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Interview, Filme

"Ich wollte den Zuschauern die Erfahrung näherbringen, ein Mädchen zu sein, das ständig mit kleinen Momenten von Frauenhass konfrontiert ist"

Interview mit Eliza Hittman zu NIEMALS SELTEN MANCHMAL IMMER

INDIEKINO: Mrs Hittman, in Ihrem Film kreieren Sie eine ganz besondere, sehr schöne Atmosphäre, die immer wieder zwischen einem naturalistischen Ansatz und einer beinahe traumhaften Erfahrung changiert. Inwieweit war das geplant, und wie viel hat sich aus dem Prozess des Filmens ergeben?

Eliza Hittman: Es ist sehr interessant, dass Sie das so sehen. Denn als wir versuchten, das Projekt zu finanzieren und die Leute mich fragten, wie ich den Film beschreiben würde, habe ich immer gesagt, dass es eine „poetische Odyssee“ sei. Das ist es, worauf ich hinauswollte, beim Schreiben und auch bei der Umsetzung des Films. Zwar war es mir wichtig, die Prozeduren, die in der Geschichte eine Rolle spielen, akkurat darzustellen und nachzuvollziehen. Aber ebenso wollte ich erreichen, dass der physischen Reise, die Autumn durchmacht, eine gewisse Poesie innewohnt. Das heißt, einerseits habe ich versucht, eine Balance zu halten zwischen der Realität, der Härte und Bürokratie, die in diesen Kliniken herrscht, und gleichzeitig wusste ich, dass die körperlichen Strapazen von einer gewissen Zartheit durchleuchtet sein mussten. Es ist dieser Mix aus Realität und Schönheit, um den es mir insgesamt ging, und ich bin froh, dass das auch so rüberkommt.

Wenn man sich NEVER RARELY SOMETIMES ALWAYS gemeinsam mit Ihren ersten beiden Filmen anschaut, dann fällt ein großes Thema: In allen die drei Arbeiten geht es um Jugendliche und Sexualität. Hatten Sie von vornherein eine vage Trilogie in der Richtung im Auge
?

Ich hatte eigentlich schon lange vor BEACH RATS mit dem Film begonnen. Er befand sich sozusagen in meinem Archiv. Ich fing nach IT FELT LIKE LOVE an, daran zu arbeiten, aber eigentlich hatte ich ein Treatment für eine Geschichte, die in Irland spielt und von einem Au-pair-Mädchen handelt, das irgendwo auf dem Land arbeitet und dann gezwungen ist, innerhalb von einem Tag nach London zu gehen und wieder zurück, um ein Kind abtreiben zu lassen. Allerdings machte ich zu dem Zeitpunkt Micro-Budget-Filme und hatte auch keinen Agenten oder irgend jemanden, der mich repräsentierte, und deshalb dachte ich, es wäre vollkommen unmöglich, den Film tatsächlich zu realisieren. Daraufhin begann ich, mit dem Gedanken zu spielen, den Film stattdessen in den USA zu drehen, aber die grundsätzliche Struktur, die Reise eines Mädchens von der Provinz in die Großstadt, beizubehalten. Doch dann legte ich den Film zunächst ganz beiseite und machte schließlich BEACH RATS. Und danach dachte ich eigentlich, dass ich mich von diesem Thema „Jugendliche“ verabschieden würde. Aber als Trump zum Präsidenten gewählt wurde und ich in Sundance von allen Seiten nach meinem neuen Film gefragt wurde, ging mir die Geschichte nicht mehr aus dem Kopf. Und es schien mir letztendlich jetzt noch relevanter als zuvor, sie zu erzählen. Also ein bisschen ist es Zufall, dass die Filme auf diese Weise zusammenhängen, und zu einem gewissen Grad ist es beabsichtigt.

Lassen Sie uns noch etwas genauer über das Klima sprechen, in dem Sie Ihren Film zu finanzieren versucht haben. Wie schwer ist es heute in Amerika, einen Film über Abtreibung zu drehen? Denken Sie, es wäre einfacher gewesen, wenn Sie vor sechs Jahren bei Ihrem ursprünglichen Plan geblieben wären, bevor Donald Trump Präsident wurde?

