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Interview

"Eine so krasse Aktualität habe ich nicht vorhergesehen."

Interview mit Georgia Oakley über BLUE JEAN

Zehn Jahre lang drehte Georgia Oakley, die 1988 in Oxfordshire geboren wurde, erst einmal verschiedene Kurzfilme, bevor 2022 beim Filmfestival Venedig ihr erster langer Spielfilm BLUE JEAN Weltpremiere feierte. Anschließend wurde das Drama, zu dem sie auch selbst das Drehbuch schrieb, unter anderem mit vier British Independent Film Awards ausgezeichnet und für den BAFTA nominiert. Patrick Heidmann hat sich für INDIEKINO mit Georgia Oakley über BLUE JEAN unterhalten.

INDIEKINO: Ms. Oakley, Ihr Debütfilm BLUE JEAN handelt von einer lesbischen Sportlehrerin in Newcastle im Jahr 1988. Kein zufällig gewählter Zeitpunkt, nicht wahr?

In der Tat nicht. 1988 war das Jahr, in dem in Großbritannien die Section 28 genannte Gesetzeserweiterung in Kraft trat, die im Kern meiner Geschichte steht. Sie wurde im Mai verabschiedet und verbot, wie es hieß, die Förderung von Homosexualität durch lokale Behörden. In den Medien wurde damals wild darüber debattiert, es ging um Schul- und andere Bücher, um Flugblätter und natürlich auch um schwule und lesbische Lehrer*innen. Meine Recherche und vor allem Gespräche mit Frauen, die das damals miterlebt haben, zeichneten eine Phase echter Massenhysterie und Paranoia, was dieses Thema angeht. Ich wollte davon erzählen, wie sich die Situation angefühlt haben muss für jemanden, der durch diesen Paragrafen ganz unmittelbar seine Existenz und persönliche Freiheit gefährdet sah.

Vor 20 Jahren wurde diese Gesetzgebung wieder abgeschafft. Hat man sich seither eigentlich ausreichend damit auseinandergesetzt, welche Folgen Section 28 hatte?

Eigentlich nicht. Section 28 ist heute eher ein dunkles Geheimnis, über das schamvoll geschwiegen wird. Ich habe meinen Abschluss 2006 gemacht, sprich: Von den letzten drei Jahren abgesehen war sie während meiner Schulzeit immer in Kraft. Trotzdem wusste ich nichts davon und stolperte erst viele Jahre später über einen Artikel, in dem ich zum ersten Mal von dieser Gesetzeserweiterung las. Bis heute gibt es sicherlich viele Menschen, die noch nie davon gehört haben, und es ist auch nicht so, dass da retrospektiv viel aufgerollt wurde, auch wenn es 2009 zumindest eine öffentliche Entschuldigung des damaligen Premierministers gab. Aber früher war Section 28 für Aktivist*innen natürlich ein riesiges Thema.

Zur Zeit der Einführung, meinen Sie?

Aus der Community heraus gab es 1988 viele Demonstrationen. Und als die Labour-Regierung 2003 dann die Abschaffung vorantrieb, gab es einen Backlash und Protestmärsche der Gegenseite. So oder so erinnern sich viele von der Regelung damals Betroffenen heute eher daran, wie sehr der Widerstand sie alle zusammengeschweißt und ihren Aktivismus befeuert hat. Aber für den Film wollte ich mich nicht auf diese Perspektive auf Section 28 konzentrieren, sondern im Gegenteil von jemandem erzählen, der eigentlich nur unbehelligt ein unauffälliges Leben weiterführen möchte und plötzlich um den Job fürchten muss.

Ich verstehe den Wunsch nach positive LGBTQ-Geschichten und habe nichts gegen romantische Komödien mit Happy End..

Haben Sie BLUE JEAN eine reale Biografie zugrunde gelegt?

Erst einmal diente mir ein Artikel als Ausgangslage, für den 15 verschiedene queere Frauen zu ihren Erfahrungen in jener Zeit interviewt wurden. Da ließen sich ziemlich viele Parallelen ausmachen, die ich sehr erhellend fand. Mit einigen von ihnen habe ich mich dann auch persönlich getroffen, und Catherine Lee stand uns dann dauerhaft für den Film als Beraterin zur Seite. Sie war nicht die Einzige, die eine ähnliche Erfahrung gemacht hat wie Jean im Film: Auch sie war im Beruf als Lehrerin ungeoutet – und traf dann eine Schülerin in einer Gay Bar. Als die Schülerin sie später ansprach und meinte, sie wäre vermutlich lesbisch, sagte Catherine zu ihr: Nein, das bist du nicht – und falls doch, dann blende diese Gefühle aus und gehe nie wieder in diese schreckliche Bar. Wenn sie das heute erzählt, hört man immer noch den Schmerz in ihrer Stimme. Mit 30 Jahren Abstand kann sie kaum mehr verstehen, was sie damals für schreckliche Dinge gesagt hat, aus Schutz sowohl für sich selbst als auch die Schülerin. Das bedrückt sie bis heute.

