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Feature

DOUBLE-FEATURE: JEANNETTE – DIE KINDHEIT DER JEANNE D’ARC & JEANNE D‘ARC

Die Wahrheit liegt im Schrägen

Bruno Dumont hat vier Texte von Charles Peguy für zwei Filme über Jeanne d'Arc bearbeitet. Wie die Figur der Johanna von Orléans selbst ist auch Charles Peguy eine politisch umstrittene Figur, auf die sich rechte Nationalisten und katholische Extremisten ebenso berufen wie linke Philosophen, etwa Alain Badiou. Peguy stammte aus einer Bauernfamilie und war Sozialist, bevor er sich dem Katholizismus zuwendete, den Modernismus ablehnte und über die Aufwertung der Tradition bei nationalistischen Begriffen landete. Als einer der ersten französischen Freiwilligen wurde er 1914 im Krieg erschossen. Bruno Dumont hat in Interviews gesagt, er verstehe sich selbst als einen „Primitiven“, der sich außerhalb der realen Politik sieht. An Peguy scheint ihn vor allem das Wüten gegen die Welt zu interessieren.

JEANNETTE – DIE KINDHEIT DER JEANNE D’ARC (Start am 25.12.)

JEANNETTE hätte man wohl früher als „Rockoper“ bezeichnet. Hier tanzen und headbangen die Darsteller*innen, die zum Großteil Laien sind, zur Musik des französischen Elektro-Metallers Igorrr. Die achtjährige Lise Leplat Prudhomme als Jeannette und später die ältere Jeanne Voisin stehen in irgendwelchen Dünen und singen mit voller Inbrunst Peguys fast liturgische, sich oft wiederholende Verse – Peguy verstand seine Werke über Jeanne D'Arc als eine Art mittelalterliches Mysterienspiel. Eine Handlung im eigentlichen Sinne gibt es nicht. In drei Monologen und drei Dialogen – mit einer gleichaltrigen Freundin, einer von Zwillingen gespielten Nonne, und einem täppischen Onkel – klagt Jeanne über die Abwesenheit des Königreichs Gottes und hadert damit, handeln zu dürfen, zu können und zu wollen und die Eltern belügen zu müssen. Der innere Aufruhr ist groß, aber selbst die Musik wird immer wieder von gleichgültigem Schafsblöken unterbrochen.

„Das Risiko der Ernsthaftigkeit ist, dass sie zu Schwulst wird, weshalb man sie (…) mit der Komödie und dem Schwank ausbalancieren muss. Die Wahrheit liegt notwendigerweise im Schrägen“, sagt Dumont im Interview in Le Monde. Und so mögen die in Jeannes Vision in Bäumen schwebenden Heiligen so albern wirken wie die headbangende Doppel-Nonne und der schlecht rappende Onkel, dennoch hat das alles etwas Berührendes. Vor allem, wenn Jeanne über das Elend der Welt klagt – „Immer nur nichts, nichts, niemals nichts“ – und dabei ihr Kindergesicht in Großaufnahme keine Spur von Zweifel zeigt, ist das erstaunlich erschütternd. Die schwebenden Heiligen im Baum tauchen allerdings auch schon in der wohl frühesten Filmversion der Jeanne d’Arc von George Méliès um 1900 auf. Vielleicht will Dumont auch zurück zu einer naiveren, direkteren Form des Kinos.

Ohne die Choreografien und die Musik wären Peguys Texte kaum zu ertragen, dazu ist dessen Weltentwurf doch etwas zu streng, zu nationalistisch („Frankreich den Franzosen“) und zu katholisch. Andererseits zeigt der keinerlei Religiosität verdächtige Dumont eben keine Heldin, die notwendigerweise für das Richtige kämpft, sondern einen kindlichen emotionalen Aufruhr. Der Aufruhr sieht sich immer auf der Seite der Gerechtigkeit, egal auf welches Weltkonstrukt er sich bezieht, und sei es die idiotische Idee, das Oberhaupt des Hauses Valois sei gottgewollter als das Oberhaupt des Hauses Lancaster. JEANNETTE meint vermutlich nicht nur Greta Thunberg, sondern auch die jungen Faschisten. Von Ferne riecht Dumonts Film allerdings auch ein wenig nach Stadttheater: hier der Text, da die Aufführung, ein bisschen Schock, ein bisschen Spaß, ein bisschen was Falsches, ein bisschen was Echtes, danach eine Schorle.

