und ich hatte acht Monate, um weiter an WHEELS zu arbeiten. Am Ende habe ich dann parallel geschnitten und die Filme sind fast gleichzeitig fertig geworden.

Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser.