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Feature, Filme, Festivals

BERLINALE 2023: DER INDIEKINO BLOG

Unterwegs auf dem Festival

INDIEKINO Autor*innen berichten von den 73. Internationalen Filmfestspielen Berlin: DANCING QUEEN, SUZUME, ART COLLEGE 1994, TAR, IN WATER, AND, TOWARD HAPPY ALLEYS, THE BRIDE, SIRA, GREEN NIGHT, ROTER HIMMEL, INFINITY POOL, DER VERMESSENE MENSCH, L'AMOUR DU MONDE, DAS LEHRERZIMMER, DIE FABELMANS, MON PIRE ENEMI, GOLDA, INGEBORG BACHMANN - REISE IN DIE WÜSTE, INSIDE, PAST LIVES, MANODROM, WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR, REALITY, SONNE UND BETON, PERPETRATOR, SHE CAME TO ME

Generation KPlus: DANCING QUEEN

Little Miss Hip-Hop

Die Siebtklässlerin Mina (Liv Elvira Kippersund Larsson) aus Norwegen ist eine fleißige Schülerin. Zu den als „cool“ geltenden Mädchen gehört die leicht mehrgewichtige 12-Jährige mit der großen rosafarbenen Hornbrille nicht. Doch als nach den Sommerferien der beliebte Hip-Hop-Tänzer Edwin, genannt E. D. Win (Viljar Knutsen Bjaadal), der 165 800 Instagram-Follower*innen vorweisen kann, auf Minas Schule kommt und eine eigene Hip-Hop-Tanzgruppe zusammenstellen will, ist Mina hin und weg. Um E. D. Win auf sich aufmerksam zu machen, sieht Mina nur eine Chance: Sie muss es in seine Tanzcrew schaffen! Dabei besteht nur ein klitzekleines Problem: Mina hat noch nie getanzt.

Unterstützt von ihrer resoluten Großmutter (Anne Marit Jacobsen), die früher im Chat Noir als Tänzerin Erfolge feierte und Minas Talent erkennt, und ihrem besten Freund Markus (Sturla Puran Harbitz) trainiert Mina hart – und darf in der Hip-Hop-Gruppe mittanzen, die im nächsten Sommer zum wichtigsten nationalen Wettbewerb, der Mjøsa Challenge, antreten soll. Obwohl der ehrgeizige E. D. Win Mina demütigt und sich zuerst weigert, im Duo mit ihr zu tanzen, versucht Mina alles, um ihm zu gefallen. Dabei vernachlässigt sie nicht nur die Schule, sondern auch ihre Freundschaft zu Markus.

Die norwegische Regisseurin Aurora Gossé, geboren 1987, studierte Regie an der Norwegian Film School und drehte auch TV-Filme, Serien und Musikvideos. In ihrem kurzweiligen und lehrreichen Coming-of-Age-Film DANCING QUEEN, der nach einem Drehbuch von Silje Holtet entstand und in der Sektion Generation Kplus zu sehen ist, behandelt sie Themen wie Träume, (Selbst-)Liebe, toxische Körperbilder, Freundschaft, Familie und Trauer.

Die entschlossene kleine DANCING QUEEN Mina, die zuweilen an die Protagonistin Olive aus LITTLE MISS SUNSHINE erinnert, lernt Hip-Hop, färbt sich die Haare, kauft sich Kontaktlinsen und neue Klamotten und versucht, cool zu wirken, um E. D. Wins Erwartungen zu erfüllen. Trotz aller Anstrengungen muss Mina sich beim Hip-Hop-Training jedoch übergriffige Kommentare und Fatshaming von E. D. Win anhören und entwickelt immer stärkere Selbstzweifel. Sie will unbedingt abnehmen, geht nachts heimlich aufs Trainingsrad und verzichtet sogar auf das Weihnachtsessen mit ihren Eltern und ihrer Großmutter. Doch ist das wirklich der richtige Weg?

Mit einem überzeugenden Schauspielensemble und begleitet von mitreißenden Hip-Hop-Choreografien verdeutlicht Aurora Gossé in DANCING QUEEN, was wahre Freundschaft ausmacht und dass es sich lohnt, Träume zu verfolgen. Darüber hinaus vermittelt sie auf kindgerechte und sensible Art, dass Bodyshaming nicht in Ordnung ist – und dass sich niemand verbiegen muss, um andere zu beeindrucken.

(Stefanie Borowsky)

Wettbewerb: SUZUME

Bei der Pressekonferenz zu SUZUME sagte Regisseur Makoto Shinkai (YOUR NAME), dass Kinokarten in Japan sehr teuer seien, und er deswegen den Besucher*innen seines Film auch das Gefühl geben wollte, etwas für ihr Geld zu bekommen. Das ist auf jeden Fall gelungen. SUZUME will unterhalten und ehrliche, sehr direkte Emotionen vermitteln, die man in dieser Form nach einer guten Woche Berlinale gar nicht mehr erwartet. Die Titelheldin ist eine Teeniewaise, die bei ihrer Tante lebt und auf dem Schulweg einen mysteriösen, aber sehr attraktiven jungen Mann trifft, der sie nach dem Weg zu nahegelegenen Ruinen fragt. Natürlich folgt Suzume ihm und erfährt, dass es in ganz Japan magische Portale gibt, durch die „der Wurm“, ein Lovecraft-artiges Riesenmonster immer wieder versucht, in unsere Welt einzudringen und dort durch Erdbeben Tod und Verderben zu verbreiten. Der mysteriöse Schönling, Souta, ist ein sogenannter „Schließer“, mit der Mission, diese Portale zu finden und zu schließen, bevor der Wurm sie komplett durchquert. Natürlich geht diesmal etwas schief, und Suzume muss kurz darauf mit Souta durch Japan reisen, die Pforten finden und schließen und außerdem.... nein, das zu erzählen würde einen wunderbaren Witz spoilern.
Auf dem Weg treffen die Abenteurer immer wieder hilfreiche und herzensgute Leute, sehen wunderschöne Gegenden ihrer Heimat und dazwischen auch immer wieder Orte, die verlassen und/oder durch Unglücke zerstört wurden. Und natürlich gibt es dann noch eine Liebesgeschichte, und ein Geheimnis aus Suzumes Vergangenheit wird enthüllt.
SUZUME erfindet keine Räder neu, liefert aber eine solide Abenteuerstory mit einem klaren Subtext darüber ab, dass die japanische Geschichte immer wieder Katastrophen und Tragödien beinhaltete, die hier eine sichtbare Spur auf dem Land hinterlassen haben.

Am 25.2. läuft der Film noch einmal in der Verti Music Hall.

(Christian Klose)

Wettbewerb: Suzume und Art College 1994

Erstmalig sind im Wettbewerb der Berlinale zwei Animationsfilme zu sehen, die die Bandbreite dessen, was das Medium erzählerisch ermöglicht, ausloten: die fantastisch-mystische Liebesgeschichte SUZUME und die autobiografische Slacker-Animation ART COLLEGE 1994.

Liebe, Verlust und Naturkatastrophen: Während in Makoto Shinkais YOU NAME der Einschlag eines Asteroiden verhindert werden musste und in WEATHERING WITH YOU Dauerregen Japan im Wasser versinken ließ, sind es in SUZUME Erdbeben, die die Zukunft Tausender Menschen gefährden. Durch einen Zufall begegnet die 17-jährige Suzume eines Tages einem jungen Mann namens Souta, der als „Schliesser“ arbeitet und dafür sorgt, dass die magischen Türen geschlossen bleiben und die Beben nicht aus dem Jenseits heraus in die Menschenwelt können. Für jene, die sie sehen können, neben die Beben die Form von gigantischen „Würmern“ an, die zunächst weit in den Himmel aufsteigen, bevor sie auf die Erde niederkrachen. Nur das rechtzeitige Schließen des richtigen Portals kann die Katastrophe verhindern. Aber das alles weiß Suzume noch nicht, als sie Souta aus Neugier in ein von den Einwohnern verlassenes Dorf folgt, und so öffnet sie nicht nur eine jener Türen, sondern entfernt auch noch den Schlussstein, der das gesamte Netzwerk der Portale geschlossen hält. Suzume und Souta müssen nun nicht nur ein Erdbeben nach dem anderen verhindern, sie müssen auch den Schlussstein, der sich in eine kleine weiße Katze verwandelt hat, wieder einfangen. Zusätzlich Problem: Die kleine Schlussstein Geist-Katze hat Souta sehr originell verflucht, bevor sie loszischt. Die Verfolgungsjagd führt Suzume und Souta durch ganz Japan. SUZUME ist wie die Vorgängerfilme extrem verspielt, liebevoll und detailreich inszeniert und meisterhaft animiert. Skurrile Begegnungen am Wegrand wechseln sich ab mit Actionsequenzen, in denen Suzume und Souta unter Lebensgefahr ein neues Portal schließen müssen. Zuallererst ist SUZUME eine rasante, romantische, ideenreiche Achterbahnfahrt, aber wie in den Vorgängerfilmen spielt auch hier Verlust eine Rolle: Suzume hat mit vier Jahren ihre Mutter verloren und ist bei ihrer Tante aufgewachsen, und die Erinnerung an die Erdbebenopfer ist in dem verlassenen Dorf, auf dem Jahrmarkt oder in der geschlossenen Schule, die jetzt Portale zum Jenseits beherbergen, immer noch präsent.

Neben den perfektionistischen Computeranimationen von SUZUME wirkt der über fünf Jahre handgezeichnete ART COLLEGE 1994 von Liu Jian (HAVE A NICE DAY) ruppig und unmittelbar, ebenso wie die Gruppe von Studierenden, die er porträtiert. Der fast nicht vorhandene Plot folgt mehreren jungen Männern und Frauen, die in den 1990er Jahren in der Chinese Southern Academy of Arts studieren. Sie machen Moderne Kunst, Tuschezeichnung oder Musik, studieren westliche Kunstströmungen „Ist das abstrakter Expressionismus oder deutscher Expressionismus?“, verlieben und entlieben sich, malen sich ihre Karrieren aus, und verbringen Tage und Nächte damit, zu debattieren. „Was ist Kunst? Wer bestimmt, was Kunst ist?“ ist bei den jungen Männern das große Thema, bei den jungen Frauen ist es die Liebe. Der dauernde assoziative Redefluss, der an Mumblecore, Slackerfilme oder die Nouvelle Vague erinnert, ist für nicht Mandarin sprechende Menschen mühsam, weil man über dem ganzen Mitlesen das Visuelle kaum mitbekommt. Die Worte bekommen sehr viel, zu viel Gewicht, dabei sind sie eher Teil der sehr genau eingefangenen Atmosphäre. Die ist trotz aller Begeisterung für die Moderne eher melancholisch. Nach und nach werden die großen Träume von pragmatischen Erwägungen verdrängt. Rabbit, der alles zur Kunst erklärt hat, zieht mit der Freundin zusammen und wird Lehrer, die Gesangsstudentin Hong gibt ihre Konzertpläne auf, und beginnt, in einem Nachtclub zu singen, und die Liebesgeschichte zwischen dem langhaarigen Xiaojun und Hongs bester Freundin Lili, die ein wenig im Zentrum steht, und sich gerade erst zart zu entwickeln schien, findet nicht statt. Eines Tages ist Lili weg, sie hat sich für Sicherheit entschieden und einen Langweiler geheiratet. Am Ende bleibt Xiaojun als Einziger zurück. Und beginnt, ernsthaft zu malen.

Hendrike Bake

SUZUME
Sa 25.02. 18:45
Verti Music Hall

ART COLLEGE 1994
Sa 25.02. 16:00
Akademie der Künste

Berlinale 2023 Dispatches #3

This weekend the 73rd Berlinale wraps up as it always does, with its Berlinale Publikumstag Sonntag, a day in which many of the Competition, Encounters, Panorama and other films get a final screening at a discounted ticket price of 11.00 EUR. Some weekend screenings are likely to be sold out already, but there are plenty of options still available. One of the benefits of adding the Verti Music Hall to the list of venues is that it takes a lot of people to reach full capacity. As of this writing, tickets for Competition titles like MANODROME, LIMBO, THE SURVIVAL OF KINDNESS and MAL VIVER are still showing up on the website as still being available.

Each Berlinale I wonder, is it even possible to see all of the Competition films? As the years go by, it feels like an increasingly futile endeavor. Even when the festival was taking place entirely online, as it did in 2021, I didn’t manage this feat. However, over the past few days I watched three impressive films by German directors, all of which are part of the Competition lineup. First was the new Christian Petzold movie ROTER HIMMEL (Afire). After getting a little mystical with his last film, UNDINE, Petzold comes back down to earth, along with his current muse Paula Beer, to tell a straightforward tale about a frustrated writer who ends up learning some difficult lessons in life while staying with a friend at a seaside summer home. While he struggles to finish his manuscript, a forest fire is creeping closer and closer, and everyone around him seems to have a better handle on their life than he does. As wtih most Petzold movies, there are a couple of twists and turns to be had, but ROTER HIMMEL is most impressive for how well written and well realized the characters are. Petzold can be enigmatic, but this time he’s made a very thoughtful, relatable and entertaining film.

Speaking of enigmatic... MUSIC is by the writer/director Angela Schanelec, and it’s a true mind-bender. The film starts along the rocky coastline of Greece and weaves its way to the streets of Berlin, but along the way it takes some very peculiar detours. A man accidentally kills another man and is sent to prison. Upon his release his begins a relationship with one of the prison guards and they have a child. But all is not as it seems. Some people age, some people don’t, and figuring out how one character relates to another isn’t so simple. There are many allusions to classic Greek tragedies like the story of Oedipus, as well as some Old Testament allegories. You might find MUSIC to be frustrating and confounding, or you might appreciate it as the kind of puzzle you can think about for days afterward.

The final film to debut in the Competition section is BIS ANS ENDE DER NACHT (Til the End of the Night), a film noir that features an undercover cop and femme fatale, but feels truly modern in its scenario. The cop in question is setting up a sting operation involving the kingpin of an internet drug operation. But for his plan to succeed he needs to bring in his former boyfriend who’s been in prison for two years. During that time, the boyfriend has transitioned to being a woman, which complicates their relationship, and the undercover operation, in some interesting ways. BIS AND ENDE DER NACHT features impressive performances as well as some moody and suspenseful direction by Christoph Hochhäusler. It might come across as a little melodramatic to some viewers, but I found it to be an enjoyable throwback to 1970s style filmmaking.

This year’s lineup was notable for having not one — but two animated movies in the Competition, and they couldn’t be more different from one another. SUZUME is the newest film from Makoto Shinkai (YOUR NAME, WEATHERING WITH YOU) and it delivers a rousing adventure story about a high school girl who finds herself indispensable in saving Japan from impending disaster. She must race around the country to close a series of doors that serve as portals for inter-dimensional “worms” that can cause earthquakes if they escape. The film is also an overt homage to the work of Hayao Miyazaki, as one of the antagonists is a talking cat, and one of the heroes is a talking three-legged chair. It’s hugely entertaining.

The other animated feature is ART COLLEGE 1994, which is Liu Jian’s follow-up to his 2017 freewheeling crime film HAVE A NICE DAY. This time, however, the action is limited to some intense conversations about the meaning and purpose of art. In that sense, ART COLLEGE 1994 might resemble Richard Linklater’s animated feature WAKING LIFE, but Jian’s film is much more interested in the mundane day-to-day life of his characters. ART COLLEGE 1994 would make for an excellent pairing with Vasilis Katsoupis’s INSIDE, which is part of the Panorama lineup and features Willem Dafoe as an art thief who gets trapped in an ultra-modern apartment and can only transcend his predicament by creating his own works of art. Both films ask similar questions about what constitutes art, how much suffering must go into the making or art, and who gets to decide the value. While INSIDE has all the makings of a cult film, with Willem Dafoe putting on an impressive one-man-show, your appreciation for ART COLLEGE 1994 will entirely depend on how interested you are in the subject of art theory.

Of course, it would hardly be a Berlinale without an appearance by the prolific Hong Sangsoo, who finally took home an award with last year’s THE NOVELIST’S FILM. This year he arrives with a 61-minute curiosity called MUL-AN-E-SEO (in water). It’s likely to be the most experimental film in the Encounters lineup, for the simple reason that about 95 percent of the movie is out of focus. Given that it’s about a young amateur filmmaker who’s trying to make his first movie, you can perhaps understand this bold choice, but it’s challenging nonetheless. The film still has a wonderful script and a moving story to tell, but buyer beware.

For those interested, the awards will be given out on Saturday night. This year, I didn’t come across a film like BAD LUCK BANGING OR LOONEY PORN, which ticked all the boxes of being anarchic, adventurous and sharply political — leading it to win the Golden Bear in 2021. But that film’s director, Radu Jude, is on the main jury alongside the jury president Kristen Stewart and Carla Simón, the director of last year’s winner ALCARRÀS. Which film will they honor this year? It’s anyone’s guess, but I’m rooting for PAST LIVES.

Sean Erickson

Berlinale Special: TÁR

Lydia Tár wird in die Filmgeschichte eingehen wie Tony Montana oder Travis Bickle. Bereits jetzt hat die - vollkommen fiktionale - Tár eine vorzeigbare Anhängerschaft auf Social Media, und es machen sich Leute auf Twitter halb-ernsthaft Gedanken darüber, was Lydia Tár wohl zu diesem oder jenem Vorfall sagen würde, oder sie schreiben „OMG I saw Lydia Tár“, wenn sie Cate Blanchett irgendwo gesehen haben, die Tár spielt.

Das mag auch daran liegen, dass Regisseur Tod Fieldd seine Hauptfigur außerordentlich geschmeidig in die reale Welt der E-Musik einbaut. Die Berliner Philharmoniker, die Lydia Tár dirigiert, gibt es ebenso wie die Promis, mit deren Namen sie so souverän hantiert, seien es Leonard „Lenny“ Bernstein oder Antonia Brico. In einer fast zehnminütigen Szene gleich zu Beginn des Films interviewt Adam Gopnik, der wirkliche Autor des echten New Yorker Magazins die fiktionale Lydia Tár auf einer fiktionalen Session beim New Yorker Festival über ihre Arbeit als Dirigentin und ihr Verständnis von Musik. Die Szene ist mutig (außer einem eher sachlichen Dialog passiert nichts) und komisch (die kleinen Eitelkeiten der Kulturelite sind perfekt eingefangen), und es lohnt sich zuzuhören, denn fast alles, was Tár hier äußert, wird später im Film kommentiert, widerlegt oder gespiegelt werden.

Das Interview zeigt Lydia auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Souverän hört sie zu, wie Gopnik ihre Erfolge auflistet. Charismatisch spricht sie über ihre Arbeit, flicht hier und da einen kleinen Scherz ein, erinnert an ihren guten Freund „Lenny“, und ist sich ihrer Wirkung voll bewusst. Cate Blanchett als Tár glänzt und funkelt, lässt Abgründe ahnen und eine komplizierte Lebensgeschichte, deren Details wir nie erfahren werden. Sie spielt Lydia Tár vielschichtig und ambivalent als gleichermaßen mysteriös-ikonische Heldin und als zutiefst toxische Persönlichkeit, die sich wie ein Chamäleon an ihre Umgebung anpasst, überall die Fäden zieht und mit jedem Satz manipuliert.

Das New Yorker-Interview markiert den Anfang ihres Untergangs. Wenig später sehen wir, wie sie sich in einem Uni-Seminar nahezu sadistisch über einen Studenten of Colour lustig macht, der sich aus politischen Gründen nicht für Bach begeistern kann. Die Szene ist ein Kabinettstück über Identitäts- und Kunstdiskurse, zeigt aber vor allem, dass Lydia ihr Gefühlt für Zeitgeist verliert, für die derzeit gefragteste Positionierung. Und natürlich filmt jemand mit. Während Lydia noch dabei ist, bei den Philharmonikern in Personalfragen zu intrigieren und eine neue junge Cellistin zu „protegieren“, holen sie Gerüchte über eine ehemalige Studentin ein, die sich nach einer Affäre mit Tár umgebracht hat.

Tod Fieldd (LITTLE CHILDREN) erzählt diese Geschichte einer Demontage langsam und genau, und entwickelt dabei eine ungeheure Spannung, bei der es auf jede Kleinigkeit und jede Nuance ankommt. Er seziert präzise die Mechanismen, mit der Lydia ihre Macht ausspielt, auch in ihrer Beziehung mit Orchesterleiterin Sharon (fantastisch präsent mit kleinsten Gesten: Nina Hoss), und hat dennoch Sympathie für die manipulative Aufsteigerin aus kleinen Verhältnissen, die virtuos mit dem Habitus der Hochkultur spielt.

TÁR ist ein Thriller um Aufstieg und Fall einer Dirigentin. TÁR ist ein Horrorfilm, in dem sich das von Lydia Verdrängte in Störgeräuschen und Ticks manifestiert. TÁR ist eine Komödie über Hochkultur im Influencer-Zeitalter. TÁR ist einer der interessantesten Filme des Jahres

Hendrike Bake

Weitere Vorführungen:
Sa 25.02. 13:15
Zoo Palast 3

Sa 25.02. 13:15
Zoo Palast 4

Sa 25.02. 13:15
Zoo Palast 5

Forum/Panorama: Feldzug gegen das Patriarchat

Über einen Zeitraum von sechs Jahren reiste die indische Filmstudentin Sreemoyee Singh wiederholt in den Iran, um dort Regisseure, Schauspieler*innen und Aktivistinnen für ihre Doktorarbeit zu befragen. Daraus ist ihr dokumentarischer Debütfilm AND, TOWARD HAPPY ALLEYS entstanden.
Ihr Forschungsinteresse ist unspezifisch, doch Singh taucht tief in die kulturelle und politische Landschaft des Landes ein, mit einer Begeisterung, die ansteckend ist. Die von ihren Interviewpartner*innen wiederholt gestellten Quizfragen zur iranischen Filmgeschichte beantwortet sie mühelos, was an Bertoluccis THE DREAMERS erinnert; doch werden Kunst und Politik hier nicht gegeneinander ausgespielt, sondern sind im theokratischen Regime immer schon miteinander verbunden: Jafar Panahi, der nach einem Hungerstreik Anfang dieses Monats aus dem Gefängnis kam, erzählt von vorhergehenden Inhaftierungen; Mohammad Shirvani witzelt über den Lärm einer Baustelle als verdeckter Zensur des Interviews.
Solchen akustischen Störungen oder zufällige Kommentare von Passant*innen belässt Singh im Film, um sie als Metaphern für das nicht nur offen gewalttätige, sondern oft auch subtile Einwirken der Staatsmacht zu nutzen; mit den Protagonist*innen bewegt sich der Film konstant zwischen öffentlichen und privaten Räumen, affirmativen Gesten und subversiven Handlungen.
Ein Leitmotiv des Films ist das Vermächtnis der feministischen Dichterin und Filmemacherin Forough Farrochzad, die derzeit wieder viel rezipiert wird. Glücklicherweise bleibt AND, TOWARD HAPPY ALLEYS keine nostalgische Ode an das iranische Kino, sondern führt direkt in die aktuellen Befreiungskämpfe
iranischer Frauen.

Während die kritische Intelligenz im Iran das Wechseln zwischen öffentlichem und privatem Raum erlernt oder die offene Konfrontation riskiert, bleiben beide Optionen der Protagonistin in Myriam Biraras Debüt THE BRIDE verwehrt. Eva (Sandra Umulisa) will Medizin studieren, doch wird sie eines Tages auf dem Heimweg von mehreren Männern entführt und Silas (Daniel Gaga) als Braut übergeben. In ihrem häuslichen Gefängnis erlangt sie Trost und Kraft durch die Beziehung zur Cousine (Aline Amike) ihres Vergewaltigers und Ehemanns. Mit ihr teilt sie Momente der Solidarität und Intimität, die ihr von ihrer eigenen, konservativen Familie verwehrt werden. THE BRIDE zeigt jedoch keinen allmählichen Prozess der Verschwesterung, sondern ein vielschichtige Beziehung, in der sich Erfahrungen von sexualisierter Gewalt mit dem Trauma des Genozids und Mitgefühl mit Begehren überlagern.

Offensiver werden feministische Themen in Apolline Traorés SIRA bearbeitet. Die Nomadin Sira aus Burkina Faso wird ebenfalls zu Beginn entführt und vergewaltigt. Ihr anschließender Kampf ist jedoch nicht zuerst gegen ein patriarchales Gefängnis gerichtet, sondern ein Kampf ums reine Überleben. Sira ist dabei zwar auf fremde Hilfe angewiesen, wirkt aber zu keinem Zeitpunkt hilflos. Traoré zeichnet die Hauptfigur als mutig und selbstbestimmt, ohne ihr Gefühle der Sehnsucht, Liebe und Verzweiflung abzusprechen, auch wenn sich SIRA zu einem stark überzeichneten Sahel-Western entwickelt.

Auch GREEN NIGHT zeigt einen Feldzug gegen das Patriarchat: Die migrantische Flughafenangestelle Jin Xia (Fan Bingbing) trifft auf ein klassisches Manic Pixie Dream Girl (Lee Joo Young), die ihr einen Weg der Befreiung aus ihrer angstbehafteten Existenz und ihrer gewaltvollen Ehe aufzeigt; ähnlich wie in THELMA & LOUISE entledigt sich das Duo nicht nur ihrer Unterdrücker, sondern auch bürgerlicher Rechtsvorstellungen. Wie Sira ist auch Jin Xia fähig zum Kampf und zur Zuneigung, wie in THE BRIDE kann Unterdrückung zumindest zeitweise in Intimität aufgehoben werden.
In allen diesen, von Frauen geschriebenen und gedrehten Filmen, schlägt die Kritik am Patriarchat und das Porträt seiner Opfer in Szenen der Emanzipation um. Die Handlungsmacht, die diesen Opfern als Akteurinnen zugesprochen wird, befreit sie aus gewaltvollen Strukturen, doch nicht von komplexen Gefühlen und Momenten der willentlichen Schwäche; sie ist keine rein individuelle Ermächtigung, sondern das kollektive Ergebnis von Akten der Solidarität.

