Interview
„Festivals sind wie lebende Organismen“
Interview mit dem künstlerischen Leiter der Berlinale Carlo Chatrian
Letzte Klappe für Carlo Chatrian, 52, bei der 74. Berlinale (15.-25.2.) Seit Juni 2019 war der Italiener künstlerischer Leiter des weltweit größten Publikumsfestivals. An seiner Seite verantwortete Mariëtte Rissenbeek als Geschäftsführerin die Finanzen und Organisation. Während Rissenbeek aus eigenen Stücken ihren Vertrag nicht weiter verlängern wollte, erfolgte der Abgang von Chatrian nicht ganz so freiwillig - ähnlich erging es einst den Vorgängern Dieter Kosslick und Moritz de Hadeln. Gut 200 Filmschaffende, darunter Martin Scorsese, haben gegen die Absetzung des Berlinale-Leiters protestiert. Kulturstaatsministerin Claudia Roth beeindruckte das kaum. Mit einer Findungskommission wurde die US-Amerikanerin Tricia Tuttle, 53, als künftig alleinige Chefin des Festivals gekürt. Mit Carlo Chatrian sprach Dieter Oßwald.
INDIEKINO: Signor Chatrian, wenn Ihre Berlinale-Zeit verfilmt werden würde, welches Genre wäre das passende?
Carlo Chatrian: Für mich beginnt mein fünftes Berlinale-Jahr und diese Zeit bot eine großartige Achterbahnfahrt. Durch die Pandemie standen wir vor Herausforderungen, mit denen niemand rechnen konnte. Gleichzeitig gab es viele Momente von starken Gefühlen, sowohl ganz persönlich als auch allgemein. Das passende Genre wäre also eine bunte Mischung. Nicht nur Komödie oder Drama, sondern auch ein bisschen Action und Suspense. Das Leben ist schließlich reichhaltiger als ein Film.
Mit welchen Gefühlen sehen Sie Ihrer letzten Berlinale entgegen?
Auch wenn dies meine letzte Berlinale sein wird, konzentriere ich mich wie immer ganz darauf, das bestmögliche Programm zusammen zu stellen. Insofern sind meine Gefühle nicht anders als sonst. Ich freue mich, wenn ein Wunschfilm bestätigt wird. Ich bin glücklich, wenn sich eine Entdeckung findet, mit der ich gar nicht gerechnet hatte. Umgekehrt bin ich traurig, wenn ein erwarteter Film nicht rechtzeitig fertig wird oder sich Starttermine verschieben.
Wie fällt Ihre persönliche Berlinale-Bilanz aus?
Ich bin stolz darauf, was wir als Team in diesen vier Festival-Ausgaben erreicht haben. Wir hatten uns einige Ziele vorgenommen und diese Ziele haben wir erreicht. Deswegen kann ich mit gutem Gewissen meine letzte Berlinale absolvieren.
Werden Sie das Publikum zum Abschied mit einem Berlinale-Paukenschlag überraschen. Oder wird es business like usual?
Wir überraschen das Publikum immer gerne. Ich hoffe, dass diese Berlinale ein Paukenschlag wird. Diese Hoffnung gab es jedes Jahr. Aber ich muss mir nichts bewiesen.
In einer historisch einmaligen Aktion haben 200 Filmschaffende, darunter Martin Scorsese, gegen die Absetzung des Berlinale-Leiters protestiert. Wie haben Sie diese Aktion erlebt?
Ich wurde nicht abgesetzt, sondern ich hatte einen 5-Jahres-Vertrag, den ich respektiere. Deswegen werde ich über eine Verlängerung nicht diskutieren. Ich habe nicht das Gefühl, als hätte ich meinen Job verloren. Es gab eine Reise, gemeinsam mit meiner Ko-Geschäftsführerin Mariette Rissenbeek und unserem Team. Ich dachte, diese Reise könnte länger dauern. Nun ist zu Ende, was von Anfang an eine Option gewesen ist. Gleichwohl war ich überwältigt von dieser Aktion der Solidarität. Das waren Filmemacher aus der ganzen Welt, was für mich ein schönes Zeichen des Dankes ist, weil wir diesen internationalen Filmschaffenden eine Bühne geboten haben.
Bei Ihren Vorgängern Moritz de Hadeln und Dieter Kosslick knirschte es beim Abgang gleichfalls heftig. Warum hat die Berlinale dieses Wertschätzungsproblem mit seinen Direktoren?
Ich hoffe, dass es eine Wertschätzung für mich gibt. Ich habe nach wie vor ein gutes Verhältnis zum Ministerium. Dort hat man das Recht zu Veränderungen. Umgekehrt habe ich das Recht, mit den geplanten neuen Strukturen nicht überein zu stimmen. In diesem Rahmen sah ich für mich keine Möglichkeiten.
