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Interview

"Ich arbeite nicht mit Metaphern"

Interview mit Ira Sachs über PASSAGES

Wie John Cassavetes dreht Ira Sachs sehr intime Geschichten, die sich aus dem Charakter seiner Figuren entwickeln. Sachs‘ erster Spielfilm, DELTA (1997) erzählte von einem jungen Mann, der entdeckt, dass er bisexuell ist, und beginnt, ein Doppelleben zu führen. Sein vielleicht persönlichster Film KEEP THE LIGHTS ON (Berlinale Teddy Award 2012) verarbeitete eigene Erfahrungen zur Geschichte einer intensiven On-Off-Beziehung zwischen dem Künstler Erik und dem drogensüchtigen Rechtsanwalt Paul. LITTLE MEN (2016) handelte von der Freundschaft zweier Nachbarsöhne und ihrer Familien, und im hochkarätig besetzten FRANKIE (2019, mit Isabelle Huppert, Brendan Gleeson, Marisa Tomei) unternimmt eine todkranke Schauspielerin einen letzten Urlaub mit ihrer Familie. Pamela Jahn hat sich mit Ira Sachs über seinen jüngsten Film, PASSAGES, unterhalten.

INDIEKINO: Wer oder was hat Sie dazu inspiriert, die Geschichte zu schreiben?

Ira Sachs: Franz Rogowski, als ich ihn in Michael Hanekes HAPPY END gesehen habe. Ich war begeistert, weil er eine rein filmische Figur auf der Leinwand ist, und ich dachte nur: Wow! Dann fing ich an zu überlegen, was wir zusammen machen könnten. Mein Co-Autor Mauricio Zacharias und ich schrieben den Film mit ihm im Hinterkopf, aber auch mit dem Interesse, einen Film machen zu wollen, der sich darauf konzentriert, die Intimität zwischen Menschen zu beobachten. Was ich damit sagen will, ist, dass es in diesem Film eigentlich um nichts anderes geht als darum, wie Menschen in einem Raum oder in einer Szene oder vor der Kamera miteinander umgehen. Letztendlich geht es vielleicht auch um viele andere Dinge. Aber wir wollten die Art von Film machen, mit der wir aufgewachsen sind, einen Film über Menschen im Alltag, mit Drama, intimen Momenten und Spannung.

Womit würden Sie den Film konkret vergleichen?

Ich denke dabei zum Beispiel an Jean Eustache, DIE MUTTER UND DIE HURE. Ich denke an Filme, in denen die Menschen einfach sie selbst sind, in denen sie sich selbst genügen. Ich denke an Cassavetes, weil seine Schauspieler Figuren spielen, aber sie bleiben immer auch ein Stück weit sie selbst. Was die Kamera einfängt, ist ein Film über Tomas und Martin und Agathe. Gleichzeitig ist es aber auch ein Film über Adele und Ben und Franz.

Haben Sie Franz Rogowski gegenüber erwähnt, dass Sie den Film für ihn geschrieben haben?

Nicht gleich. Ich habe den Film für ihn geschrieben, aber das habe ich schon oft gemacht. Manchmal spielt der- oder diejenige später mit und manchmal nicht. Aber darauf kommt es nicht an, denn sie haben mich inspiriert und ich habe etwas geschaffen, das durch sie entstanden ist, auch wenn sie die Rolle am Ende nicht verkörpern. Dass ich ihn beim Schreiben im Kopf hatte, habe ich Franz gegenüber erst bei unserem zweiten Gespräch erwähnt. Ich wollte der Tatsache nicht unnötig Gewicht beimessen.

Es geht in meinen Filmen immer um Männer und Macht, und wie sie mit dieser Macht umgehen

Ihr Film hätte auch in London oder in Berlin spielen können. Warum haben Sie sich für Paris entschieden?

