Magazin für unabhängiges Kino

Interview

„Konkurrenzdenken hat mich nie interessiert. Und großer Ruhm auch nicht.“

Interview mit Agnés Varda zu AUGENBLICKE: GESICHTER EINER REISE

INDIEKINO BERLIN: Frau Varda, bei AUGENBLICKE: GESICHTER EINER REISE haben Sie erstmals nicht alleine Regie geführt, sondern gemeinsam mit dem Künstler und Fotografen JR. Wie kam es zu dieser Zusammenarbeit?

Agnès Varda: Meine Tochter hat uns miteinander bekannt gemacht. Ich kannte seine Kunst und er meine Filme, aber es war Rosalie, die fand, es könne nicht angehen, dass wir uns noch nie begegnet sind. Wir stellten schnell fest, dass wir uns gut verstehen und vor allem die gleichen Interessen haben. Wir beide haben ein Bedürfnis nach Begegnungen mit anderen Menschen. So haben wir dann schon ein paar Tage nach unserem Kennenlernen beschlossen, gemeinsam einen Film zu machen.

Eigentlich hatten Sie da doch schon angekündigt, gar keine Kinofilme mehr machen zu wollen, oder?

Das stimmt, ich hatte es nach DIE STRÄNDE VON AGNÈS eigentlich nicht mehr vor. Zuletzt habe ich mich vor allem um meine Videoinstallationen für Museen und Galerien gekümmert. Das ist ein Arbeiten, das mir in meinem Alter eher entgegenkommt als ein ganzer Kinofilm. Oder ich habe etwas fürs Fernsehen gemacht. Doch in diesem Fall fand nicht zuletzt Rosalie, dass es zu schade sei, den Film nur im französischen Fernsehen zu zeigen. Sie und JR waren der Meinung, dass er um die Welt reisen müsse.

Was war denn eigentlich der Ursprungsgedanke hinter AUGENBLICKE: GESICHTER EINER REISE?


Wie gesagt, wir wollten Menschen treffen. Einfache, normale Menschen, keine Prominenten. Und JR hat sein magisches Fotomobil, diesen Truck, in den ich mich schon verliebt hatte, bevor ich JR wirklich kennen gelernt hatte. Ein Mensch steigt ein und lässt sich fotografieren – und das Foto kommt an der Seite heraus. Ach, was bin ich davon begeistert. Und so wie er mir mit dem Fotomobil etwas Neues zeigte, wollte ich ihm etwas Neues zeigen. Nämlich ein ländliches Frankreich jenseits der Metropolen, das er so nicht kennt. JR ist schließlich ein totaler Stadtkünstler, und meistens überall unterwegs, nur nicht in seiner Heimat.

Um eine Sozialstudie ging es dabei allerdings nicht wirklich, oder?

Natürlich ist der Film auch eine Sozialstudie. Nur keine bitterernste. Wir wollten mit Freude und einem Lächeln durchs Land reisen und uns treiben lassen. Und uns auch nicht als Filmemacher zurücknehmen oder verstecken, denn dazu hatten wir zu viel Freude daran, uns gegenseitig durch die Kamera kennen zu lernen. 18 Monate lang ging das insgesamt, allerdings drehten wir immer nur eine Woche am Stück. Ich bin zwar noch stark, aber so stark eben doch nicht mehr. Zwischendurch habe ich mich also immer wieder anderem gewidmet – und dann ging es wieder los mit dem magischen Fotomobil.

Haben Sie durch die Reisen und den Film etwas Neues über Ihre Heimat Frankreich gelernt?

Selbstverständlich, jeden Tag. Vielleicht weniger über Frankreich als über seine Bewohner. Ich betrachte jede Begegnung mit einem anderen Menschen als eine Erfahrung, bei der ich dazulerne. Jeder Mensch ist einzigartig und dadurch interessant, und von jedem kann man etwas lernen. Deswegen liebe ich es auch in meinem Alter immer noch so sehr, neue Menschen kennenzulernen.

Für AUGENBLICKE haben wir uns treiben lassen beim Dreh

Wussten Sie von Anfang an, welche Struktur der Film haben würde?

