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Interview

"„Es könnte sein, dass wir in einem Universum leben, dem wir komplett egal sind.“

Interview mit Timm Kröger über DIE THEORIE VON ALLEM

Nach seinem Abitur arbeitete Timm Kröger (*1985, Itzehoe) zunächst als Fotograf in einem Wanderzirkus, bevor er am European Film College (DK) und an der Filmakademie Baden-Württemberg zunächst Kamera und später Dokumentarfilm-Regie studierte. Als Abschlussfilm drehte er 2014 den Spielfilm ZERRUMPELT HERZ, der von drei Freunden erzählt, die in den 1920er Jahren, mitten in einem mythischen Wald, auf den romantischen Komponisten Otto Schiffmann warten. Der Film wurde auf die „Woche der Kritik“ beim Filmfestival Venedig eingeladen, fand aber keinen deutschen Verleih. DIE THEORIE VON ALLEM, der in diesem Jahr im Wettbewerb des Festivals lief, ist der erste Film Krögers, der in Deutschland ins Kino kommt. Patrick Heidmann hat sich auf dem Festival mit Timm Kröger über DIE THEORIE VON ALLEM unterhalten.

INDIEKINO: Herr Kröger, Glückwunsch zur Weltpremiere Ihres neuen Films DIE THEORIE VON ALLEM, die zum Zeitpunkt unseres Gesprächs hier in Venedig noch keine 24 Stunden her ist!

Timm Kröger: Danke. Es ist wirklich eine Riesenehre, hier zu sein. Ich glaube, der Film wird hier vielleicht sogar noch besser verstanden und präsentiert als es irgendwo sonst möglich gewesen wäre. Deswegen haben wir dem Festival den Film auch schon sehr früh gezeigt. Noch bevor er eigentlich fertig war. Ich wollte mit DIE THEORIE VON ALLEM unbedingt nach Venedig.

Auch weil damals Ihr erster Langfilm ZERRUMPELT HERZ hier schon Premiere hatte, in der Settimana Internazionale della Critica?

Das war natürlich auch ein Faktor. Ich mag einfach diesen Ort. Bei allem Disneyland-artigen, das Venedig hat, hat der Ort auch Substanz. Das trifft auch auf das Festival zu, weil hier Filme gesehen und besprochen und verstanden werden. Da geht es nicht nur um den Markt und Kino als Business, sondern auch darum, wovon die Filme sprechen, und vor allem, wie sie mit uns sprechen. Davon kann ein Film wie DIE THEORIE VON ALLEM enorm profitieren.

Ist eine derart große Premiere dann aber nur ein Grund zur Freude? Für manchen Film kann eine Wettbewerbsteilnahme bei einem solchen Festival auch zu viel sein …

Zunächst einmal war und ist das sehr überwältigend. Aber ich habe bislang praktisch noch keine Kritik gelesen und bin sehr gespannt darauf, wie die Menschen diesen Film empfinden werden. Er kann dem Publikum nämlich einiges abverlangen, gerade weil er sozusagen das Versprechen eines Unterhaltungsfilms aufmacht - eines Geheimnisses, dem wir auf den Grund gehen wollen - aber uns stattdessen etwas Neues zeigt. Vielleicht ist es auch ein Film, den man öfter sehen muss, um ihn zu decodieren und um die Hinweise, die es in ihm gibt, wirklich aufnehmen zu können. Ich wollte einen Film machen, der Fragen aufwirft, denn im Film Noir geht es fundamental um Verschwörung, um etwas Größeres, was den Protagonisten umgibt, was er oder sie nicht versteht – und zunächst unmöglich verstehen kann.

Vom Gefühl her: Hitchcock trifft Lynch

Im Vorfeld haben Sie auch gesagt, dass Sie mit DIE THEORIE VON ALLEM einen Film drehen wollen, der sich anfühlt wie ein Traum. Was genau meinten Sie damit?

Timm Kröger: Alle Filme, die ich gut finde – ob nun ein Unterhaltungsfilm oder einer von David Lynch – fühlen sich für mich an wie Träume. Auch auf einen guten STAR WARS-Film trifft das zu. Sie folgen einer fundamentalen emotionalen Logik, die nicht unbedingt stringent ist, aber wirkmächtig. Sie kann uns bewegt, mitgerissen, aber auch ratlos und vielleicht auch erschüttert hinterlassen. Aber das ist für mich Kino. Das ist das, was Film ausmacht. Es ist wie Hitchcock sagt: just like life, but with the boring parts cut out.