Es ist wie bei einem guten Rezept: Mit einer Zutat allein wird man nicht weit kommen.
Vielleicht wäre Künstliche Intelligenz der ideale Festival-Verantwortliche…
Bei dieser Frage fühle ich mich gleich wie ein sehr alter Mann! (Lacht) Streaming-Anbieter nutzen Algorithmen, um den Geschmack des Publikums zu ermitteln. Festivals sind erfolgreich, weil sie nach einem anderen Modell funktionieren. Da gibt es jemanden wie mich, der als Leiter verantwortlich für die Auswahl ist. Und der auch Fehler machen kann. Wer sich Fehler erlaubt, der kann auch gute Entscheidungen treffen. KI wird sich den Menschen immer mehr annähern, aber es wird immer einen Unterschied geben. Und dieser Unterschied liegt genau im Fehler-Potenzial.
Welche Trends bei Filmen haben Sie bei der Vorauswahl für das kommende Programm erkennen können?
Rote Linien und Trends auszumachen, überlassen wir den Medien. Das Programm wird diverser als in den Vorjahren ausfallen. Ich bin froh, dass Afrika zurück im Wettbewerb ist. Daran haben wir in den letzten Jahren hart gearbeitet, nun können wir die Ergebnisse zeigen. Wie immer werden unsere Filme ein Spiegel der Gesellschaft und Politik samt ihrer Krisen sein. Wobei Kino nicht so schnell wie Journalismus funktioniert, die Geschehnisse des letzten Oktobers zu thematisieren, wäre noch zu früh.
Die großen Festivals wirken bei Neuerungen oft schwerfällig wie Tanker. Exklusivität gilt als die heilige Kuh, Online-Angebote sind bei kleineren Festivals längst Standard. Müsste man sich da nicht stärker neu erfinden?
Die Schönheit von Festivals liegt darin, dass sie wie lebende Organismen sind. Und wie diese sind sie einzigartig. Was für das eine Filmfest gut sein mag, ist für das andere nicht geeignet. Für die Berlinale haben wir uns bewusst gegen ein Online-Angebot entschieden, weil das Publikum in dieser vibrierenden Stadt so einzigartig ist. Zuhause im Wohnzimmer wird man dieses Berlinale-Erlebnis nicht haben können. Aber wie jeder Organismus werden sich auch Festivals verändern.
Was benötigt ein Film, damit er für Sie zum Berlinale-Kandidaten wird?
Es ist wie bei einem guten Rezept: Mit einer Zutat allein wird man nicht weit kommen. Selbst die einfachste Pasta braucht neben den Nudeln noch Knoblauch und gutes Olivenöl. Stark ist ein Film dann, wenn wir ihn als einzigartig wahrnehmen. Der Inhalt ist dabei gar nicht wichtig, entscheidend ist es, dass diese Geschichte nur auf diese außergewöhnliche Weise so erzählt werden kann.
Was war das Schönste während Ihrer Berlinale-Zeit?
Es gab sehr viel schöne Momente. Besonders die Auszeichnung von Steven Spielberg mit Bono als Laudator. Jetzt kann ich es ja zugeben: U2 war für mich als Teenager meine erste Lieblingsband. Und Spielberg beeindruckte mich noch viel früher mit seinen Filmen. Diese beiden Künstler auf der Bühne vereint zu sehen, war einer meiner Höhepunkte. Gleichzeitig haben mir auch oft die kleinen Filme große Gefühle vermittelt.
Für Zukunftspläne ist es noch zu früh
Nach dem Festival ist vor dem Festival. Wie geht es weiter mit Ihrer Karriere?
Für Zukunftspläne ist es noch zu früh. Ich bin vollauf beschäftigt mit der Vorbereitung der Berlinale. Ich hoffe, ich bleibe dem Kino erhalten. Sei es mit einem Festival. Mit einer Institution. Oder einem Unternehmen. Aktuell weiß ich es wirklich nicht. Das Schöne an der Zukunft ist doch, dass sie offen ist.
Welchen Rat würden Sie Ihrer Nachfolgerin Tricia Tuttle auf den Berlinale-Weg mitgeben?
Es ist nicht meine Aufgabe, Ratschläge an meine Nachfolgerin zu erteilen. Ich bin sicher, sie wird ihren eigenen Weg finden.
Um nochmals auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Wenn Ihre Berlinale-Zeit verfilmt werden würde, welchen Titel von Wenders wäre der passende für Sie? IN WEITER FERNE SO NAH?, DIE HIMMEL ÜBER BERLIN, DON’T COME KNOCKING oder PERFECT DAYS?
Vermutlich PERFECT DAYS - wobei ich hoffe, nicht wie der dortige Held künftig als Toilettenreiniger zu enden…
Das Gespräch führte Dieter Oßwald
Dieter Oßwald