Oh nein, der Film nahm – wie das eigentlich immer bei mir der Fall ist – erst im Schneideraum Struktur an. Deswegen dauert der Schnitt bei mir auch immer sehr lange. Für AUGENBLICKE haben wir uns treiben lassen beim Dreh. Aber im fertigen Film wollten wir den Zuschauer an die Hand nehmen und ein wenig führen. Deswegen haben wir uns zum Beispiel entschieden, unsere Begegnung mit Janine an den Anfang zu setzen. In diese Frau und wie sie erzählt muss man sich einfach verlieben. Das war als emotionaler Einstieg wichtig. Nach und nach fügten wir dann alles andere zusammen. Was gar nicht so einfach war, weil wir uns auf der Reise selbst ja immer von Zufällen hatten leiten lassen.

Dass Sie irgendwann vor der Tür von Jean-Luc Godard standen, war aber kein Zufall, oder?

Natürlich nicht, das hatten wir geplant. JR erwähnte, wie gerne er Godard mal treffen würde, und ich kenne ihn ja gut, schließlich war er mit meinem verstorbenen Mann Jacques Demy befreundet. Ich liebe es, Menschen, die ich mag, miteinander bekannt zu machen. Und in den Film hätte das Treffen thematisch auch gepasst, also dachte ich: Warum nicht? Ich hatte Godard eine Weile lang nicht mehr gesehen, und er lebt ja sehr zurückgezogen, aber er gab uns tatsächlich einen Termin.

Aber dann hat er die Tür nicht aufgemacht...

Ja, genau, das zeigen wir auch im Film. Ich muss sagen, dass mich das sehr verletzt hat. Ich war wirklich geschockt. Vor allem in Gedenken an Jacques und die Freundschaft, die er mit Godard hatte. Aber ich konnte nichts machen. Für den Film stellte diese Nicht-Begegnung dann aber eigentlich fast einen Glücksgriff dar. Das Ungeplante stellte ja ohnehin den roten Faden von AUGENBLICKE dar – und Godard verhalf uns durch diese unerfreuliche Überraschung quasi zu einem Drehbuch-Twist.

Hat er den Film inzwischen gesehen?

Ich habe ihm eine DVD geschickt, aber nie wieder etwas von ihm gehört.

Es ist spannend, so viel geliebt und gelebt zu haben wie ich

Im vergangenen Herbst erhielten Sie einen Ehren-Oscar. Was hat Ihnen das bedeutet?

Das war für mich eine große Überraschung. Ich war ja nie im kommerziellen Sinne eine erfolgreiche Regisseurin. Weil es anders als bei der regulären Oscar-Verleihung keine Verlierer gibt, kommen wirklich alle Stars, und alle haben gute Laune. Ich stand dort auf der Bühne und sah im Publikum Steven Spielberg, Tom Hanks, Richard Gere oder Jennifer Lawrence. Ich stellte mir vor, wie viel Vermögen diese Menschen wohl alle mit ihren Filmen gemacht haben und musste lachen. Denn ich bin mit meinen Arbeiten natürlich nie reich geworden. Dafür gefällt es mir umso mehr, Preise und Anerkennung zu bekommen und auf diese Weise wertgeschätzt zu werden. Und natürlich hilft so ein Oscar auch dabei, den nächsten Film zu finanzieren. Das darf man auch nicht unterschätzen.

Wenig später wurde dann ja auch noch AUGENBLICKE: GESICHTER EINER REISE als Bester Dokumentarfilm für den Oscar nominiert..
.

Das war die noch viel größere Überraschung. Jeder weiß doch, dass die Amerikaner am liebsten amerikanische Filme gucken, nicht französische, bei denen sie Untertitel lesen müssen. Ich habe mir dann aber auch nicht viele Gedanken darüber gemacht ob wir gewinnen oder nicht. Konkurrenzdenken hat mich nie interessiert. Und großer Ruhm auch nicht. Stattdessen freue ich mich lieber, dass überall auf der Welt zumindest ein paar Leute zu geben scheint, die AUGENBLICKE lieben.

Gab es in Ihrer langen Karriere einen Film, der einen besonderen Nerv zu treffen schien?