Als ich den Film 2014 zu Zeiten Obamas zu pitchen versucht habe, herrschte ein geradezu wahnhafter Optimismus und, ehrlich gesagt, hat damals keiner die Dringlichkeit für einen Film wie diesen gesehen. Ich habe immer wieder gesagt: „Aber das passiert wirklich jeden Tag.“ Und auch wenn Abtreibung in Anführungszeichen „legal“ ist in den USA, variieren die Abtreibungsgesetze und Auflagen zwischen den einzelnen Bundestaaten, und ist es trotzdem ein extrem schwieriger Prozess. Es gibt so viele Verbote, so viele verschiedene Mittel und Wege, mit denen jeder einzelne Staat versucht, einer Frau ihr Recht zu nehmen, selber darüber zu entscheiden, was mit ihrem Körper geschieht. Aber damals hat niemand die Relevanz gesehen. Erst als Trump zum Präsidenten gewählt wurde, ging es in der Debatte, politisch und kulturell, plötzlich um Zugang. Und ich denke, die Leute haben das Projekt in Trumps Amerika besser verstanden. Dennoch war es nach wie vor schwer, den Film zu finanzieren. Ein Teil des Problems lag sicher auch darin, dass, wenn man kleine Filme dreht, die Leute eben wollen, dass man nur kleine Filme dreht. Aber das Budget, dass wir für dieses Projekt veranschlagt hatten, lag höher als bei meinen vorherigen Arbeiten. Das war also auch ein Hindernis. Doch ich hatte zwei sehr entschlossene Produzentinnen, Adele Romanski und Sara Murphy, die sich richtig dafür ins Zeug gelegt haben, damit das Budget so bleibt wie vorgesehen.

Wir lernen Autumn nicht wirklich kennen im Film, zumal sie einen sehr ruhigen, introvertierten Charakter hat, was es mitunter schwer macht, ganz mit ihr mitzugehen. Gleichzeitig erzählen Sie eine unheimlich intime Geschichte. Wie sind Sie auf Sidney Flanigan, die die Hauptrolle spielt, gestoßen? Und wie haben Sie mir ihr gearbeitet, um diese besondere schauspielerische Leistung zu erreichen, die man auf der Leinwand zu sehen bekommt?

Ich traf Sidney zum ersten Mal 2013, als sie gerademal 14 Jahre alt war. Ich arbeitete damals als Produzentin an einer Art performativer Dokumentation, die wir im westlichen New York drehten. Wir mischten uns unter eine Gruppe von Jugendlichen, die einer bestimmten Subkultur angehörten, und Sidney trieb sich mit den Kids herum. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich und war den anderen weit überlegen. Am Ende haben wir uns über Facebook mit ihr angefreundet. Sie ist eine Musikerin, das heißt, sie postete jede Menge selbstgemachter Videos vor ihr allein in ihrem Schlafzimmer, während sie Musik macht. Und es lag etwas sehr Rohes, Raues und Herzzerbrechendes in dieser Musik. Sehr authentisch jugendlich. Über die Jahre habe ich sie über Facebook beobachtet, wie sie älter wurde. Und ich hatte sie immer im Hinterkopf, als ich die Figur schrieb, obwohl ich sie gar nicht kannte. Als wir mit dem Casting für den Film begannen, haben wir unsere Fühler jedoch zunächst in alle Richtungen ausgestreckt. Ich habe junge Frauen aus STRANGER THINGS beim Vorsprechen gehabt, aus Hollywood und aus London. Wir haben auch außerhalb der üblichen Bahnen in Pennsylvania gesucht, haben Schulen und Theaterclubs besucht, aber ich fand auch dort niemanden Passendes. Also dachte ich, wir müssen uns bei diesem Mädchen melden und schauen, was passiert. Wir sind dann über soziale Medien mit ihr in Kontakt getreten und haben sie um ein Vorsprechen regelrecht angebettelt. Aber sie war zunächst nicht interessiert und meinte nur, sie wäre zu beschäftigt mit ihrer Musik und ihrem Job. Trotzdem haben wir es weiter versucht, bis sie irgendwann sehr, sehr nervös nach New York kam, um sich mit mir zu treffen. Sehr unverbindlich. Wir haben einen Tag mit ihr verbracht, aber ich wusste schon, als sie ankam, dass sie der Film sein würde. Ich hatte sie lange nicht in Natura gesehen und wusste nicht genau, was mich erwartete. Aber worauf es mir ankam in der Arbeit mit ihr und in Vorbereitung auf den Film, war es, den Schwerpunkt auf die Verbindung zwischen ihr und Talia zu legen, die andere Schauspielerin, die ihre Cousine spielt. Ich wollte eine Freundschaft zwischen den beiden kreieren. Und die enge Verbindung, die man auf der Leinwand zwischen den Figuren sieht, ist die Verbindung zwischen Sidney und Talia.

Die Kids in meinen Filmen bringen einfach sich selbst ein, auf eine sehr reale, sehr schutzlose Weise

Was in diesem Zusammenhang ebenfalls interessant zu beobachten ist, ist die Art und Weise, wie Sie Männer um diese beiden jungen Frauen ins Spiel bringen und wie diese Männer sich ihnen annähern - zumeist auf eine eher negative als positive Weise.

Ich denke nicht, dass meine Arbeit in irgendeiner Art und Weise von einer Botschaft getrieben ist. Es geht mir nicht darum, speziell Männern etwas mitteilen zu wollen in Bezug auf ihr Verhalten. Aber ich wollte sie fragen und einladen, sich einmal in die Schuhe dieser jungen Frau zu begeben. Ich glaube, wir leben in einer Gesellschaft, in der es eine Menge Sexismus von außen gibt. Und ich wollte den Zuschauern die Erfahrung näherbringen, ein Mädchen zu sein, das ständig mit kleinen Momenten von Frauenhass konfrontiert ist, und wie viel des Erwachsenwerdens für eine junge Frau heute damit zu tun hat zu lernen, sich abzuwenden und akzeptieren.