Yorick Berta

AND, TOWARD HAPPY ALLEYS
Fr 24.02. 10:00
Cubix 7
Untertitel: Englisch

Sa 25.02. 12:45
Haus der Berliner Festspiele
Untertitel: Englisch

THE BRIDE

So 26.02. 18:30
Delphi Filmpalast

SIRA
Fr 24.02. 22:00
Akademie der Künste
Untertitel: Englisch

Sa 25.02. 19:00
Cubix 5
Untertitel: Englisch

GREEN NIGHT

Fr 24.02. 12:30
Cubix 9

Sa 25.02. 16:00
Verti Music Hall

So 26.02. 12:00
Haus der Berliner Festspiele

Encounters: mul-an-e-seo / in water

Vor dem Screening sagt Hong Sang-soo freundlich „Ich möchte wenig sagen und hoffe einfach, es gefällt Ihnen.“ Auch im Gespräch nach dem Screening versucht er, auf eine möglichst freundliche Art, möglichst wenig zu erklären. Das Unbestimmte, Unsagbare hat er in das Filmmaterial eingeschrieben: Der Film ist unscharf. Manchmal ist es eine feine, kaum merkliche Unschärfe, wie am Anfang, als die drei Protagonist*innen – der junge Filmemacher Seung-mo und seine beiden Freunde Sang-guk und Nam-hee – in ihrer Pension auf der Insel Jeju sitzen und Pizza essen, manchmal ist die Unschärfe so prononciert, dass die Bilder zu Farbflächen werden und die Menschen und Objekte anfangen, an den Hintergrund zu verloren zu gehen. Seung-mo möchte einen Kurzfilm drehen, Nam-hee soll schauspielen und Sang-guk macht die Kamera. Die ersten Tage wandert Seung-mo über die Insel und überlegt sich Einstellungen, während Nam-hee und Sang-Guk im Wind stehen und versuchen, die Zeit zu überbrücken. Sie erzählt, dass sie mal Taekwondo gemacht hat. Er beschwert sich, dass er nach dem ganzen Brot Reis vermisst. Dann wieder geht sie mehrfach an einer der schwarzen Steinmauern entlang, die für die Insel wohl typisch sind, während Seung-mo überlegt „ob sie zur Mauer passt“ So ähnlich stelle ich mir auch die Arbeit mit Hong Sang-soo vor. Der Film im Film handelt von einer Müllsammlerin und einem jungen Mann, der ihr folgt. Im Gespräch sagt Hong Sang-soo dazu „Er ist ein junger Mensch, der sich an Symbolen festhält.“ Er selbst dagegen arbeitet daran, sich immer weiter von Bedeutungen wegzubewegen hin zu Kompositionen, Farben, Formen, Schwingungen zwischen Personen. „Ich sehe selbst nicht mehr so gut, mich nervt es, dass alles fokussiert sein muss.“ Die Unschärfe ist ein radikaler Schritt dahin, ebenso das Bemühen, möglichst wenig in der Postproduktion zu machen - so wird die Musik „live“ zugeschaltet, es klingt, als ob ein Kassettenrekorder am Set an- und abgeschaltet würde –, und der Intuition vor Ort zu vertrauen. Die Idee, einen unscharfen Film zu drehen, sei ihm kurz vor den Dreharbeiten gekommen und er hätte sie für verrückt gehalten, die Entscheidung sei erst bei der ersten Einstellung gefallen. Scharfstellen oder nicht? Er hat nicht scharf gestellt, eine irreversible, wahnsinnige Entscheidung, eine der wenigen, die sich auch digital nicht korrigieren lassen. Das Ergebnis ist ein Film, der von den Zuschauer*innen verlangt/ihnen die Möglichkeit bietet, sich einzufühlen, -zuhören, -zusehen, anstatt den Film zu verstehen. Der Effekt wird in der untertiteln Fassung allerdings etwas durch die Untertitel zunichte gemacht, die gerade jene Übersetzungsleistung fordern, der Hong sich verweigert.

Hendrike Bake

Weitere Vorführungrn:

Fr 24.02. 15:15
Cubix 7

So 26.02. 10:30
Zoo Palast 3

So 26.02. 10:30
Zoo Palast 4

Roter Himmel

Niemand filmt das klare, graue Berliner Licht so schön wie Christian Petzold und sein Kameramann Hans Fromm. Es ist ein sachliches Licht, ein Understatement-Licht, das alles zweckmäßig erhellt und keine Ausflüchte zulässt, aber auch kein Drama veranstaltet, Damit ist es auf eine spröde Art auch ein sehr zärtliches Licht.

Diesmal scheint es auf Mecklenburg-Vorpommern. Hierhin sind Leon (mein Kandidat für den Darsteller-Bären: Thomas Schubert) und Felix (Langston Uibel) von Berlin aus unterwegs. Sie wollen im Ferienhaus von Felix' Eltern arbeiten. Leon will an seinem Manuskript schreiben und Felix eine Mappe für die UdK zusammenstellen. Einige Kilometer vor ihrem Ziel bricht das Auto im Kiefernwald zusammen, und sie müssen das letzte Stück laufen. Als sie endlich schnaufend und schwer bepackt an ihrem Ziel ankommen, ist das Haus schon belegt: Felix' Mutter, hat es einer Freundin, Nadja (Paula Beer), zur Verfügung gestellt. Sie müssen wohl oder übel teilen.

Leon ist not amused. Statt Ruhe und Einkehr zu finden, muss er sich nun ein Zimmer mit Felix teilen oder alternativ in der „Laube“ schlafen – eine offene Pergola am mückenverseuchten Waldrand. Seine Mieseprimeligket verfliegt auch die nächsten Tage nicht. Leon nennt Nadja nur „die Russin“, weigert sich, im Haus mit anzufassen, und als mit Nadjas Lover, dem Rettungsschwimmer Devid (Enno Trebs), noch eine weitere Person beim Abendessen auftaucht, fällt Leon durch ruppige, abwertende Fragen auf. Dass der ultra-entspannte Felix sich sofort mit den „Neuen“ anfreundet, macht ihn noch extra aggressiv.

Leon ist eine wunderbare, wenig sympathische aber sehr lebensnahe Hauptfigur und ein lustiges Autoren-Alter Ego. Natürlich verliebt er sich in Nadja/Paula Beer, die hier wieder Petzolds souverän-mysteriöse Traumfrau spielt. Ihr vertraut er auch den Grund für seine aufgestaute Wut an: Sein Verleger wird ihn besuchen und dem gefällt sein neues Buch nicht. Als der Verleger (Matthias Brandt) dann kommt, versteht er sich bestens mit Felix und Nadja, während er Leons Roman – den man tatsächlich teilweise zu hören bekommt, und er ist schrecklich – höflich und bestimmt zunichte macht.

Petzold inszeniert das „große Leon-Drama“ so überzeugend, unterhaltsam und alltäglich, dass man die Genreelemente, die ROTER HIMMEL durchziehen, lange gar nicht so bewusst wahrnimmt. Klar, in der Ferne brennt der trockene Wald, und die Löschhubschrauber donnern mit ohrenbetäubendem Getöse immer wieder über die Idylle, aber das ist dieser Tage im Sommer in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern ja oft so. Wenn ein Käuzchen im Wald ruft, dann sind das halt die alltäglichen Nachtgeräusche, die man im Wald so hört. Der Horror- und Katastrophenfilm, der ROTER HIMMEL auch ist, schleicht sich auf leisen Sohlen an, bis es zu spät ist.

Nicht nur Leon ist nämlich zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um seine Umwelt wahrzunehmen (und gute Literatur zu produzieren), seine Freunde und schließlich wir alle sind es im Prinzip auch. ROTER HIMMEL ist eine Urlaubskomödie und ein Endzeitfilm, eine zugleich mitfühlende und wunderbar böse Reflexion über das Kunstmachen und eine ausgefeilte und sehr gelungene Mischung aus konkret und metaphorisch. Ein Bärenkandidat, würde ich sagen.

Hendrike Bake

Weitere Vorführungen

Do 23.02. 09:00
Verti Music Hall

Do 23.02. 18:30
Haus der Berliner Festspiele

Fr 24.02. 18:00
Kino im Zeiss-Großplanetarium
Berlinale Goes Kiez

So 26.02. 10:00
Berlinale Palast
Audiodeskription via App GRETA

Berlinale Special: Infinity Pool

Brandon Cronenberg dreht – wie sein Vater David – klugen, radikalen und blutigen Horror im Themenfeld von Körperidentitäten, Medien und Klassenverhältnissen. In ANTIVIRAL ging es um Fankulturen, die sich die Seuchen ihrer Lieblingsstars injizieren lassen, in POSSESSOR um biologisch-digitalen Identitätsdiebstahl. Brandon Cronenbergs neuer Film INFINITY POOL ist zunächst eine Satire über den Tourismus in Luxusressorts, die von den realen Gesellschaftsverhältnissen der Länder, die bereist werden, völlig abgekoppelt sind. „Es ist, als ob man eigentlich nicht das Land besucht. Man besucht eine andere Dimension,“ sagt Cronenberg beim Sundance Festival in. Er spricht von einer “tourist nation across the world”, was sowohl „ein touristisches Land am anderen Ende der Welt“ bedeuten kann, aber auch „eine weltweite Nation des Tourismus“.

