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Blog: Eindrücke von der Berlinale

Durch die Corona-Sicherheitsmaßnahmen ist das Berlinale-Erlebnis in diesem Jahr weniger stressig, lässt aber auch weniger Möglichkeiten, spontan und unerwartet, neue Lieblinge zu finden.
Christian Klose teilt hier Eindrucke von Filmen, die Eindruck hinterlassen haben. Die Liste wird regelmäßig erweitert.

RABIYE KURNAZ GEGEN GEORGE W. BUSH (Wettbewerb)
Andreas Dresens (HALT AUF FREIER STRECKE) neuer Film porträtiert den fünfjährigen Rechtsstreit um die Freilassung des in Guantanamo internierten Murat Kurnaza us der Perspektive seiner Mutter Rabiye (Meltem Kaplan). Die ist voller Energie, chronisch zu spät, und exzellent darin, Leute mit hausgemachtem Essen und charmanter Aufdringlichkeit davon zu überzeugen, Dinge zu tun, von denen sie noch gar nichts wussten, bis Rabiye hereinschneite.
Als ihr Sohn Murat plötzlich verschwindet, ist sie natürlich in heller Aufregung, aber als er sich dann in Guantanamo wieder anfindet, fast schon wieder beruhigt. Schließlich kann der reizende Anwalt Herr Docke (Alexander Scheer) ihn doch bestimmt schnell wieder da rausholen. Der fühlt sich auch sehr motiviert, aber aller gute Wille und alles Engagement scheitern natürlich schnell an einem Lager, für das offenbar kein Rechtssystem gilt und sowohl an deutschen als auch türkischen Behörden, die sich alle für Murat nicht zuständig fühlen. Es dauert lange, bis bei Rabiye der Optimismus irgendwann aufgebraucht ist, und da ist sie noch lange nicht am Ziel. Herr Docke fährt mit ihr in die USA, wo sie Hollywoodstars trift und ihren Rededrang bei einem Schweigemarsch sehr beherrschen muss. Der Film macht aus einer Geschichte, die für die Familie Kurnaz ein Happy End hatte, eine mitreißende und teilweise amüsante Erfahrung, aber die Tatsache, dass 20 Jahre nach 9/11 immer noch 39 Inhaftierte auf Kuba für ihre Freilassung auf dieselbe „Gerechtigkeit“ wie Murat hoffen müssen, gibt dem Ganzen eine bittere letzte Note.

18.2., 21 Uhr, Friedrichstadtpalast

THE OUTFIT (Berlinale Special)
THE OUTFIT braucht kurz, um in die Gänge zu kommen, macht dann aber einen Heidenspaß. Im Chicago der 1950er betreibt der Engländer Leonard (Mark Rylance) eine kleine Schneiderei. Er legt Wert auf Präzision und gute Stoffe und erwähnt, wenn man ihn fragt, auch gerne, dass er auf der Londoner Savile Row gelernt hat. Sein allererster Kunde, als er mit nichts als seiner Schneiderschere in Chicago ankam, war der örtliche Gangsterboss des Viertels, und bis heute verlässt sich Roy auf Leonards Anzüge. Die Kehrseite dieser Beziehung ist, dass Leonards Laden von Roys Bande als „Briefkasten“ genutzt wird, was ihm regelmäßige Besuche des impulsiven und gewaltbereiten Capos Francis und Richie, der Sohn des Dons, einbringt, die beide gerne als Nächstes auf dem Thron säßen. Eines Abends stolpern die beiden spät nachts in die Schneiderei, nachdem Richie in einer Schießerei angeschossen wurde. Die Wunde kann ein Schneider wie Leonard natürlich nähen, aber ab hier eskalieren die Dinge unerbittlich, aber nicht überraschend. Denn alle, die sich während dieses Krimikammerspiels im Hinterzimmer der Schneiderei treffen, haben ihre eigene Agenda und Pläne, und sind sehr gut darin, blitzschnell Betrug, Gegenbetrug und Doppeltes Spiel zu planen, während Waffen auf sie gerichtet werden oder sie die anderen Mitspieler*innen bedrohen. Bei so vielen Intrigen gibt es am Schluss einige Leichen zu beseitigen. Und mehr will man gar nicht verraten. Für Krimiliebhaber*innen sehr zu empfehlen.