Sie stehen zudem in Ihrem Film auf eine feine, unterschwellige Art dem amerikanischen Gesundheitssystem sehr kritisch gegenüber. Worin liegen Ihrer Ansicht nach die größten Defizite?

Ein Aspekt, den ich im Film außen vor gelassen habe, weil ich das Gefühl hatte, es wäre vielleicht zu viel, ist es, bis ins Detail die Probleme zu beschreiben, mit denen minderjährige Frauen konfrontiert sind, wenn es darum geht, eine Abtreibung zu erhalten. Wir haben jede Menge Gesetze, die die Zustimmung der Eltern verlangen, das heißt, man bekommt keine Abtreibung bewilligt, wenn man die Eltern nicht um Erlaubnis fragt und die nicht zustimmen, ihre Tochter zu begleiten. Aber natürlich ist das für viele junge Frauen in den USA keine Option. Die Alternative dazu, wenn sie nicht in einen anderen Bundesstaat reisen, ist, einen Richter aufzusuchen. Und dieser Richter kann ihnen Erlaubnis erteilen. Allerdings ist es die Aufgabe des Richters, zu beurteilen, ob die junge Frau erwachsen genug für eine Abtreibung ist. Und das finde ich so grausam und auch ironisch, denn niemand begutachtet, ob die junge Frau in der Lage ist, eine Mutter zu sein. Als ich das hörte, war ich total entsetzt. Aber ich konnte mir nicht recht vorstellen, wie das im Film funktionieren sollte. Es war eine Sequenz, die im Kopf hatte, aber nie geschrieben habe, und vielleicht tut mir das im Nachhinein ein bisschen leid. Aber andererseits ging es für mich auch viel eher um diese junge Frau, wie sie lernen muss, mit all den Komplexitäten um sie herum klar zu kommen, und mit all den Hindernissen, die sie davon abhalten, Kontrolle über ihren eigenen Körper zu haben. Und auch wenn ihr Weg sehr traurig und schmerzhaft ist, denke ich, dass es einer bestimmten Sorte Frau bedarf, darauf zu beharren und diesen Weg zu gehen – und Frauen tun es natürlich jeden Tag.

Haben Sie Bedenken, Ihr Film könnte innerhalb der aktuellen Diskussionen zum Thema Abtreibung in den USA zwischen die Fronten geraten?

Ich hoffe, der Film trägt zur Diskussion bei, um diese zu vertiefen. Es ist ein sehr kontroverses Thema und es geht dabei gerade um so viel. Aber ich hoffe, dass es ein wichtiger Film ist, nicht nur für die jungen Frauen, die in unserem Land immer mehr aktiv werden und deren Stimmen immer lauter werden, sondern auch für Männer, um ihnen die Folgen von Trauma und einschränkenden Verboten besser verständlich zu machen.

Wie zuvor bereits erwähnt, drehten sich alle Ihre Filme bisher um Jugendliche und Sie haben viel mit jungen Schauspielern und Laiendarstellern gearbeitet…

Ich liebe es. Ich arbeite unheimlich gern mit ihnen.

Was genau lieben Sie so sehr daran? Ist es eine gewisse Rohheit im Spiel, die Sie anspricht?

Es ist die Direktheit und Unmittelbarkeit, ja. Die Jugendlichen wissen, was sie tun, ohne es zu sehr zu überdenken. Ich habe fürs Fernsehen gearbeitet und bei einer Teen-Show, und die Schauspieler dort wollten immer das Material noch einmal vorgespielt haben. Aber die Kids in meinen Filmen bringen einfach sich selbst ein, auf eine sehr reale, sehr schutzlose Weise.

Das heißt, Ihr nächster Film wird vielleicht wieder…

Nein, nicht von Jugendlichen handeln. Damit habe ich abgeschlossen. Also, vorerst zumindest. Vielleicht.

Haben Sie bereits ein neues Projekt im Hinterkopf?

Ja, es geht um eine Mittel-Klasse-Familie in New York City, die mit dem Tod der Matriarchin klarkommen muss. Sie ist Ende 90 und ihre Kinder sind weder emotional noch logistisch oder praktisch auf ihren Tod vorbereitet. Wenn man die Geschichte etwas weiterdenkt, geht es um eine Art Gelähmtheit und darüber, all diese Lebensendentscheidungen zu treffen. Dann stellen sie eine Pflegerin ein, eine Migrantin, und als sie ihr die Schlüssel zum Apartment geben, ändert die Geschichte ihre Richtung. Die Perspektive wendet sich und es geht vielmehr um die Spannung zwischen Tod und Überleben.

Das klingt wieder nach einem großen Thema.

Ja, definitiv!

Das Gespräch führte Pamela Jahn