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Interview

„Ich habe versucht, einen utopischen Film zu drehen“

Interview mit Wim Wenders über PERFECT DAYS

Seit den siebziger Jahren ist Wim Wenders einer der bedeutendsten deutschen Filmemacher. Zu seinen bekanntesten Filmen zählen ALICE IN DEN STÄDTEN (1974), IM LAUF DER ZEIT (1976), PARIS, TEXAS (1984), DER HIMMEL ÜBER BERLIN (1987), BUENA VISTA SOCIAL CLUB (1999) und PINA (2011). In diesem Jahr war der Regisseur bei den Filmfestspielen in Cannes gleich mit zwei Filmen vertreten: Mit dem in 3D gedrehten Dokumentarfilm ANSELM – DAS RAUSCHEN DER ZEIT über den Künstler Anselm Kiefer und mit dem schnell realisierten Spielfilm PERFECT DAYS. Hauptdarsteller Kōji Yakusho erhielt dort den Preis für den besten Darsteller.

Pamela Jahn hat mit Wim Wenders über PERFECT DAYS gesprochen.


INDIEKINO: Herr Wenders, was inspirierte Sie zu der Geschichte, die Sie in PERFECT DAYS erzählen?

Zunächst einmal hatte ich schon lange einfach Heimweh nach Tokio. Ich war fast zehn Jahre nicht dort gewesen. Dann kam plötzlich eine Einladung, ob ich mir nicht diese Toiletten anschauen wollte, die von 15 großen Architekten entworfen und gebaut worden waren. Wenn dieses künstlerische und soziale Projekt mich inspirieren würde, könnte man vielleicht eine Serie von Kurzfilmen über die Architekten und ihre kleinen „Hygiene-Tempel“ machen. Das hat mich interessiert, dass so große Architekten so unbedeutende Sachen wie Toiletten gebaut haben, die dann der Allgemeinheit gehörten. (Das war ursprünglich ein Projekt im Rahmen der Olympischen Spiele vor drei Jahren, die erst verschoben wurden und dann praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden.) Ich bin also für eine Woche hingeflogen, um zu gucken.

Wie kam man auf Sie?

Es ist kein Geheimnis, dass ich Japan und Tokio sehr liebe und mich für Architektur interessiere. Jedenfalls, als ich diese Träume von Toiletten gesehen habe und wo sie liegen, alle in kleinen Parks, war ich hin und weg. So würde man mitten in der Stadt immer gerne auf ein stilles Örtchen gehen. Aber auf kurze Dokumentarfilme, wie sie angedacht waren, hatte ich keine Lust. Ich dachte mir, es wäre doch viel schöner, wenn man über diese Häuslein auch ein bisschen mehr über Japan erfahren würde, beziehungsweise über den Stellenwert, den das Allgemeinwohl und der Dienst an der Allgemeinheit in diesem Land haben. Bei uns ist der Sinn für das Gemeinwohl in der Pandemie leider ziemlich den Bach runter gegangen. Es gibt heute weniger sozialen Halt in der Gesellschaft als vorher. In Japan hatte ich bei diesem Besuch das Gegenteil beobachtet; das war gerade zu dem Moment, als die Tokioter nach einem unendlich langen Lockdown ihre Stadt wieder in Besitz genommen haben, mit großem Respekt und Vorsicht für alles Gemeinsame. Aus diesem Gedanken heraus haben wir dann eine Geschichte entwickelt, mit einem Mann als Helden, der Toiletten putzt.

Wie sind Sie auf Kōji Yakusho gekommen, der die Hauptrolle spielt?
Ich verehre Kōji Yakusho als Schauspieler, seit ich ihn zum ersten Mal in SHALL WE DANCE? gesehen habe, dann in BABEL und in anderen Filmen, auch in Samurai-Filmen. Ich habe mir Blurays gekauft, nur weil er mitgespielt hat. Und dann hieß es, er würde bei diesem Projekt gern mitmachen. Danach gab es kein Halten mehr. Wenn er wirklich dabei wäre, müssten wir eine tolle Figur für ihn schreiben. Und daraus ist Hirayama entstanden.

Woher rührt Ihre Faszination für die japanische Kultur?
Das hat eine lange Vorgeschichte und fing damit an, dass ich in den 1970er Jahren in New York zum ersten Mal Filme von Yasujirō Ozu gesehen habe. Zu dem Zeitpunkt hatte ich selbst bereits vier oder fünf Filme gedreht. Ich kannte mich auch in der Filmgeschichte ganz gut aus, aber von diesem Ozu hatte ich noch nie gehört. Und erst als ich dann TOKIO STORY gesehen habe, wurde mir bewusst, dass dieser japanische Regisseur mein großer Meister war. Dass ich ihn sozusagen „zu spät“ entdeckt habe, war mir egal. Danach bin ich zum ersten Mal nach Japan gefahren, 1977, um noch mehr Filme von ihm zu sehen, ohne Untertitel, einfach alles, was es im japanischen Filminstitut gab. Dadurch bin ich auch direkt mit der japanischen Kultur in Verbindung gekommen, und habe mich sofort zu Hause gefühlt, in den Filmen und in dem Land.

