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Interview

„Es ging mir nicht darum, ihr in irgendeiner Form nahe zu kommen.“

Interview mit Sandra Hüller über THE ZONE OF INTEREST

Bereits mit ihrem ersten Spielfilm REQUIEM (2006) von Hans-Christian Schmid war klar, dass Sandra Hüller zu den interessantesten deutschen Schauspielerinnen gehört. Sie spielte die Hauptrolle der Studentin aus religiösem Elternhaus Michaela Klingler, die glaubt, vom Teufel besessen zu sein, mit unglaublicher Intensität. Danach war Hüller unter anderem in MADONNEN (2007) von Maria Speth, FINSTERWORLD (2013) von Frauke Finsterwalder und Christian Kracht und AMOUR FOU (2014) von Jessica Hausner zu sehen. Als Ines Conradi in Maren Ades TONI ERDMANN (2016) wurde sie auch international zum Star. 2023 liefen gleich zwei Filme mit ihr in der Hauptrolle im Wettbewerb von Cannes: Der Gewinner der goldenen Palme ANATOMIE EINES FALLS von Justine Triet, und Jonathan Glazers THE ZONE OF INTEREST. Pamela Jahn hat sich mit Sandra Hüller über ihre Rolle als Hedwig Höß in THE ZONE OF INTEREST unterhalten.

INDIEKINO: Frau Hüller, wie schafft man es, eine Frau wie Hedwig Höß zu spielen, ohne ständig einen Kloß im Hals zu haben?
Sandra Hüller: Man muss es vielleicht anders formulieren, denn ich habe wirklich nicht den Eindruck gehabt, dass ich hier eine bestimmte Person oder eine Rolle spiele, sondern ich war Teil eines Projekts. Ich habe der Vision des Regisseurs Jonathan Glazer gedient - was ein bisschen gefährlich klingt, wenn man es so formuliert, denn das ist im Film ja sozusagen auch die Einstellung der Figuren gegenüber dem System. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich eine Figur erschaffe.

Was dann?
Ich würde zwei Dinge ganz klar unterscheiden: Einerseits meine Erfahrung, als Schauspielerin in diesem Team zu arbeiten, mit dieser Art von Kameratechnik und unter Jonathans Regie, und andererseits meine Erfahrung als Mensch, speziell als deutscher Mensch an diesem Ort, in Ausschwitz. Das sind für mich zwei völlig verschiedene Perspektiven, weil die Art der Wahrnehmung, zu der ich als Privatperson in der Lage bin, nicht dieselbe ist, zu der Frau Höß in der Lage war.

Wie genau würden Sie die Sichtweise von Hedwig Höß beschreiben?
Ich glaube, dass sie ziemlich wenig bemerkt hat. Das ging sie alles gar nichts an. Sie dachte, sie ist im Recht, und damit war die Sache erledigt. Deswegen habe ich gar nicht erst versucht, nach etwas zu graben oder ihre Beweggründe zu verstehen, biografische Details aufzuspüren oder sonst irgendwas. Es ging mir nicht darum, ihr in irgendeiner Form nahe zu kommen. Es war tatsächlich eher eine physische Arbeit, eine Frage von Präsenz, und was das mit mir persönlich macht.

Man muss eine Figur also gar nicht verstehen, um sie spielen zu können?
Nein. Aber das war mir vorher selbst nicht bewusst, und ich glaube, es geht nur in dieser Konstellation. Sobald ich möchte, dass das Publikum jemanden versteht, muss ich das auch tun. Denn dann geht es mir darum, die Figur zu beschützen. Nur das ist hier eben nicht der Fall. Ich fand immer, dass sie, Hedwig Höß, das überhaupt nicht verdient hat. Deswegen: Es geht auch ohne. Eine erschreckende Feststellung, auch für mich.

