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Berlinale V - Forum: Double-Feature mit Lolita Chammah

STRANGE BIRDS & BARRAGE

Im Programmheft der Berlinale tun sich Welten auf, und es prallen welche aufeinander. Vieles läuft parallel, vieles überschneidet sich. Wenn ich den Film schaue, verpasse ich diesen, jener dauert länger als der andere, der hier kommt sowieso nächste Woche ins Kino. Manchmal nimmt einem das Programmheft die Qual der Wahl aber ab, weil einfach zusammen kommt, was zusammen gehört. So war das, als die Forumsfilme STRANGE BIRDS und BARRAGE hintereinander im Cubix am Alexanderplatz liefen, beide mit der französischen Schauspielerin Lolita Chammah in der Hauptrolle. Ein solches Double Feature links liegen lassen? Ohne mich!

Dabei kannte ich von der 1983 geborenen Lolita Chammah bis dahin allein den Namen aus dem Programmheft. Dass sie die Tochter von Isabelle Huppert ist, habe ich erst nach dem zweiten Film von einem Kollegen erfahren (auch wenn ich beim Schauen dezent was ahnte, denn die sehen sich echt ziemlich ähnlich).

Lolita Chammah wird ungern darauf angesprochen, dass sie die Tochter von Isabelle Huppert ist. Zumindest war das bei einer Publikumsfrage deutlich zu merken, die ihr im Anschluss an BARRAGE gestellt wurde: „Wie fühlt es sich an, gemeinsam mit der Mutter vor der Kamera zu stehen?“ Hm, wie soll es sich schon anfühlen? Lolita Chammah antwortete, dass sie die Frage viel zu oft gehört habe, ihr nichts mehr dazu einfalle und sie daher nicht antworten könne. Und legte einen nach: „I'm with two movies in Berlin, one is without my mother.“


Der ohne die Mutter lief zuerst: STRANGE BIRDS, nach BELLEVILE-TOKYO der zweite Spielfilm der Französin Élise Girard. Die rote 70er-Titelschrift, Standbilder von Paris und unbehagliches Möwengeschrei etablieren anfänglich eine surreal angehauchte Stimmung.

In der ersten Szene läuft dann die von Lolita Chammah gespielte 27-jährige Mavie ins Bild: Sie trägt einen zeitlosen blauen Mantel, die roten Haare sind zum legeren Dutt geformt, die Absätze ihrer Schuhe geben den Takt vor. Eine adrette junge Dame. Der Blick auf sie bleibt einer von außen, vom Stativ gefilmt. Mavie (also „mein Leben“) ist neu nach Paris gezogen, das ihr nun viel kleiner vorkommt als erwartet. Sie will schreiben, vertraut aber nicht in ihre Fähigkeiten.

Anders der 77-jährige Misanthrop Georges, Typ Alain Delon, in dessen Bücherantiquariat Mavie zu arbeiten beginnt. Er glaubt an sie. Das Verhältnis der beiden ist von Anfang an vertraut, sie schweigen oft und lang in Close-Ups, verstehen sich stumm. Bald vermutet man, dass die beiden Gefühle füreinander hegen könnten. Als das erste Bild ohne Mavie eine Seitenaufnahme von Georges zeigt, aus ihrer Perspektive, ist es klar: Die beiden lieben sich. Doch der Altersunterschied hält sie ab, allein die Liebesdialoge aus dem Off vollziehen die Liebe, die hier romantisch statt körperlich ausgelebt wird.

Doch STRANGE BIRDS ist kein konventionelles Liebesdrama, sondern ein eigenartiger Film. Mit seinen kompakt erzählten 70 Minuten Laufzeit kommt er einem im positiven Sinn viel länger vor, weil viel passiert. Élise Girard inszeniert auf den Punkt, ohne unnötige Verästelungen. Die im Titel genannten Vögel sind übrigens Möwen, die hier regelmäßig tot vom Himmel stürzen. Das sorgt beim ersten Absturz für einen Schreck, wird aber bald Normalität. Wie die Kreisblenden verweisen die abstürzenden Vögel auf die Fiktionalität des Ganzen. So ist STRANGE BIRDS am Ende alles: surreal, romantisch, zeitlos.

Tägliche „candy time“

Es folgte der Film mit Mutter: BARRAGE von Laura Schroeder, die zuvor den Kinderfilm DIE SCHATZRITTER UND DAS GEHEIMNIS VON MELUSINA gedreht hat. In BARRAGE spielt ebenfalls ein Kind eine zentrale Rolle, doch diesmal in Form eines weiblichen Familiendramas im 4:3- Format.

In der ersten Szene läuft erneut Lolita Chammah ins Bild. Sie spielt Catherine, die nach zehn Jahren Abwesenheit ihre Mutter Elisabeth (Huppert) und ihre kleine Tochter Alba (Themis Pauwels) in Luxemburg besucht. Warum sie abgehauen ist, bleibt vage, es hat jedenfalls etwas mit ihrer psychischen Verfassung zu tun. Als Catherine ihre Pillen gegen Stimmungstiefs die Toilette herunter spült, lässt die Verzweiflung nicht lang auf sich warten.

Alba bekommt bei der täglichen „candy time“ ebenfalls Pillen, und zwar von ihrer Großmutter Elisabeth. Die trainiert Alba nämlich wie zuvor ihre Tochter für Tennisturniere, und zwar mit geradezu unmütterlicher Härte. Als Catherine mit Alba zur Sommerhütte der Familie fährt, taut die störrische Tochter langsam auf. Am See hallt das Echo zurück und bald brechen sich Catherines Erinnerungen an die Kindheit Bahn, was seinen Höhepunkt in einer surrealen Mischung aus Traumsequenz und Rückblende findet.

Lolita Chammah spielt hier genauso einnehmend wie in STRANGE BIRDS, doch eben eine komplett andere Figur. Das kann man schon an der Garderobe ablesen: Mit einem roten Sommerkleid und offenen Haaren besucht sie die Mutter, doch ihr Standardoutfit ist ein olivgrüner Parka mit Jeans und Sneakern. Mavie aus STRANGE BIRDS und Catherine aus BARRAGE sind zwei völlig unterschiedliche Typen.

Isabelle Huppert tritt nur am Anfang und am Ende auf. Die Bühne gehört ihrer Tochter, deren Figur im Beziehungsdreieck zwischen den Generationen steht. Es geht um die Verteilung von Macht, um Verletzungen aus der Vergangenheit und die Möglichkeit einer Versöhnung. Der Soundtrack spielt in dem ruhig erzählten Drama eine besondere Rolle und akzentuiert die Stimmungen der Figuren.

Im letzten Bild blickt Lolita Chammah lange in die Kamera. Und ihr Blick sagt alles, da tun sich Welten auf. Sie kann das jedenfalls, mit und ohne ihre Mutter.

Christian Horn