Ist das Format, das Sie für den Film gewählt haben, auch eine Referenz zu Ozu?

Wir haben das Format gewählt, weil es ein bisschen altmodisch ist, aber vor allem, weil es in diesen engen Toiletten die Räume einfach besser erfasst hat. In Breitwand würde man ja nie den Fußboden sehen, oder den Futon in dem Tatami-Zimmer, in dem Hirayama lebt. Ich empfand es einfach seiner Arbeit angemessener, es passt besser zu seiner ganzen Liebe zum Analogen, zum Lesen, zu seinen Musik-Kassetten, die er immer noch hört. In Japan sind Kassetten übrigens gerade wieder der letzte Schrei. Es gibt auch wieder Läden, in denen man Walkmans kaufen kann. Die jungen Leute haben „Compilations“ wiederentdeckt, und wieviel persönlicher das ist als eine Playlist. Eine selbst zusammengestellte Musik-Kassette erzählt etwas, das ist wie ein Brief, das hat einen Anfang und ein Ende, während eine Playlist willkürlich abläuft. Diese analoge Kultur feiert in Japan derzeit ein großes Comeback.

Gilt das in gewisser Hinsicht auch für Ihren Film?

(lacht) Mein Film ist digital gedreht. Wir leben in einer Zeit, in der gerade alles drunter und drüber geht, in der Welt wie im Filmbusiness. Da findet ein großer Kultur-Umbruch statt, vor allem in der Hinsicht, wie wir mit Bildern umgehen und was uns Bilder bedeuten. Unser Film ist da im Zentrum vieler Fragen. Wie geht man damit um, dass es von allem zu viel gibt? Und wie kriegen wir das hin, uns zu reduzieren, wo wir doch alle wissen, dass es sonst noch mehr den Bach runtergeht.

Franz Lustig, mein Kameramann, ist quasi ein lebendiges Stativ.

Ihr Film wirft viele poetische Fragen auf. Werden Schatten dunkler, wenn sich zwei überlagern? Oder: warum kann nicht alles so bleiben wie es ist? Sind das Dinge, die Sie heute persönlich bewegen?

So ohne Zusammenhang klingen sie beide komisch. Sehen Sie, ich habe versucht, einen utopischen Film zu drehen, in einer Realität, in der uns viele Fragen zu entgleiten scheinen. Mir selbst ja auch! Ich habe immer einen zu vollen Kalender und bin ständig am Handy. Ich muss mich auch regelmäßig daran erinnern, dass vieles nicht unbedingt nötig ist und man auch viel auslassen kann. In einer Gesellschaft, die einem einredet, dass man nichts verpassen darf, merkt man manchmal mit großer Wehmut, dass man deswegen das Wesentliche verpasst, allem voran die Aufmerksamkeit für das Heute, das Hier und Jetzt. Für Hirayama ist das anders. Er hat sich freiwillig reduziert und kommt damit großartig aus. Er erlebt trotzdem viel und sieht viel ...

So wie die lichtdurchfluteten Baumspitzen, die er so gerne fotografiert.

Es gibt im Japanischen Worte für etwas, wofür man im Deutschen ganze Sätze braucht, zum Beispiel „Komorebi“. Damit ist das Sonnenlicht gemeint, das durch die Blätter der Bäume fällt und auf dem Boden oder irgendwo an einer Wand plötzlich ein Schattenspiel entstehen lässt. Hirayama liebt diese kleinen vergänglichen Schauspiele. Und Bäume sind seine Freunde. Er hat für jeden Menschen eine Aufmerksamkeit, auch für den Obdachlosen, den sonst kaum einer bemerkt.

Hirayama lebt zwar allein, aber er hat eine Familie, von der man als Zuschauer nur wenig erfährt. Was steckt dahinter?
Hirayama ist nicht als Reinigungskraft geboren worden, sondern kommt aus einem privilegierten Elternhaus. Das merkt man erst, wenn seine Schwester mit einem Luxusauto vor seiner Tür steht. Und wenn sie allen Mut zusammennimmt und ihn fragt, ob es stimmt, dass er Toiletten putzt. Man ahnt, dass da eine große Kluft zwischen ihm und seine Familie liegt, mit der er nichts mehr zu tun haben will. Da gab es wohl auch einen Konflikt mit dem Vater. All das ist lange her. Nur die Nichte, die sich gerade in sein Leben geschlichen hat und zu ihm geflüchtet ist, die hat er wohl auch schon gemocht, als sie noch ein Kind war, und jetzt ist sie auf einmal einen Kopf größer als er.