17.2., 12 Uhr: Friedrichstadtpalast
18.2., 18 Uhr: Friedrichstadtpalast
20.2., 14:30 Uhr: Urania

PRODUKTY 24 – Convenience Store
Die ersten Minuten des Dramas CONVENIENCE STORE sind verwirrend, da alles so wirkt, als hätte man es mit einem Dokumentarfilm zu tun. Angefangen mit einer muslimischen Hochzeit im Hinterzimmer eines Supermarktes, bei der eine der Gäste die Kamera sogar noch direkt mit „Hör auf zu filmen!“ anschnauzt, sind es besonders in der zweiten Hälfte des Films immer wieder Einstellungen, die schöne Bilder ergeben, aber nie gestellt wirken. In der ersten Hälfte hingegen, die in den Gängen und Räumen des Moskauer 24-Stunden-Supermarktes spielen, in denen eine Gruppe von usbekischen Frauen leben und arbeiten, nutzt Regisseur Michael Borodin auch gerne das Bildmaterial aus den Sicherheitskameras oder den Handies der Frauen. Zhanna, die russische Chefin, regiert den dunklen fuchsbauartigen Laden mit eiserner Faust. Ihre Angestelltinnen haben zuallererst ihre Ausweise abgeben müssen, und wenn ein Kunde Krawall anfängt, weil ihm gesagt wird, dass er zuwenig bezahlt hat, führt das zu Schlägen und Lohnabzug für die Verkäuferin, während er schon wieder im Sonnenlicht der Außenwelt ist.
Irgendwann werden die Leibeigenen von der Polizei befreit, aber das ist nur ein kleiner Erfolg. Für eine von ihnen, Mukhabhat, ist es nur der nächste Schritt einer schweren Reise, denn weder fühlt sich irgendein russisches Amt für sie zuständig, noch sind ihre Aussichten in ihrem Heimatdorf wesentlich rosiger. Die Versuchung, wieder ins gewohnte Elend bei Zhanna zurückzukehren, verlässt Mukhabhat nie, egal, wie schlecht sie dort behandelt wurde. Was diese hoffnungslose Thematik des Films mehr als ausgleicht, ist die erwähnte großartige Bildführung, das Schauspiel der Hauptdarstellerin Zukahra Sanzysbay, deren Mukhabhat zeigt, dass sie einfach nicht aufgeben kann und gelegentliche nicht-naturalistische Ausbrüche bis hin zu einem Schluss, der entweder niederschmetternd oder hoffnungsvoll ist, in jedem Fall aber einen bleibenden Eindruck hinterlässt.

17.2., 17 Uhr, Cubix 9
18.2., 14:30 Uhr: Cinemaxx 4

CONCERNED CITIZEN
Ben und Raz sind jung, gutaussehend und hip. Vor Kurzem haben die beiden eine große, helle Wohnung in Tel Aviv gekauft und als Liebesnest eingerichtet. Ihr Viertel ist noch ein wenig abgeranzt, aber sehr im Kommen. In fünf Jahren wird es der Hammer sein, wie Leute immer wieder erwähnen. Da es den beiden Männern an den nötigen „Womb privileges“ mangelt, um ihr persönliches Glück noch mit einem Kind zu vollenden, suchen sie auf entsprechenden Websites nach einer Leihmutter und einer Eizellenspenderin. Das geht fast so einfach, wie man ein neues Sofa kauft, und bis das Kind da ist, verschönert Ben das Viertel schonmal selbst, indem er auf der Straße einen Baum pflanzt. Als er in der nächsten Nacht aber durch zwei Eritreer aus der Nachbarschaft geweckt wird, die sich lautstark unterhalten und dabei gefährlich an das zarte Bäumchen lehnen, ruft Ben natürlich die Polizei, und kann umgehend beobachten, wie die Beamten einen der Afrikaner so sehr verprügeln, dass er daran stirbt. Ohne irgendjemandem von seiner Beteiligung zu verraten, ringt Ben ab hier mit seiner Schuld und seinem Selbstbild als liberaler, nur eben um das Viertel besorgter, Bürger.
CONCERNED CITIZEN zeigt die Veränderung eines Viertels durch die Augen des Gentrifizierers, der für seine Taten und rassistischen Gefühle keine Verantwortung übernehmen will, und dadurch nur in noch tiefere Konflikte gerät. Sympathisch darf ein solcher Charakter natürlich nicht sein, aber Shlomi Bertonov spielt Ben als runden, wenn auch eben fehlerbehafteten, Menschen, der die Konsequenzen seines Traumlebens auf sozial Schwächere erlebt, und seine Erlösung schließlich auf etwas merkwürdige Weise findet.