War die Pragmatik, die Ihre Figur an den Tag legt, etwas, worüber Sie sie zumindest ansatzweise greifen konnten?
Auch hier ist „greifen“ eigentlich nicht das passende Wort. Jonathan hat immer gesagt: „Wenn man nachdenken will, muss man innehalten.“ Doch das tut sie nicht. Sie macht keine Pause, die ihr die Möglichkeit geben würde, auch mal zu reflektieren, was da passiert. Sie ist immer in Aktion, sei es im Garten oder mit den Kindern oder beim Verteilen von Unterwäsche von getöteten Menschen. Aber ich weiß, was Sie meinen. Und vielleicht ist diese blinde Geschäftigkeit eher kein Charakterzug in dem Sinne, sondern eine ganz praktische Handlungsanweisung der Regie.

Ich bin grundsätzlich ein demütiger Mensch

Wie hat Sie Jonathan Glazer insgesamt an das Projekt herangeführt?
Eben nicht über die Figur, sondern über seinen Ansatz. Alles drehte sich um die Frage, wie man so leben kann, in diesem scheinbaren Paradies, mit der Hölle nebenan, die man selbst geschaffen hat. Wie kann man das die ganze Zeit verdrängen und negieren. Und was hat das mit uns heute zu tun. Der Film ist auf eine Art und Weise modern, die dazu führt, dass uns die Geschichte berührt, ohne dass sie historisch wirkt oder die Figuren eine Monstrosität haben, die es uns erlauben würde, sie von uns weghalten zu könnten. Nein, es sind ganz gewöhnliche Leute, die alltägliche und banale Dinge tun. Das Drama spielt sich woanders ab. Für Jonathan war es wichtig, dass die Erzählung so flach wie möglich verläuft.

Der britische Regisseur ist selbst ein sehr privater Mensch, der selten in der Öffentlichkeit über seine Arbeit spricht. Wie haben Sie Ihn bei den Dreharbeiten kennengelernt?
Er ist klug, mutig und ein großer Visionär, der jede Art von Kunst schaffen könnte, nicht nur Film. Mich hat vor allem die Ernsthaftigkeit fasziniert, mit der er arbeitet, die Zärtlichkeit, mit der er den Menschen um sich herum begegnet, der Respekt, der jederzeit zu spüren ist. Das war schon außergewöhnlich für mich als Schauspielerin.

Wie viel hat er Ihnen im Detail über die Art der Inszenierung verraten?
Durch die Gespräche mit Jonathan war mir schnell klar, in welche Fallen der Film nicht tappen würde. Etwa, dass es kein herkömmliches Nazi-Drama werden sollte, das darauf ausgelegt ist, die Geschichte zu emotionalisieren und zu fetischisieren. Ich hatte eher den Eindruck, dass es ihm in erster Linie darum ging, beim Publikum ein Gefühl der Unsicherheit zu erzeugen, eine Art Unwohlsein, aber nicht so sehr, dass man das Kino verlassen möchte, weil man sich angegriffen fühlt. Der Film passiert auf einer Ebene, die ganz schwer zu fassen ist, eben weil er so unspektakulär daherkommt. Und weil die Musik von Mica Levi in Stellen in unserem Körper und Geist vordringt, wo das Bewusstsein gar nicht mehr hinkommt.

Wie haben Sie persönlich die Dreharbeiten in Auschwitz empfunden?
Der Ort hat von uns als Menschen einen enormen Respekt verlangt, eine Demut, die ich sonst nirgends auf der Welt jemals so verspürt habe. Und ich bin grundsätzlich ein demütiger Mensch. Aber das war schon speziell, die Art von Ernsthaftigkeit, die ich da empfunden habe. Das war auch durch nichts zu verändern. Und selbst wenn ich auch nur im Ansatz gedacht hätte, das ist jetzt alles ganz schön viel, wäre das Gefühl sofort wieder weg gewesen, weil es sozusagen überhaupt nicht in Relation stand mit dem, was damals dort geschehen ist.

Die Figur hat mir gezeigt, wie sehr ich als Mensch, ohne es zu wollen, schon zur Kapitalistin geworden bin.