Bis vor kurzem hätte man vermutlich gesagt: Wie beruhigend, dass diese Zeiten lange vorbei sind. Doch blickt man derzeit etwa auf neue Gesetze in einigen US-Bundesstaaten, hat BLUE JEAN plötzlich eine erschreckende Relevanz, oder?

Als wir mit der Entwicklung des Films begannen, gab es vielerorts Widerstand, so nach dem Motto: Das sind doch olle Kamellen. Warum sollten wir uns mit so einem überholten Thema beschäftigen, wo wir gesellschaftlich inzwischen viel weiter sind. Doch meine Produzentin und ich sahen damals schon, dass es einige Parallelen gibt zwischen dem, was damals passierte, und wohin sich unsere Gesellschaft heute entwickelt. Leider sind dann diese Parallelen in den vergangenen fünf Jahren derart angewachsen, dass vermutlich niemand mehr BLUE JEAN sehen und sie nicht erkennen kann. Eine so krasse Aktualität habe ich natürlich nicht vorhergesehen. Ursprünglich angelegt war der Film schon als einer über die Vergangenheit, in dem die Protagonistin allerdings viele Erfahrungen macht, die auch heute noch fester Bestandteil eines queeren Alltags sind.

Weswegen Ihr Film auch nicht in den gegenwärtigen Trend passt, queere Geschichten ins Utopische überhöht als Feelgood-Geschichten zu erzählen.

Gegen diesen Trend habe ich nicht prinzipiell etwas einzuwenden. Jahrelang gab es nur LGBTQ-Geschichten im Kino zu sehen, in denen es um Tod und Krankheit ging. Jede lesbische Lovestory endete tragisch. Deswegen verstehe ich den Wunsch nach positiven Geschichten und habe auch wirklich nichts gegen romantische Komödien mit Happy End. Aber gleichzeitig finde ich es nicht überflüssig, auch immer mal wieder daran zu erinnern, wofür es weiterhin zu kämpfen gilt oder womit queere Menschen auch heute noch zu tun haben. Queer zu sein ist nicht immer und überall ein Kinderspiel und problemlos, selbst wenn man die eigene Identität mal akzeptiert hat. Auch ich selbst werde da immer wieder dran erinnert.

Natürlich gibt es auch heute noch Empörung

Woran denken Sie konkret?

Mich sprach zum Beispiel neulich ein Junge aus der Schule meiner Stieftochter an, weil er nicht verstand, ob und wie ich nun eigentlich in diese Familie gehöre. Das war von diesem Zehnjährigen sicherlich nicht zwingend böse gemeint, aber mich erwischte die Frage auf dem falschen Fuß, und ich fühlte mich mal wieder in eine Ecke gedrängt, in der ich mich erklären und rechtfertigen muss. Letztlich ohne Frage eine Kleinigkeit, aber was ich sagen will: Als queerer Mensch ist das Leben einfach selten ausschließlich rosarot, sondern man gerät immer wieder in emotional stressige Situationen, in denen einem das eigene „Anderssein“ sehr klar vor Augen geführt wird.

Haben Sie eigentlich – mit Blick auf die eigene Biografie – mal darüber nachgedacht, was in Ihrer Jugend vielleicht anders gelaufen wäre, wenn es Section 28 damals nicht gegeben hätte?

Oh ja, und ich glaube in der Tat, dass meine Schulzeit eine komplett andere gewesen wäre. Das fällt mir nicht zuletzt mit Blick auf den Schulalltag meiner siebenjährigen Stieftochter auf. Die lernt heute zum Beispiel, dass es andere Familienmodelle als Vater-Mutter-Kind geben kann. Schon in den achtziger Jahren gab es Bemühungen, solche Dinge in den Lehrplan zu integrieren, doch eine Vielzahl von Eltern empörten sich darüber, dass ihre Kleinen von der Existenz queerer Menschen erfahren könnten – und Margaret Thatcher nutze genau das für ihren Wahlkampf, woraus schließlich Section 28 entstand. Natürlich gibt es auch heute noch Empörung, sei es, als in Großbritannien 2018 das No Outsiders-Programm zur Vermittlung von Vielfalt und Toleranz an Grundschulen eingeführt wurde, oder wenn heute an der Schule unserer Tochter der Pride-Monat gefeiert wird. Aber zu meiner Zeit war so etwas schlicht verboten und Queerness an Schulen unsichtbar. Meine Stieftochter dagegen wächst zumindest in dem Glauben auf, dass in dieser Welt jeder die Freiheit hat, sich auszudrücken und zu leben, wie man möchte.


Das Gespräch führte Patrick Heidmann

Patrick Heidmann