19.2. 20:00 Uhr, Cinemaxx 3
20.2., 20:30 Uhr, Cinemaxx 4

INCROYABLE MAIS VRAI (INCREDIBLE BUT TRUE)

Alain und Marie wollen sich ein Haus in einem ruhigen Vorort kaufen. Eigentlich gefällt es ihnen ganz gut, aber es ist auch ein bisschen groß für nur zwei Leute. Und dabei hat ihnen der Makler noch gar nicht den absoluten Clou im Keller gezeigt, der, man mag es gar nicht glauben, das Haus im Prinzip noch größer macht, und einen zusätzlichen lebensverändernden Nebeneffekt hat. Alain ist skeptisch, aber Marie findet es toll, und, kurz nach dem Einzug ist sie eigentlich nur noch auf dem Weg in den Keller. Denn sie hat einen Lebenstraum, der nun in greifbare Nähe gerückt ist. Erst später zeigt sich der Preis, den sie dafür zahlen muss.
Das Geheimnis im Keller ist der am wenigsten abstruse Teil des Films und würde, ernst genommen, auch gut in „The Twilight Zone“ passen. Aber das hier ist ein Film von Quentin Dupieux (RUBBER, MONSIEUR KILLERSTYLE), in dem nichts zu seltsam sein kann, und so wird um die Kernidee immer nur noch mehr, noch Absurderes gesponnen. Ich könnte das jetzt verraten, aber sie würden es eh nciht glauben und eine Dinnerszene, in denen Alains Chef es immer wieder ziert, sein eigenes Geheimnis zu verraten, ist eine der witzigsten Szenen des Films. Daher: Entweder glauben, dass es witzig ist oder selbst hingehen.

19.2., 11 Uhr, Cubix 5 & 6
19.2., 15:30 Uhr, Friedrichstadtpalast

MUTZENBACHER
Für ihren Film schrieb die Regisseurin Ruth Beckermann (WALDHEIMS WALZER) ein Casting aus, bei dem sich Wiener Männer ab 16 Jahren für ein Projekt über den Felix Salten zugeschriebenen Roman „Josefine Mutzenbacher oder die Lebensgeschichte einer Wienerischen Dirne von sich selbst erzählt“ von 1906 melden sollten. Auf, vor und neben einem rosa Sofa lesen die Herren Textausschnitte aus dem Buch vor oder spielen Dialoge nach, in denen es immer sehr detailiert Sex in vielen Variationen geht, und reflektieren, was die Geschichte in ihnen auslöst. Einige freuen sich, dass man „damals noch Spaß am Sex hatte“ und ihn „nicht so problematisierte“, und finden mal mehr, mal weniger amüsante Parallelen zu ihrem eigenen sexuellen Werdegang. Das Klischee, dass Männer laut prahlen, aber eher peinlich verschlossen sind, wenn das Thema ernsthaft in die Tiefe geht, wird dabei nicht bestätigt. Spätestens, wenn es um Josefines sexuellen Missbrauch als Minderjährige durch die gesellschaftlichen Autoritätspersonen geht, sind die Herren auch bereit, sich zu fragen zu lassen, ob sie sich selbst nicht doch ein kleines Bisschen in diesen Männern wiederfinden. Im Zeitalter der sexuelle Reizüberflutung wirkt der Text gleichzeitig verstaubt und schockierend, und kann deswegen durch Dekonstruktion und Verfremdung als textliches Prisma dienen, das unerwartete Einblicke in die moderne Männlichkeit bietet.
Als frischer Gewinner des „Besten Films“ in der Sektion „Encounter“ erhielt MUTZENBACHER am Abschlusstag der Berlinale eine zusätzliche Vorstellung.

19.2., 21 Uhr, Akademie der Künste
20.2. 18 Uhr, Cinemaxx 6 & 7

Christian Klose