Hat sich Ihr Blick auf die deutsche NS-Vergangenheit durch die Arbeit an THE ZONE OF INTEREST verändert?
Nein. Ich weiß nicht, ob ich persönlich noch einmal in eine Gedenkstätte gefahren wäre. Wir haben in der Schule mehrfach das ehemalige Konzentrationslager Buchenwald besucht, was für mich als Jugendliche sehr eindrücklich war. Aber die Zeit in Auschwitz während der Dreharbeiten kann man damit nicht vergleichen. Ich bin unglaublich dankbar dafür, wie gut wir dort behandelt wurden. Ich hätte erwartet, dass man uns Deutschen gegenüber auch heute immer noch viel mehr Kälte entgegenbringt. Stattdessen hat überhaupt niemand unsere Anwesenheit dort in Frage gestellt.

Ich möchte noch einmal auf Ihr Spiel oder Nicht-Spiel zurückkommen. Was hat diese Rolle, Hedwig Höß, trotz aller Bedenken, die Sie vielleicht im Vorfeld hatten, am Ende in Ihnen ausgelöst?
Mich hat vor allem die Leere erstaunt. Dass es an dieser Figur wirklich gar nichts gab, woran man sich erinnerlich festhalten konnte. Dass es nur ums Funktionieren ging und um eine bestimmte Form von Automatismus, die dazu führt, dass ihr letztlich selbst die Familie egal ist. Es geht immer um das Bild, das man erzeugt, um das Außen, die heile Welt. Ich glaube, selbst wenn eins von ihren fünf Kindern aus irgendeinem Grund weg gewesen wäre, hätte sie das nicht so sehr getroffen wie andere Mütter. Oder der Garten. Auch wenn sie die Blumen vielleicht sogar schön findet, würde sie sich niemals wirklich darüber freuen. Für sie ist das Haus und das Leben, das sie führt, eine Errungenschaft. Es ist ihr Eigentum, etwas, was sie abhebt vom Rest der Bevölkerung. Nichts von wegen Paradies oder so, sondern es geht nur um Status, um Macht, um Ansehen. Und das zu merken, war schon interessant.

Sie haben über die junge Unternehmensberaterin Ines Conradi, die Sie in TONY ERDMANN spielen, auch einmal gesagt, dass Sie die Figur zunächst einige Überwindung gekostet hat. Warum?
Ines Conradi ist eine grundkapitalistische Person. Das war etwas, was mir bis zu dem Zeitpunkt komplett fremd war. Ich habe mich viele Jahre darüber definiert, mit einer Weltsicht aufgewachsen zu sein, die das kapitalistische System hinterfragt. Plötzlich hatte ich die Möglichkeit, eine Person zu spielen, die zu hundert Prozent dahintersteht. Nur hat mich dieses Umfeld, in dem Ines lebt, eigentlich nie besonders interessiert.

Trotzdem haben Sie die Rolle angenommen.
Weil ich das Gefühl hatte, dass ich durch sie auch etwas über mich selbst erfahren könnte. Die Figur hat mir gezeigt, wie sehr ich als Mensch, ohne es zu wollen, schon zur Kapitalistin geworden bin. Wie viele Dinge es in meinem Leben gibt, auf die ich mich verlasse, die aber nur im Kapitalismus möglich sind.

Entstehen Ihre intensivsten Arbeiten immer aus einem inneren Widerstand heraus, wenn Sie eine Figur haben, die sich Ihnen entgegenstellt?
Ja, das war auch schon bei REQUIEM und bei MADONNEN so. Andererseits gibt es auch Arbeiten, die ich einfach unglaublich gerne machen wollte, wie jetzt gerade bei Justine Triets ANATOMIE EINES FALLS. Ich habe keine Sekunde gezögert, das Engagement anzunehmen. Aber wenn ich keine Herausforderung in der Figur finde, dann ist es schwierig. Dann muss ich es nicht machen. Ich langweile mich auch einfach sehr schnell.

Gibt es bestimmten Figuren oder Themen, die Sie bisher kategorisch abgelehnt haben?
Es kommt immer auf die Perspektive an, aus der man erzählt. Deshalb will ich mich da gar nicht festlegen. Es ist nichts ausgeschlossen, ich bin für alles offen.

Das Gespräch führte Pamela Jahn.

Pamela Jahn