In einem dieser Ressorts, in einem Land, das aussieht wie Kroatien, aber eine seltsame Schrift und noch seltsamere Sitten hat, machen der Schriftsteller James (Alexander Skarsgård) und seine Frau Em (Cleopatra Coleman) Urlaub. Er erhofft sich Inspiration, sie hat Geld. Ein anderes Paar, Gabi (Mia Goth) und Alban (Jalil Lespert) lädt sie zu einem Strandausflug in die Umgebung ein. Auf der Rückfahrt sitzt James am Steuer des gemieteten Straßenkreuzers. Er überfährt einen Mann, und Gabi überredet ihn zur Fahrerflucht. James wird verhaftet, und ein Polizist erklärt ihm das Gesetz: Die Blutrache muss eingehalten werden, einer der Söhne des Mannes wird ihn töten, aber es gibt im Rahmen des Tourismus-Programms die Möglichkeit, für sehr viel Geld ein körperlich und geistig identisches Double herzustellen, das an seiner Stelle getötet wird. Aber stirbt wirklich das Double, oder ist der überlebende James sein eigener Doppelgänger?

Das ist erst der Auftakt zu einem wilden, brutalen und immer wieder sehr komischen Ritt durch Exzess-Orgien, in denen Mia Goths Figur Gabi zur dämonischen Sex-and-Fun-Anführerin einer touristischen Transgressions-Sekte wird. Tourismus ist in INFINITY POOL auch ein vollständiger Verlust der Identität. James wird, wie alle Touristen, zur Funktion einer alles auffressenden Mords-Spaßmaschine. Gabis Sekte fühlt sich selbst sehr anti-bürgerlich, während sie und ihre Anhänger durch Geld und Privilegien geschützt sind, ähnlich wie Touristen in Großstadtzentren oder am Ballermann. Von James bleibt einerseits nicht viel übrig, anderseits wesentlich zu viel. Adepten von Georges Batailles Trangressionstheorie, in welcher der französische Philosoph die Überschreitung und den Exzess an Sex- und Todeserfahrungen als eine Art existentielle Erfahrung des realen Seins versteht, werden diese Ideen hier zwar wiederfinden, aber sie sind auf den Kopf gestellt. Der scheinbar risikolose Tabubruch ist, wie im Übrigen auch der Kinobesuch, keine existentielle Erfahrung, sondern „nur ein bisschen Spaß“ im Urlaub, wie Gabi im Film sagt.

Cronenberg inszeniert entspannter und souveräner als in seinen ersten Filmen, was nicht heißt, dass es an exzessiver Gewalt und explizitem Sex mangeln würde. Aber die radikalen Szenen haben hier mehr als nur „shock value“, wie John Waters es nannte. INFINITY POOL hat vielleicht nicht die komplexeste Botschaft, aber Cronenberg bringt sie eindringlich und präzise inszeniert herüber.

Tom Dorow

Weitere Vorführungrn
Do 23.02. 15:15
Verti Music Hall

Berlinale Special: Der vermessene Mensch

Lars Kraume hat bisher einige zeithistorische Filme gedreht, wie DAS SCHWEIGENDE KLASSENZIMMER über die Folgen einer Gedenkminute, die eine DDR-Schulklassse für die Opfer des 17. Juni 1953 hielt, und DER STAAT GEGEN FRITZ BAUER über den Frankfurter Staatsanwalt, der Informationen über den Aufenthaltsort von Adolf Eichmann an den israelischen Geheimdienst weiterleitete. Kraumes Filme waren eher Ausdruck eines gesellschaftlichen Konsensus, als dass sie kontrovers diskutiert wurden. Mit DER VERMESSENE MENSCH beteiligt sich Kraume dagegen direkt an den aktuellen Debatten über die Rückgabe von geraubten Kulturgütern und menschlichen Überresten der Kolonialzeit, um die Ausrichtung und die Zukunft der Sammlung der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und des „Humboldt-Forums“ und nicht zuletzt um die Reparationsforderungen der Herero und Nama.

Kraume erzählt von dem jungen Berliner Ethnologen Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher), der um die Jahrhundertwende in die Fußstapfen seines Vaters, eines Afrikaforschers, treten will. An der Friedrich-Wilhelms-Universität lernt er, dass die Schädel von „Buschmännern“ kleiner seien als die von Weißen. Seinem Professor zufolge sei dass der Beweis, dass Afrikaner auf einer niedrigeren Evolutionsstufe stünden als Weiße. Die Studenten sollen die Schädel einer Delegation von Nama und Herero vermessen, die im Glauben, in Friedensverhandlungen mit dem Kaiser treten zu können, nach Berlin gereist sind, tatsächlich aber als Propagandadarsteller in der Völkerschau des Kaisers auftreten müssen und als pseudowissenschaftliche Studienobjekte dienen sollen. Dabei trifft er Kezia Kambazembi, die Übersetzerin der Delegation, und ist völlig fasziniert davon, dass die vermeintliche „Wilde“ einen intelligenten Eindruck auf ihn macht. Hoffmann präsentiert Kezias Fähigkeiten bei einem Vortrag und verkündet die These, dass die Afrikaner nicht auf einer niedrigeren Stufe der Evolution stünden, sondern dass Unterschiede etwas mit Umweltumständen und kultureller Sozialisation zu tun haben könnten. Ein Eklat: will Hoffmann etwa Darwins Evolutionstheorie in Frage stellen? Der Vortrag veranlasst den Professor, einem eifrigeren Rassisten als es Hoffmann ist, zur Professur zu verhelfen. Hoffmanns akademische Karriere steht dagegen still. Aber er kann seinen Konkurrenten noch auf eine Expedition nach Deutsch-Ostafrika begleiten, wo er Zeuge des sogenannten Vernichtungsbefehls des Generalleutnants von Trotha wird.

Kraume zeigt einerseits die Strategien der deutschen Kolonialtruppen, die den Völkermord durchführen: die Erschießung von Gefangenen, das Vertreiben der in die Wüste geflohenen Herero von den Wasserlöchern, die Errichtung von Konzentrationslagern, in denen die Gefangenen nur so lange am Leben gehalten werden, wie ihre Arbeitskraft ausgebeutet werden kann. Andererseits geht es um die Plünderung der Kulturgüter der Herero, die Schändung der Leichen ihrer Toten und der Grabstätten durch deutsche Wissenschaftler, deren perverser Höhepunkt das Sammeln von etwa dreitausend Schädeln toter Herero für das Ethnologische Institut in Berlin und andere Einrichtungen war. In einem Gespräch zwischen Hoffmann und einem Missionar geht es um die Schuldfrage von Kirche und Wissenschaft. Hoffmann wirft der Kirche vor, sich nicht immer die besten Bettgefährten ausgesucht zu haben. Das gelte doch aber auch für die Wissenschaft, antwortet der Missionar, und: „Haben Sie eigentlich Gräber geschändet?“.