Gegenüber Träumen haben Filme den Vorteil, dass man sie mehrmals gucken kann…

Das stimmt, aber trotzdem scheinen sie sich zu verändern. Und was ich besonders mag – und ich glaube, das trifft nun auch auf unseren Film zu – ist, dass er in jedem Zuschauerkopf ein wenig anders sein kann. Dass sich da vielleicht auch Theorien bilden zu dem, was da vor sich geht, an die ich noch nie gedacht habe. Das möchte ich auch zulassen; genau daran bin ich interessiert.

Ihr Debüt ZERRUMPELT HERZ ist mittlerweile neun Jahre her und hat es in Deutschland nie ins Kino geschafft. Hat es auch deswegen mit dem Nachfolger so lange gedauert?

Wir haben uns auf jeden Fall bewusst relativ viel Zeit genommen, um am Drehbuch von DIE THEORIE VON ALLEM zu arbeiten. Die erste Idee war zwar in wenigen Sekunden da, aber dann haben wir einige Jahre daran gefeilt. Außerdem war mir damals nach besagtem erstem Film, meinem Abschlussfilm, nicht ganz klar, wie man die Produktionsstruktur aufbauen kann für einen historischen Film, der ja doch nicht ganz billig sein kann, wenn man ihn auch nur halbwegs opulent ausgestattet umsetzen möchte. Am Ende haben wir eine tolle Lösung gefunden, mit Mitteln aus Deutschland, Österreich und der Schweiz und Unterstützung von Förderungen und Sendern, die ich mir noch vor wenigen Jahren nicht erträumt hätte. Aber wir haben uns eben auch die Zeit genommen, das Projekt so vorzubereiten, dass vorab jedem klar war, wie sich dieser Film anfühlen wird, und wir dann auch wirklich startklar waren – unter anderem haben wir mehrere Jahre damit verbracht, unsere Locations zu finden – der Film ist mit ganz wenigen Ausnahmen nur in echten Locations entstanden. Und ich glaube, man sieht es dem Film nun auch an, wie viel Zeit und Gedanken und Liebe da drinstecken.

Die Idee für den Film, sagten Sie gerade, war in wenigen Sekunden da. Für den kompletten Film?

Nicht auf der Handlungsebene – die Handlung hat zu größten Teilen mein Drehbuchautor Roderick Warich, der selbst Filmemacher ist, in jahrelanger Zusammenarbeit entwickelt, erfunden und gefunden. Aber es gab auf Anhieb das Schwarzweiß, den Titel, das Berghotel als Setting, unter dem ein merkwürdiges Geheimnis liegt, eine Ahnung der Figuren - und skifahrende Physiker. Von Anfang an war klar, dass diese merkwürdige Bergidylle auf etwas Dunkles trifft. Vom Gefühl her: Hitchcock trifft Lynch. Gleichzeitig ist der Film aber auch nicht nur eine Sammlung von Referenzen, nicht nur Zitate-Spiel. Viel mehr wollten wir rühren in einer gewissen Kino-Vertrautheit und dabei Dinge heraufbeschwören, die wir alle vielleicht so halb erinnern - und dann mit diesem falschen Gefühl der Vertrautheit etwas Neues machen.

"Es wäre die Aufgabe des Kinos, uns eine neue, legitime Utopie zu zeigen.

Ich muss trotzdem nochmal nachhaken: Woher kam diese erste, ja schon sehr spezifische Idee? Wie kommt man auf die skifahrenden Physiker in den sechziger Jahren?

Ich bin vielleicht jemand, der gerne im Kopf in die Vergangenheit reist, um die Gegenwart zu begreifen. Mein erster Film spielte 1929, da ging es um spätromantische Musik in einem sehr deutschen Wald, und von dort tingele ich mich jetzt langsam Richtung Moderne durch. Der nächste Film soll 1997 spielen. Die Idee, drei Filme über das 20. Jahrhundert und gewisse unverdaute Phänomene zu machen, gab es also früh. Und bei DIE THEORIE VON ALLEM fühlte es sich einfach richtig an, das Genre des Film Noir mit gewissen Topoi der Quantenphysik zu verbinden.

Warum gerade die Quantenphysik?