Ich würde sagen, dass MITTWOCH ZWISCHEN 5 UND 7 derjenige meiner Filme ist, den die meisten Menschen kennen. Also wohl der!

Ist das auch Ihr persönlicher Favorit?

Wenn ich rein danach gehe, welcher Film mir als Regisseurin am meisten Freude bereitet hat, dann war das sicherlich 101 NÄCHTE – DIE TRÄUME DES M. CINEMA, den ich zum hundertsten Geburtstag gedreht habe. Ich musste die größten Stars des europäischen Kinos vor meiner Kamera versammeln: Catherine Deneuve, Alain Delon, Fanny Ardant, Belmondo, Mastroianni, Schygulla. Dazu Michel Piccoli in der Hauptrolle und Julie Gayet an seiner Seite, die damals erst 20 Jahre alt war. Der Film lief auf der Berlinale, aber er war in Frankreich ein fürchterlicher Flop, deswegen kam er kaum irgendwo sonst ins Kino. Es hat also so gut wie niemand diesen Film gesehen. Aber mir hat er unglaublich viel Spaß gemacht.

Eine letzte Frage noch, weil dieser Tage Ihr 90. Geburtstag ansteht: Ist Ihr Alter etwas, das Sie viel beschäftigt?


Natürlich beschäftigt es mich. Wie sollte es nicht, wenn man mit einem Ko-Regisseur arbeitet, der schneller läuft als man selbst und auch sonst körperlich noch alles machen kann, was bei mir leider nicht mehr so gut geht. Aber wissen Sie: Angst gemacht hat mir das Alter nie. Im Gegenteil liebe ich es, einen ganzen Rucksack an Erinnerungen und an Begegnungen mit mir herumzutragen. Es ist spannend, so viel geliebt und gelebt zu haben wie ich. Und was die Arbeit angeht: Solange ich noch die Kraft habe, mache ich einfach weiter. Ob mit einem Film oder mit etwas anderem.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann

Über Agnés Varda:
Agnès Varda, geboren 1928, bildete mit Chris Marker (LA JETÉE, SANS SOLEIL) und Alain Resnais (L’ANNÉE DERNIÈRE À MARIENBAD) die „group rive gauche“, zu deren Peripherie auch Georges Franju, Jacques Demi und William Klein gehörten. Angeblich wollte sich die Gruppe von der aus dem Umkreis der Filmzeitschrift „Cahiers du cinéma“ entstandenen Nouvelle Vague-Gruppe abheben, aber Varda zufolge verband die drei vor allem „freundliche Unterhaltung und eine Liebe zu Katzen“. Von den Nouvelle Vague-Regisseuren Godard, Truffaut, Chabrol, Rohmer und Rivette, die sich als Cinephile vor allem auf andere Filme (Noir, Hitchcock etc.) bezogen, unterschieden sich die „rive gauche“ Filmemacher durch ihr Interesse am Verhältnis von Film zu anderen Künsten, vor allem Literatur und Fotografie. Varda hatte Literatur, Kunstgeschichte und Philosophie studiert und eine Fotografen-Lehre gemacht, bevor sie ihren ersten Film drehte. LA POINTE COURT (1954), nach einer Willam Faulkner-Geschichte, wurde prompt von Truffaut wegen des (absichtlich) gekünstelten Schauspiels verrissen. Vardas größte Erfolge waren CLE0 DE 5 Á 7. (MITTWOCH ZWISCHEN 5 UND 7, 1961), über den Nachmittag einer jungen Frau, die auf die Diagnose eines Arztes wartet, SANS TOIT NI LOI (VOGELFREI, 1965) die Geschichte flüchtiger Begegnungen der schroffen Mona, die in absoluter Freiheit leben will, LE BONHEUR (DAS GLÜCK, 1965), eine Dekonstruktion des bürgerlichen Familienidylls, und der Dokumentarfilm LES GLANEURS ET LA GLANEUSE (DER SAMMLER UND DIE SAMMLERIN, 2000), der, ausgehend von einem Gemälde von Jean-François Millet, die Geste des „Nachlesens“, des Aufhebens von Übriggebliebenem erforscht, bis hin zu Menschen, die Mülleimer durchwühlen und Künstlern, die Weggeworfenes als Material benutzen.