JEANNE D’ARC (Start am 2.1.)

JEANNE beginnt am Vorabend von Jeanne d’Arcs letzter Schlacht und Gefangennahme und erzählt von ihrem Prozess. Gesungen wir nur noch selten. Wenn JEANNETTE ein Film über die innere Ekstase des Aufruhrs ist, ist JEANNE ein Film über die Melancholie des Scheiterns an der Welt und über den Sophismus der Macht. Der harte Sound aus JEANNETTE ist einem sanfteren, melancholischen Pop gewichen, geschrieben vom 74 Jahre alten Sänger Christophe. Jeannes innere Monologe singt Augustin Charnet von der französischen Indieband Kid Wise, später tritt Christophe selbst als Jeannes letzter Ankläger auf und singt in der gleichen, hohen Tonlage, nur mit etwas brüchigerer Stimme, über eine furchtbare Höllenvision.

Zunächst aber geht JEANNE so weiter wie JEANNETTE. Die Darsteller stehen in irgendwelchen Dünen, angeblich ist irgendwo in der Nähe Paris, hinter der Baumgruppe da hinten. Jeanne steht vor der endgültigen Niederlage. Gilles de Rais, ihr Marschall und später einer der grausamsten Verbrecher der Geschichte, spricht am Morgen vor der Schlacht über ein Massaker, bei dem Franzosen eines der reichen Dörfer in der Nähe geplündert, Männer, Frauen und Kinder verbrannt haben. Er bereut, es verpasst zu haben, zu schade, so ein Spaß. Jeanne glaubt, es wären die Engländer gewesen. Die Engländer seien nicht so dumm, Frauen zuerst zu verbrennen, tot wären sie ja zu nichts nutze. Man könne sie zwar auch tot noch benutzen, aber... Das sei Hexerei, sagt ein Kardinal, sind sie ein Hexer, Monsieur de Rais? Noch nicht, sagt de Rais.

Nach dem Gespräch singt Jeanne ein Klagelied. Sie habe die Schrecken des Krieges gesehen, Köpfe wurden auf ihren Befehl hin gespalten, aber nach diesen Reden mag sie die Kriegsmaschine nicht mehr anschmeißen. Für die Schlacht selbst steht die Reitertruppe vom Elysee-Palast ein, die um Jeanne herum ein paar Figuren reitet, oft aus der Perspektive Gottes selbst gefilmt, von ganz oben. Dann wird Jeanne gefangen, und der Prozess beginnt. Den filmt Dumont in einer echten Kathedrale, wenn auch der von Amiens, nicht der von Rouen, wo der historische Prozess stattfand. Jeannes Ankläger, die im Auftrag der mit den Engländern verbündeten Burgunder ein politisch kommodes Urteil fällen müssen und zugleich eine „Wahrheit“ produzieren müssen, die im Propagandakrieg funktioniert, sind Karikaturen, deren Grimassen und Selbstinszenierung an Schurken- und Idiotenrollen von Monty Python bis zu STAR WARS-Filmen denken lässt. Der eine zieht Grimassen, während er beim Lügen Ehrlichkeit simuliert, der andere hüllt sich ganz in die eigene Großartigkeit, und die Kamera lässt die Architektur die Inszenierung von Grandiosität widerspiegeln. Jeanne, wieder von der inzwischen zehn Jahre alten Lise Leplat Prudhomme gespielt, steht in vollendeter, mysteriös geheimnisloser Unschuld vor ihren Anklägern. Es ist ein zäher Prozess, und auch der Film zieht sich dahin, während die Schurkerei ihren Lauf nimmt. Dumont zeigt auch die Hilfs- und Unterschurken, die notwendig sind, um die Welt so zu erhalten, wie Jeannes Rebellion sie nicht wollte: die drögen Soldaten, die halb professionellen, halb verblödeten Folterer, die ihr Metier nur als einen Beruf unter vielen sehen. Das hat einen gewissen Witz, aber an den Furor von JEANETTE reicht JEANNE nicht heran. Nur wenn Christophe von der Hölle singt, entwickelt der Film ganz unmittelbare Wucht.

Tom Dorow