Es stimmt, die Geschichte hätte in der einen oder anderen Form auch an jedem beliebigen Ort spielen können. Irgendwann wurde sogar Berlin als Drehort vorgeschlagen. Leider kenne ich mich aber überhaupt nicht aus in der Stadt, und auch London ist mir in der Hinsicht fremd. Aber ich weiß eine Menge über Paris. Ich habe dort gelebt, als ich in meinen Zwanzigern war. In Paris habe ich meine Leidenschaft für das Kino entdeckt. Ich habe dreieinhalb Monate in der Stadt gewohnt und 197 Filme gesehen. Das hat mein Leben verändert. Seitdem habe ich eine dauerhafte Beziehung zu Paris - nicht zu Frankreich wohlgemerkt, sondern zu Paris und zu den Menschen dort. Ich fühle mich auch heute noch in der Stadt zu Hause.

Auch Ihre früheren Filme sind dem französischen Kino verbunden. Sie erzählen oft kleine Geschichten mit großer Liebe und Geduld für Ihre Figuren. Diesmal gehen jedoch gleich zu Beginn Spiegel zu Bruch, Tomas platzt förmlich ins Bild.

Es geht in meinen Filmen immer um Männer und Macht, und wie sie mit dieser Macht umgehen, beziehungsweise welche Konsequenzen ihr Handeln nach sich zieht. Ich sehe mich selbst in der Figur von Tomas, nicht auf autobiografische Weise, sondern in meiner Lebenserfahrung als die Person, die ich bin. In gewisser Hinsicht ist es eine Studie über den Absturz eines Menschen, aber das bedeutet, dass man von einem erhöhten Maß an Gewalt, psychologischer Gewalt, ausgehen muss. Wir lernen diese drei Menschen kennen, die alle wissen, was sie wollen. Und die Geschichte dreht sich darum, wie sie versuchen, es zu bekommen. Aber es ist ein Schachspiel. Es gibt nicht eine Person, die den Film letztendlich dominiert.

Hatten Sie beim Schreiben des Drehbuchs noch andere Personen im Sinn?

Wie schon Orson Welles sagte, der größte Schauspieler in der Geschichte des Kinos war James Cagney, dem stimme ich zu. Auch Depardieu und Gena Rowlands kamen mir in den Sinn. Über diese drei Schauspieler haben wir bei der Entstehung des Films am meisten diskutiert. Speziell auf Tomas bezogen, wollten wir eine zentrale Figur schaffen, die frei von gewöhnlichen Normen ist und die das Potenzial hat, in jeder Sekunde Schaden anzurichten, wie Cagney eben.

Sexualität und Geschlecht existieren in diesem Film nicht als Identität, sondern als handlungstreibendes Element.

Tomas ist Regisseur, und zwar ein ziemlich narzisstischer. Wollten Sie damit indirekt auch auf die Zeit anspielen, in der wir leben, auf das, was derzeit in der Filmindustrie vor sich geht?

Nein, er ist Regisseur, weil mir diese Lebenssituation vertraut ist. Ich denke, dass ich generell immer eher über Menschen mit kreativen Berufen geschrieben habe, weil ich mich in diesem Bereich besser auskenne. Ich kann auf meine eigenen Erfahrungen zurückgreifen, als Subjekt und als Betrachter. Ich bin Leuten begegnet, die als Versionen von Tomas durchgehen würden. Interessanterweise hat mich sogar meine Mutter gefragt, ob der Film autobiografisch sei, aber nein, das ist er nicht - er ist persönlich, darin liegt ein großer Unterschied.

Wonach sucht er Ihrer Meinung nach?

Er will das, was er nicht haben kann, das treibt ihn an. Und ich kann das insofern nachvollziehen, als dass ich mich vor allem während der Pandemie selbst sehr bemitleidet habe, weil ich kein Leben außerhalb der Parameter hatte, in denen ich quasi eingesperrt war. Und ich kämpfte mit den Grenzen, in denen ich mich bewegen und in denen ich arbeiten konnte. Diesen Zustand empfand ich als sehr schmerzhaft, genau wie jeder andere auch.

