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Feature, Festivals

Berlinale XIV: Deutschland-Metapher aufs Auge

Wettbewerb: MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT

Phillip Grönings Film MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT hat in der ohnehin nur mäßig besuchten Pressevorführung am Morgen nach der Independent-Party ordentlich Platz geschafft. Viele verließen die Vorstellung, andere beschäftigten sich, wie der Spanier neben mir, mehr mit dem Handy als mit dem Film. Es war erfrischend anzusehen, wie genervt die an biederen Krempel gewöhnte Wettbewerbspresse war.
Grönings Film, dessen Buch der Regisseur gemeinsam mit der Schauspielerin Sabine Timoteo geschrieben hat, hat bisher die schönsten Bilder im Wettbewerb, und ist der erste Wettbewerbs-Film, der eine Idee von Freiheit in der Inszenierung zeigt. Über drei Stunden wird kaum eine Geschichte erzählt, lediglich eine langsame, aber unaufhaltsame Eskalation. Die Zwillinge Robert und Elena gehen auf eine Wiese, gegenüber einer Tankstelle, vorgeblich um für Elenas Philosophie-Abitur zu lernen. Lauter Großaufnahmen von Gräsern, Ameisen, Füßen und anderen Körperteilen, Zigarettenschachteln, Chipstüten, Schnellheftern und Büchern. Im Hintergrund, wie Kubricks Monolith in schneeweiß, ragt der Turm eines Windrades in den Himmel. Ein deutsches Idyll, das natürlich früher oder später zerlegt werden muss. Sinnlich tummeln und necken sich die Zwillinge, als wären sie auf dem Weg in eine Horrorhütte. Dann beginnt Robert Heidegger und Augustinus zu referieren, ontologische Zeitphilosophie. Immer wieder muss Bier her, aus der Tanke, wo die Aufpasser Adolf (pingelig) und Erich (nett und gnädig) heißen: die Deutschland-Metapher wird ordentlich aufs Auge gedrückt. Zwischen der „Pumphosenphilosophie“ (Thomas Bernhard über Heidegger) wetten die Zwillinge. Geht der Hund nach links, holst du das Bier. Elena ist beleidigt, weil Robert mit seiner Freundin gepennt hat. Elena will wetten, dass sie bis zum Abi noch mit jemandem pennt, also an diesem Wochenende. Wenn Robert gewinnt, bekommt er den VW Golf, den Elena zum Abi bekommen soll, wenn Elena gewinnt, soll Robert sich etwas von ihr wünschen, aber nichts Materielles.
Der Sommer und die Sinnlichkeit, Deutschland und die Philosophie, Tabu und Verbrechen das sind die Motivstränge in Grönings Film. Ein Element der Todessehnsucht klingt an, wenn die Zwillinge im tiefgrünen Wasser eines Waldsees versinken. Eine Wette, wer länger die Luft anhalten kann. Eine filmische Kritik Heideggers und der Phänomenologie sind der zentrale Bezugspunkt des Films. Die philosophische Diskussion, die MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT eröffnet, ist eine aktuelle. In den Geisteswissenschaften, gerade auch in der Filmwissenschaft, hat es in den letzten Jahrzehnten einen „phenomenological turn“, eine Wende hin zur Phänomenologie gegeben, in der die filmische Erfahrung als Ultima Ratio der Kritik gesehen wird. Ausgehend von Tom Gunnings und Thomas Elsaessers Studien zum frühen Kino fand eine theoretische Aufwertung des „Kinos der Attraktionen“ statt, wobei die sinnliche Erfahrung im Kino höher geschätzt wurde als die formale Struktur und Narration des Films, die in früheren filmtheoretischen Bewegungen, etwa der kritischen Theorie oder dem Neoformalismus, im Zentrum der Kritik standen. Grönings Film ist auch eine Kritik der Filmkritik.
In Grönings Film erklärt der „Idiot“ Robert die philosophischen Gedankengänge, die zur Verlagerung von Zeit und Ontologie in die Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse führen. Seine Schwester Elena nimmt ihn beim Wort. Die echte Pistole, mit der sie gerade jemanden erschossen hat, ist gar nicht echt, sagt sie. Solange die Beiden das so wahrnehmen, funktioniert das auch, wenngleich sie die Welt damit in Schutt und Asche legen. Dass Elena, die Streberin, das Abitur mit Bestnote bestehen wird, ist keine Frage. Für mich ist MEIN BRUDER HEISST ROBERT UND IST EIN IDIOT bisher der beste Film, den ich im Wettbewerb gesehen habe. Radikal sinnlich inszeniert, radikal frei erzählt und den Finger präzise in die intellektuellen Wunden gelegt. Viele werden diesen Film hassen, ihn prätentiös oder langweilig finden.

Weitere Vorführungen: So 25.02. um 21:15 im Haus der Berliner Festspiele

Tom Dorow