Früher wollte ich mal Mathematik studieren, aber ich habe diesen Teil meines Gehirns an der Filmschule verloren, oder abgegeben, an die „Muse der Inspiration“, wenn man denn so will. Denn um Filme zu machen, braucht man ja nicht nur ein rationales Gehirn, sondern auch das Gegenteil davon, was auch immer das konkret ist; eine Art Intuition. So wie ich diesem Gefühl gefolgt bin, dass es dieser Film ist, den ich machen muss. Aber ich glaube, dass fast jeder denkende Mensch von metaphysischen Fragen herausgefordert wird, seien es Mathematiker oder eben Filmemacher. Schließlich handelt jeder Film inhärent von der Frage des Schicksals und macht implizit die Illusion auf, dass er nur ein einziges, wahres Ende haben kann und die eine, wahre Geschichte erzählt. Aber was ist, wenn es nicht nur die eine wahre Geschichte gibt? Das ist eine der größeren Fragen dahinter, die uns alle betrifft, die wir aber unmöglich beantworten können. Sind die Entscheidungen, die wir treffen, die richtigen? Ist das, was uns passiert ist, richtig und gut gewesen? Ergibt unser Leben einen Sinn? Wir neigen dazu, uns das retroaktiv einzureden, aber in Wahrheit, wenn wir nur kurz ehrlich mit uns selbst sind, wissen wir es nicht, können wir es nicht wissen. Es könnte sein, dass wir in einem Universum leben, dem wir komplett egal sind. Und genau von dieser Paranoia handelt nun dieser Film.

DIE THEORIE VON ALLEM spielt auch mit der Idee des Multiversums, was im Kino ja dieser Tage keine Seltenheit ist. Wie erklären Sie sich die gegenwärtige Popularität parallel existierender Realitäten?

Ich habe da mehrere Theorien. Ganz kurz gesagt glaube ich, dass zumindest meine Generation in der westlichen Welt – sicherlich durch Corona, aber schon zuvor durch die immer größer werdende Arm-Reich-Schere und weniger Kaufkraft eine Art transzendentale Hoffnung verloren hat. Und sie hat konkret an Handlungsfähigkeit eingebüßt. Wenn man bestimmte Bevölkerungssegmente betrachtet, kann sich das Gefühl einstellen, dass sich die Leute mehr und mehr zuhause einsperren, konsumieren - „Shopping from Jail“ hat das Douglas Coupland mal genannt - und schwelgen in virtuellen Welten. In Computerspielen ist fast alles möglich, da können wir fast jedes erdenkliche Leben ausleben, während wir uns in der Realität kein Auto leisten und nicht überall hinfahren können, wo wir möchten. Es klingt noch vielleicht weit hergeholt, aber in wenigen Jahrzehnten könnte die Idee des weltweiten Individualverkehrs zu einem unerreichbaren Luxus, zu einem Anachronismus werden. Das ist eine basale Erfahrung, die gerade manche machen, wenn sie sich mit ihren verhältnismäßig reichen Boomer-Eltern vergleichen – dieser langsame Abschied von früheren Möglichkeiten. Natürlich geht es uns immer noch sehr, sehr gut. Aber es gibt ein gewisses Gefühl der Machtlosigkeit, das mit einem Mangel an Utopie zu tun hat. Und dieser Mangel an Utopie wurde auch durchs Kino mitausgelöst.

Ach ja?

Vielleicht sagen wir besser: Es wäre die Aufgabe des Kinos, uns eine neue, legitime Utopie zu zeigen. Utopien sind nicht nur etwas Politisches, also der schwierige, harte Denkanteil daran. Sondern sie sind auch etwas Spirituelles. Kino hatte früher die Fähigkeit, uns mit Hoffnung in die Zukunft, mit einem neuen Blick und einem neuen Gefühl zu entlassen. Was es heute gibt, sind mehr oder weniger 300 Milliarden Ideen, wie die Welt enden kann. Aber nicht, wie sie weitergeht oder wie man eine neue Welt wirklich aufbauen könnte. Wir stehen an einem Scheideweg. Wir fürchten uns zu Recht vor der KI, weil selbst die Menschen, die von ihrer Funktionsweise keine Ahnung haben, spüren, dass sie das Potenzial hat, alles zu verändern. Vielleicht gibt es Menschen, wie wir sie kennen, in 100 Jahren nicht mehr. Oder zumindest menschliche Kunst nicht mehr. Der Klimawandel ist außerdem eine ganz reale Apokalypse, die manche sogar unbewusst herbeisehnen, weil das Versprechen der Apokalypse ja ist, dass danach – wenn endlich alles zerstört ist - der Wiederaufbau im Lichte einer neuen Utopie beginnt. Jedenfalls leben wir in ungewissen Zeiten, und eigentlich wäre es unter anderem die Aufgabe des Kinos – natürlich flankiert von den viel gewaltigeren Medien wie etwa Computerspielen – diesen Zeitgeist mitzuprägen und eine konstruktive Hoffnung aufzuzeigen. Aber wie das so ist mit den Utopien: man muss warten, bis sie erscheinen.

Das Gespräch führte Patrick Heidmann

Patrick Heidmann