Kraumes Film zeigt Kontinuitäten des deutschen Rassismus und Imperialismus auf, die von der Kolonialpropaganda des Kaiserreichs über die NS-Formel des „Volk ohne Raum“ und bis zum eindeutigen Bezug der NS-Propaganda auf die Kolonialpolitik reichen – etwa in Propagandafilmen wie CARL PETERS (1941). Der „Lebensraum“ in den 1918 verlorenen Kolonien sollte nun durch die Eroberung neuen „Lebensraums“ im Osten ersetzt werden. DER VERMESSENE MENSCH erinnert auch an das beschämende Verhalten der deutschen Bundesregierungen, die zunächst jahrzehntelang die Bezeichnung „Völkermord“ für die Massaker an Herero und Nama in UN-Resolutionen verhinderten, explizite Reparationsleistungen bis heute verweigerten und stattdessen „Entwicklungshilfe“ anboten und schließlich die Rückerstattung von kolonialem Raubgut systematisch verhinderten und verzögerten. Von den ca. 3000 geraubten Schädeln sind bis heute nachweislich 34 (und eine nicht genauer bestimmte Zahl „menschlicher Überreste“) zurückgegeben worden.

Nebenbei zeigt Kraume den Opportunismus des akademischen Betriebes. Die Ergebnisse der Vermessungen zeigen, dass die Schädel der Herero nicht kleiner sind als die von Europäern. Die absurde These, die an der Schädelgröße den evolutionären Entwicklungsstand ablesen will, ist nicht haltbar. Hoffmanns Professor lässt die Ergebnisse, als auch die Vermessung der Schädel aus geschändeten historischen Gräbern kein anderes Ergebnis liefert, einfach nicht veröffentlichen. Auch wenn Kraume über einen einigermaßen gutwilligen, „liberalen“ Mann in seinen Film hinein führt, von einer „White Saviour“-Erzählung ist DER VERMESSENE MENSCH meilenweit entfernt.

Tom Dorow

Weitere Vorführungen:

Do 23.02. 22:00
International
Audiodeskription via App GRETA

Fr 24.02. 09:30
Verti Music Hall

Woche der Kritik: JEDER SCHREIBT FÜR SICH ALLEIN

Dominik Graf begibt sich in einer fast dreistündigen Doku auf die Spuren von Schriftstellern in Nazi-Deutschland

Die Geschichten von Künstlern und Intellektuellen, die vor der NS-Diktatur ins Exil flohen, sind vielfach erzählt worden. Weniger gut beleuchtet und moralisch uneindeutiger sind die Schicksale der Dagebliebenen. Aus heutiger Sicht ist zum Beispiel schwer nachzuvollziehen, wieso ein von den Nazis verbotener Autor wie Erich Kästner, der 1933 die Verbrennung seiner Bücher mit ansah, nicht das Land verlassen hat. Auch Gottfried Benn, Hans Fallada, Ina Seidel und viele andere blieben. Anatole Regnier wollte ihre Motivationen besser verstehen, nicht von heute urteilen, sondern den damaligen Alltag und damalige Weltsicht nachvollziehen. Das Buch „Jeder schreibt für sich allein“ ist das Ergebnis seiner Recherchen. Dominik Graf ist befreundet mit Regnier, hat den Entstehungsprozess des Buches mitverfolgt und teilweise schon während des Schreibens, teilweise danach mit filmischer Recherche darauf reagiert. Entstanden ist ein fast dreistündiger Essayfilm, der das Buch ergänzt und im Programm der Woche der Kritik uraufgeführt wurde. Warum der Film nicht im Programm der Berlinale läuft ist rätselhaft, das Festival wäre eine gute Gelegenheit, sich in solcher Breite und Tiefe in die Thematik zu vertiefen.

Graf bedient sich einer Vielzahl stilistischer Mittel, die Annäherung an die individuellen Biografien findet jeweils auf etwas unterschiedliche Weise statt. Das klassische Dokumentarfilm-Vokabular aus Archivbildern, Originaltexten, Filmausschnitten und Interviews mit Nachkommen der Portraitierten und mit Literaturkundigen von heute wird kommentiert und illustriert durch Szenen, in denen der Filmemacher sich die Freiheit nimmt, eigenen Assoziationen zu folgen. Symbolhafte Bilder, eine kurze, fast experimentalfilm-artige Annäherung an den Begriff „innere Emigration“, eine phantasierte Sequenz in einem nächtlichen Buchladen. Gemeinsam ergibt das ein komplexes Panorama einer Zeit, die Graf als „zerklüftete Katastrophenlandschaft“ beschreibt, in der die Portraitierten sich höchst unterschiedlich positionierten. Von begeistertem Feiern der nationalen Erweckung (Benn, Johst, Vesper und andere, heute weniger bekannte NS-Unterstützer) über „Emigration aufs Land“ innerhalb Deutschlands (Fallada, Seidel) bis zum Durchlavieren in einer Art innerer Aufspaltung, mit der vermutlich Kästner die NS-Zeit überlebte, gab es viele Varianten. Der Film präsentiert eine Fülle an Wissen und Gedanken, aber durch seine kunstvolle, undidaktische Form auch eine sinnliche und emotionale Annäherung an eine andere Zeit. Das interessiert Regnier und Graf viel mehr als moralische Urteile, trotzdem wird man beim Zuschauen angeregt, intensiv über moralische Fragen nachzudenken. Letztlich ist es damals wie heute eine Frage der persönlichen Definition, was man vor sich selbst als Mitläufertum definiert, was als Überlebensgeschick und was als Verdrängung. Mir hat manchmal ein etwas psychologischerer Blick gefehlt, die Frage, auf welche inneren Gegebenheiten der Nationalsozialismus bei den einzelnen getroffen ist und was manche Menschen so zu innerer Abspaltung und Abschottung befähigt, während andere genau das nicht können. Aber wenn ein Dokumentarfilm so zu weiterem Nachdenken anregt wie dieser, hat er sein Ziel erfüllt.

(Susanne Stern)

GENERATION KPLUS: L’AMOUR DU MONDE

Die fast 15-jährige Margaux (Clarisse Moussa) verbringt die Sommerferien bei ihrem Vater, der übergangsweise in einem Hotel am Genfersee lebt. In dem kleinen Ort macht Margaux ein Praktikum in einem Kinderheim und trifft dort auf Juliette (Esin Demircan), eine aufsässige Siebenjährige, die gern ausbüxt. Als die Kinder mit den Betreuer*innen einen Ausflug an den See unternehmen, ist Margaux nur einen Moment lang unaufmerksam und knipst ein Foto von einem Schiff auf dem See, da ist die kleine Juliette ihr schon entwischt. Der junge Fischer Joël (Marc Oosterhoff) fischt Juliette aus dem Wasser. Nachdem Margaux Joël zum ersten Mal begegnet ist, fühlt sie sich schon bald zu ihm hingezogen.

