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Berlinale III: Zwischen Horror und Sozialdrama

Wettbewerb: SYSTEMSPRENGER

Nora Fingscheidts Spielfilmdebüt SYSTEMSPRENGER versprach, ein intensives Stück Kino zu werden, immerhin hatte der Film schon zahlreiche Drehbuchpreise gewonnen. Dabei steht gerade das Drehbuch mit seiner genrefilmartigen Eskalationslogik der Geschichte eher im Wege und sorgt dafür, dass SYTEMSPRENGER ein EXORZIST mit Sozialarbeitern statt Priestern geworden ist.
Das Mädchen Benni ist wegen ihrer Gewaltausbrüche bereits aus zahlreichen Jugendwohngemeinschaften und Schulen herausgeworfen worden. Ihre Fallbearbeiterin beim Jugendamt, Frau Banafé, findet keine WG mehr, die bereit ist Benny aufzunehmen. Es bleiben eine Einrichtung für akute Notfälle, die verpflichtet ist, Kinder vorrübergehend zu betreuen und die Psychiatrie. Die nächsten Stufen wären die geschlossene Jugendpsychiatrie oder eine nicht genauer beschriebene Einrichtung für „Systemsprenger“ im Kongo. Drei Chancen entzieht der Film Benni noch: Micha, Bennis Schulbegleiter, nimmt sie für drei Wochen mit in ein Haus im Wald, und es gelingt ihm, Bennis Vertrauen zu gewinnen und eine Bindung aufzubauen. Nur sind so enge Bindungen, wie Benni sie bräuchte, im System nicht vorgesehen. Als er sie wieder in die Wohngemeinschaft zurückbringen will, schlägt Benni sich so lange den Kopf blutig, bis Micha sie eine Nacht bei seiner Familie schlafen lässt, was später zu einer gefährlichen Situation führt. Der Versuch, Benni wieder in einer Pflegefamilie unterzubringen, in der sie sich einmal wohl gefühlt hatte, endet damit, dass Benni den jüngeren Pflegesohn krankenhausreif schlägt. Die idiotische Idee, Benni wieder zur überforderten und selbst vom Freund körperlich misshandelten Mutter zu schicken, endet damit, dass die wackere Frau Banafé in die Knie sinkt und Benni schluchzend erklären muss, warum ihre Mama sie „jetzt noch nicht“ haben will.
SYSTEMSPRENGER scheint erzählen zu wollen, dass im Jugendsozialwesen die Möglichkeit zu engen und langfristigen Bindungen für schwierige, traumatisierte und gewalttätige Kindern fehlt. Benni bräuchte langjährige, intensive Einzelbetreuung. Die Filmlogik fordert allerdings ein ordentliches Ende, und ziemlich früh bleiben nur zwei Optionen offen: Entweder tötet der Film Benni oder Benni tötet selbst jemanden und wird eingesperrt. SYTEMSPRENGER pendelt auch in der Inszenierung zwischen Sozialdrama und Horror-Genre. Bennis schlimmstes Kindheitstrauma hat dazu geführt, dass sie ihr Gesicht nicht berühren lassen kann. Die Schocks, die dadurch ausgelöst werden, illustriert der Film durch schnelle Montagen von Licht- und Farbblitzen und Erinnerungsfetzen. Wenn Benni wieder einmal abhaut, kippelt die Kamera im Rhythmus ihrer Schritte und dynamischer Musik. In Bennis Erfahrungswelt taucht der Film aber vor allem in diesen Erregungsmomenten kurzfristig ein, während die Kamera sonst eher dem Blick von Betreuern folgt oder naturalistisch-beobachtend bleibt. Vielleicht war angestrebt, die Welt des Jungsozialwesens als eine Mischung aus Horror-Innenwelten und hilflosen, engagierten, aber auch pragmatisch distanzierten Blicken zu zeigen. Das hätte dann ganz gut funktioniert.

Weitere Vorführungen:
9.2. um 9.30 Uhr im friedrichstadtpalast
9.2. um 12 Uhr im Haus der berliner Festspiele
9.2. um 20.30 Uhr im HAU1
14.2. um 17.00 Uhr in der JVA Plötzensee
17.2. um 18.30 Uhr im Berlinale Palast

Tom Dorow