Interview
„Ich wollte eine Tragödie in der heutigen Zeit schreiben“
Interview mit Xavier Legrand über NACH DEM URTEIL
Bei seiner Weltpremiere bei den Filmfestspielen in Venedig wurde VOR DEM URTEIL des französischen Schauspielers und Filmemachers Xavier Legrand als Bester Erstlingsfilm und mit dem Silbernen Löwen für die Beste Regie ausgezeichnet. Vor seinem Langfilmdebüt spielte Legrand vor allem Theater, sein Kurzfilm AVANT QUE DE TOUT PERDE war 2014 für den Oscar nominiert. Thomas Abeltshauser hat beim Filmfest in San Sebastián mit dem Regisseur gesprochen, wo der Film den Zuschauerpreis gewann.
Was hat Sie an dem Thema häuslicher Gewalt interessiert?
Das entstand erst im Laufe der Zeit. Ich wollte einen Film über eine Familie erzählen. Ich komme vom Theater, ich bin vor allem ein Bühnenschauspieler und schon seit den griechischen Dramen von Sophokles und den anderen Klassikern geht es immer wieder um Familienstrukturen, aber auch um Gewalt. Ich wollte eine Tragödie in der heutigen Zeit schreiben. So kam ich langsam auf das Thema, merkte aber bald, dass Gewalt innerhalb einer Ehe oder einer Familie ein Tabuthema ist.
In den klassischen griechischen Tragödien sterben meist etliche der Charaktere. In Ihrem Film sieht man dagegen nie, wie jemand geschlagen wird, nur die ständige Angst, in der die Protagonisten leben. Das ist erstaunlich genau beobachtet. Sind das Situationen, die sie in ihrem eigenen Umfeld erlebt haben?
Die Geschichte ist nicht autobiografisch. Ich habe intensiv recherchiert, habe mich mit Opfern unterhalten, Prozesse besucht, mit Ermittlern und Familienrichtern gesprochen. In Frankreich gibt es so viele Fälle, dass oft in 20 Minuten ein Urteil gefällt werden muss, was oft zu furchtbaren und falschen Entscheidungen führt. Und es wurde auch immer wieder deutlich, dass all diese Schicksale vor allem von Angst geprägt sind, die Gewalt ist oft nicht sichtbar. Deswegen habe ich mich auch entschieden, sie nicht zu zeigen. Der Ehemann ist ein perverser Narzisst, er interessiert sich im Grunde auch gar nicht für seine Kinder, er will vor allem seine Frau kontrollieren und manipulieren. Er liebt sie nicht, er nimmt sie nur als seinen Besitz war. Und im Extremfall sieht er sie lieber tot als dass sie ein Leben ohne ihn führt.
Ich habe alles Unnötige und Spektakuläre weggelassen
Wie schwierig war es, die Balance zu finden zwischen der authentischen Darstellung dieses Familienlebens und den Thrillerelementen?
Es war eine Herausforderung und ein Balanceakt, sie nicht als Genrefiguren zu missbrauchen und in Stereotype zu verfallen. Die Geschichte beginnt im Gerichtssaal und entwickelt sich langsam zu einem Thriller, und ich habe versucht, jede Überdramatisierung zu vermeiden und die Situation atmosphärisch so genau wie möglich zu zeigen. Der Film ist sehr nah am Drehbuch, das ich geschrieben hatte und bei dem ich penibel darauf geachtet habe, nicht in die üblichen Genrekonventionen zu verfallen. Ich habe alles Unnötige und Spektakuläre weggelassen und den Plot so weit wie möglich verschlankt. Die Spannung baut sich langsam dadurch auf, dass ich dem Publikum nicht alles vorkaue, es muss selber Schlüsse ziehen, Situationen interpretieren und zweifeln.
Wie haben Sie den Jungen gefunden, der Julien spielt und den Film über weite Strecken trägt?
Es war eine lange und schwierige Suche, ich habe rund 60 Jungen gecastet. Und als ich schließlich Thomas Gioria gefunden hatte, habe ich erst lange mit ihm gesprochen und geprobt, um sicher zu sein, dass er die notwendige Reife für die Rolle hat. Beim Schreiben dachte ich oft, es wird unmöglich sein, einen solchen Jungen zu finden, aber Thomas hat dem Film mehr gegeben, als ich je zu hoffen gewagt hatte. Er ist ein unglaublich talentierter Schauspieler.
Joséphine, die Tochter, hat ihre ganz eigene Geschichte, die sie parallel zu der von Miriam und ihrem Sohn erzählen. Welche Funktion hat sie für den Kontext?
Zum einen gibt sie dem Zuschauer die Möglichkeit zwischendurch etwas durchzuatmen, weil es sonst wirklich zu erdrückend geworden wäre. Und ich habe bei meinen Recherchen immer wieder festgestellt, dass Kinder aus ein und derselben Familie sehr unterschiedlich auf solche Konflikte reagieren. Jungen tendieren dazu, die ihnen widerfahrene Gewalt zu reproduzieren oder entwickeln einen Beschützerinstinkt ihrer Mutter gegenüber. Mädchen verlassen oft die dysfunktionalen Familienstrukturen, um selbst eine Familie zu gründen. Aber es wird auch klar, dass sich bestimmte Schemata wiederholen, wenn Joséphine ebenso jung schwanger wird, wie ihre Mutter und Großmutter vor ihr.
Der Autor eines Drehbuchs ist der Erschaffer, fast wie ein Gott.
Warum haben Sie auf Filmmusik verzichtet?
Auch das hat mit der Angst zu tun. Viele Frauen berichteten mir von ihren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt, wie sie in ständiger Furcht lebten und auf kleinste Geräusche reagierten. Eine Frau erzählte mir, dass sie schon am Geräusch, wie ihr Mann abends den Haustürschlüssel umdreht, ahnte, ob er sie heute schlagen würde oder nicht. Diese permanente Angst konnte ich durch Sounddesign sehr viel besser darstellen als durch Filmmusik.
Was war die ursprüngliche Motivation, hinter die Kamera zu wechseln?
Mir ging es vor allem um das Schreiben, ich will Geschichten erzählen. Und das führte mich dann zur Regie. In Frankreich sind wir in der glücklichen Situation, dass der Autor eines Theaterstücks oder eines Drehbuchs einen sehr hohen Stellenwert hat, er ist der Erschaffer, fast wie ein Gott. Und ich wollte meinen Stoff nicht aus der Hand geben und von jemand anderem inszenieren lassen.
Wollen Sie weiterhin als Schauspieler und Regisseur arbeiten oder wollen Sie sich für eines entscheiden?
Nein, ich halte es für mich schlicht für unmöglich, auf eines der beiden zu verzichten. Ich will weiterhin sowohl vor und hinter der Kamera und auf der Bühne stehen.
Das Gespräch führte Thomas Abeltshauser