Sie arbeiten mit drei der aufregendsten Schauspieler ihrer Generation zusammen. Wie sind Ben Whishaw und Adèle Exarchopoulos mit ins Spiel gekommen?

Jeder Schauspieler oder jede Schauspielerin muss mich individuell begeistern, um sie in einen meiner Filme zu besetzen. Adèle habe ich in SYBIL gesehen, einem Film, der 2019 in Cannes lief. Ich ging aus dem Kino und sagte zu meinem Produzenten: "Wer ist diese Frau?" Denn ich habe BLUE IS THE WARMEST COLOUR nicht gesehen, übrigens bis heute nicht. Aber für mich ist Adèle eine Göttin. Ich glaube, sie hat etwas von Brigitte Bardot, aber vor allem von Jeanne Moreau, weil sie zugleich bescheiden und atemberaubend ist. Und diese Kombination ist wirklich faszinierend. Ben hingegen habe ich in I'M NOT THERE gesehen, dem Bob-Dylan-Film von Todd Haynes, und seine Darstellung dort ist... er ist fast durchsichtig, als würde man das Handwerk nicht sehen. Überhaupt ist das erstaunlich an ihm, er wirkt immer so bescheiden und zart, aber das Niveau seiner Spielkunst und sein Instinkt für die Figuren, die er verkörpert, sind außergewöhnlich.

Worauf achten Sie bei Schauspielern besonders?

Feinheit. Ich suche nach Schauspielern, die so fließend in ihrer Darstellung sind, dass ich nicht wirklich sehen kann, wie sie vom Anfang eines Satzes zum Ende gekommen sind.

Was Ihren Film noch spannend macht, ist die Idee, dass die Sexualität und die Geschlechter Ihrer Figuren fast irrelevant sind.

Sexualität und Geschlecht existieren in diesem Film nicht als Identität, sondern als handlungstreibendes Element. Das ist in gewisser Weise spezifisch für alle drei Figuren. Ihr Auftreten wird durch das Fehlen von Parametern definiert, das Drehbuch sagt nichts darüber aus. Niemand wird durch ein einzelnes Element definiert, denn die Vorstellung einer festen Identität scheint mir heute noch weniger zutreffend zu sein als noch vor 20 Jahren. Trotzdem wirken diese Menschen uns gegenüber sehr vertraut.

Ihre Art des Filmemachens wird oft als eine Fortsetzung des neuen queeren Kinos gesehen. Wie empfinden Sie das?

Das Wort, das mir in den Sinn kommt, ist privilegiert. Ich habe das Gefühl, eine sehr kleine Minderheit von Leuten zu repräsentieren, die in der Lage waren, nicht nur queere Werke, sondern auch queere Inhalte zu produzieren. Und da gibt es einen Unterschied. Ich arbeite nicht mit Metaphern. Ich weiß aber, dass viele queere Filmemacher ihre Gefühle in Metaphern übersetzen müssen, um arbeiten zu können. Es ist ein ewiger Kampf. Man muss immer um seinen Platz kämpfen, wenn man queere Inhalte macht. Die Filmemacher meiner Generation - und damit meine ich unabhängige amerikanische Filmemacher, nicht nur queere Filmemacher - drehen heute Serien fürs Fernsehen, weil es keine nachhaltige Industrie für den persönlichen Film gibt. Und diejenigen, die eine Beziehung zur Spielfilmindustrie aufrechterhalten haben, haben aufgehört, queere Inhalte zu produzieren. Das ist kein Zufall. Am Ende geht es auch in der Hinsicht immer um Macht.

Wie geht es jetzt für Sie weiter?

Ich bin 57 Jahre alt, ich strebe keine neue oder eine andere Karriere an. Ich empfinde es als Privileg, dass ich die Chance hatte, die Filme zu drehen, die ich drehen wollte. Mir wurde nichts geschenkt, aber es war möglich. Und ich werde weiterhin in diesem Rahmen arbeiten, solange ich kann.

Das Gespräch führte Pamela Jahn