Was hat es mit der Verschmelzung von dokumentarischen und fiktiven Elementen auf sich, die sich wie ein roter Faden durch Ihr Werk insgesamt zieht?

(lacht) Sie sind mir auf die Schliche gekommen. Ich drehe meine Dokumentarfilme gerne mit fiktiven Elementen, und umgekehrt lasse ich in die Spielfilme viel Wirklichkeit herein. Meine Dokumentarfilme sind aber deswegen nicht mit einer wackligen Handkamera gedreht. Trotzdem haben wir PERFECT DAYS alles von der Schulter gefilmt. Franz Lustig, mein Kameramann, ist quasi ein lebendiges Stativ. Das hat uns erlaubt, jeden Tag über 50 Einstellungen zu drehen, was im Spielfilm eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit ist. Aber wir mussten sehr schnell sein, weil Kōji Yakusho nur ein kleines Zeitfenster für die Dreharbeiten hatte. 16 Tage waren ein ganz schöner Kraftakt.

In den Filmen, in denen ich die Dialoge selbst geschrieben habe, reden alle Leute wie ich. Das muss nicht sein.

Zu Beginn des Films verläuft für Hirayama jeder Tag gleich. Er hat eine eingespielte Morgenroutine. Haben Sie die auch?

Ich wünschte, ich hätte eine. Ich habe mich immer nach Routine gesehnt. Deswegen mag ich auch Dreharbeiten so gerne, weil dann morgens früh unbarmherzig der Wecker klingelt. Wir haben bei diesem Film immer sehr früh angefangen, meistens um fünf Uhr. Beim Drehen macht mir das nichts aus. Im normalen Leben schon.

Wie sind Sie zu Ihrem Ko-Autor Takuma Takasaki gekommen?
Takuma war derjenige, der mich ursprünglich nach Tokyo eingeladen hatte. Er wusste, dass ich mich für Architektur interessiere und hatte gehofft, mich für die kurzen Dokumentarfilme zu den Toiletten und den Architekten begeistern zu können. Als klar war, dass ich lieber eine Geschichte erzählen wollte, haben wir uns zusammengetan. Takuma ist ein Autor und Dichter. Wir haben toll zusammengearbeitet. Auch beim Drehen war er dabei. Das war immer mein Traum, dass mein Drehbuch-Co-Autor den Dreh mitmacht, aber das Glück hatte ich bisher nur zwei, drei Mal. Denn ganz ehrlich: Ich bilde mir überhaupt nicht ein, dass ich gute Dialoge schreiben kann. In den Filmen, in denen ich die Dialoge selbst geschrieben habe, reden alle Leute wie ich. Das muss nicht sein. Der Schauspieler Rüdiger Vogler, mit dem ich viel zusammengearbeitet habe, wurde nicht nur deshalb mein alter Ego genannt, sondern auch, weil er mit meinen Dialogen zurechtkommen musste.

Sie haben zu Beginn ein größeres Architektur-Projekt erwähnt, an dem Sie arbeiten. Was genau haben Sie vor?
Ich mache einen Film mit dem Schweizer Peter Zumthor, dem erklärten Lieblingsarchitekten aller Architekten. Er baut ganz wenig mit seinem kleinen Büro, aber die 20 Sachen, die er bisher in die Welt gesetzt hat, sind alle notwendig und schön, und man freut sich, dass es sie gibt. Seine beiden größten Projekte sind derzeit das neue LACMA Museum in Los Angeles und der Zusatzbau für die wunderschöne Fondation Beyeler in Basel. Wir arbeiten seit Jahren zusammen, es ist ein Langzeitprojekt, weil wir die Gebäude bei ihrem Entstehungsprozess begleiten.

In Ihrem Dokumentarfilm ROOM 666 von 1982 haben Sie verschiedene Filmemacher*innen zu ihrer Meinung über die Zukunft des Kinos befragt. Ihre Fragstellung beinhaltete damals schon den Tod der Filmsprache. Denken Sie heute, Gott sei Dank hatten wir alle unrecht?

Dieser Film ist vor 40 Jahren in Cannes während der Filmfestspiele entstanden. Ich habe ein Hotelzimmer gemietet und Regisseur*innen befragt, die vor Ort waren. Die beste Antwort hatte Michelangelo Antonioni, der als einziger von 16 Leuten die Zukunft des Kinos ziemlich gut vorausgesagt hat. Er wusste, dass wir uns ändern würden, und das Kino sich mit uns ändern würde. Und obwohl er zu dem Zeitpunkt das Wort noch nicht kannte, hat er auch das digitale Kino beschrieben. Und jetzt ist es da und heißt Streaming und macht dem herkömmlichen Kino das Leben schwer. Aber ich glaube, dass es das Erzählen in Bildern immer geben wird, auch wenn sich die Rezeptionsformen weiter verändern werden.

Das Gespräch führte Pamela Jahn.

Pamela Jahn