Im Laufe des Sommers am See entwickelt sich eine Freundschaft zwischen den drei so unterschiedlichen jungen Menschen. Während die nachdenkliche Margaux, deren Vater vor allem mit sich selbst und seiner neuen Freundin Carole (Mélanie Doutey) beschäftigt ist, sich im Kino oder am See in die Ferne hinwegträumt, wartet die kleine Halbwaise Juliette meistens vergeblich darauf, von ihrem Vater abgeholt zu werden. Joël dagegen, der für eine Weile in Indonesien gelebt hat und nach dem Tod seiner Mutter in die Schweiz zurückgekehrt ist, weiß nicht, wie und wo es für ihn weitergehen soll.

Die im Kanton Waadt in der Genferseeregion als Tochter eines Portugiesen und einer Schweizerin aufgewachsene Regisseurin und Drehbuchautorin Jenna Hasse, geboren 1989 in Lissabon, legt mit L’AMOUR DU MONDE ihren ersten Langspielfilm vor. Darin führt sie die Geschichte ihres Alter Egos Margaux fort, die sie bereits zur Hauptperson ihrer Kurzfilme EN AOÛT (2014), den sie bei der Quinzaine des Réalisateurs 2014 in Cannes präsentierte, und SOLTAR (2016) machte.

Jenna Hasse, die gemeinsam mit Nicole Stankiewicz und Julien Bouissoux auch das Drehbuch zu L’AMOUR DU MONDE schrieb, erschuf Margaux aus einer Mischung aus eigenen Erfahrungen und denen anderer Frauen aus ihrem Umfeld, besonders aus ihrer Familie. In EN AOÛT war ebenfalls Clarisse Moussa als Margaux zu sehen, die in L’AMOUR DU MONDE ihre Rolle der introvertierten und auf ganz eigene Art rebellischen Teenagerin Margaux ebenso wie die anderen jungen Hauptdarsteller*innen überzeugend verkörpert.

Als Inspiration für ihren Film diente Jenna Hasse außerdem der gleichnamige Roman „L’amour du monde“ (1928) von Charles-Ferdinand Ramuz, der ebenfalls am Genfersee spielt und Protagonist*innen versammelt, die sich dort wie Hasses drei Sommerfreund*innen zwischen dem Wunsch, aus der Realität zu flüchten, und der Akzeptanz des aktuellen Zustands hin- und hergerissen fühlen.

Neben dem See dient Margaux auch das kleine Dorfkino zum Eskapismus. Als sie sich eines Tages allein ins Kino schleicht, läuft dort der Film L’ATLANTIDE (1932) mit Brigitte Helm in der Rolle der Antinea, der starken und schönen Herrscherin von Atlantis. Auf die 14-jährige Margaux scheint die ausdrucksstarke Schauspielerin eine besondere Faszination auszuüben. Abends allein im Hotel bewundert Margaux den Schatten ihres eigenen Körpers an der Wand.

In eindrücklichen, teils fast traumartigen Bildern fängt Jenna Hasse die verzauberte Atmosphäre dieses Sommers ein. Für alle drei Freund*innen bildet der See immer wieder einen Zufluchtsort und spielt somit eine der Hauptrollen. Doch der Genfersee, der einerseits Weite und Ferne verspricht, anderseits aber von Bergen umringt und eingeengt wird, spiegelt auch das Gefühl der drei zwischen der Sehnsucht nach Aufbruch und den Zwängen der äußeren Umstände wider.

Einen mythischen Überbau bekommt der See zudem durch eine Legende, die Joël aus Indonesien kennt: Die Reiher am See, die einige Male in den Bäumen oder am Ufer zu sehen sind, sollen umherirrende Seelen transportieren. Das seien Geister, Menschen die gestorben seien, erklärt Margaux der kleinen Juliette, die daraufhin überzeugt davon ist, ein Reiher, der ihnen ständig folge, sei ihre verstorbene Mutter.

L’AMOUR DU MONDE ist ein leiser, atmosphärisch dichter Coming-of-Age-Film, in dem Jenna Hasse sommerlich-melancholische Bilder für die unvergessliche Stimmung des ersten Verliebtseins findet. Doch es geht auch um Zukunftsträume, Einsamkeit, Abschiede, Trauer, unerfüllte Sehnsüchte – und um eine Freundschaft zwischen Menschen, die mehr verbindet, als es auf den ersten Blick scheint. Über allem liegt die Magie, aber auch die Flüchtigkeit dieses einen Sommers, in dem sich alles ändert.

Stefanie Borowsky

Termine bei der 73. Berlinale:

Donnerstag, 23.02.2023, 18:45 Uhr, Cubix 8
Sonntag, 26.02.2023, 15:30 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain

Panorama: Das Lehrerzimmer

Die junge Lehrerin Clara Nowak (Leonie Benesch) ist Klassenlehrerin in einer sechsten Klasse. Sie ist relativ neu an ihrer Schule, unterrichtet Mathe und Sport und kommt gut mit ihren Schüler*innen zurecht. Direkt und freundlich spricht sie Probleme schnell an, sei es in der Klasse oder im Kollegium. Dort ist die Stimmung latent gereizt, denn es gibt einen Dieb an der Schule. Der Verdacht fällt zunächst auf Ali, einen von Claras Schülern, den eine Delegation der Schulleitung, ohne sich mit Clara abzustimmen, aus der Klasse holt, nachdem sie sich die Geldbörsen aller Jungen haben zeigen lassen - natürlich „freiwillig“. Ali stellt sich als unschuldig heraus, aber die Eltern sind verärgert, Clara ist verärgert, die Schüler*innen sind verunsichert, Gerüchte von „racial profiling“ machen die Runde, und der Dieb klaut weiter.

Im Film des Berliner Regisseurs Ilker Çatak (ES GILT DAS GESPROCHENE WORT, RÄUBERHÄNDE) ist Schule vor allem ein Ort, an dem es nicht möglich ist, sich aus dem Weg zu gehen. Alles, was irgendjemand tut, hat Einfluss auf die anderen Menschen in diesem Mikrokosmos. Die Enge wird noch betont durch das alte Fernsehformat 4:3, das den Blick auf die Personen und ihre Interaktionen fokussiert. Wie Wellen in einem Pool breiten sich Gerüchte und Ereignisse in der Schule aus, werden von den Wänden zurückgeworfen, splittern in Unterbaustellen auf und sind in ihrer Vielzahl und Kleinteiligkeit bald nicht mehr beherrschbar.

Die „Polizeiaktion“ im Klassenzimmer ist dabei nur der Anfang. Verärgert und misstrauisch ihren Kolleg*innen gegenüber, lässt Clara bewusst Geld in ihrer Jacke im Lehrerzimmer zurück und stellt die Kamera ihres davor stehenden Laptops auf Aufnahme – und erwischt tatsächlich eine Kollegin auf frischer Tat. Das Problem: Die Frau streitet die Tat vehement ab, und die Überwachung von Kolleg*innen ist natürlich illegal. Mit der Unaufhaltsamkeit einer Screwball-Komödie oder eines Katastrophenthrillers eskaliert Çatak die Situation weiter: Während die Schulleitung ein Redeverbot verhängt, entwickeln die Gerüchte ein Eigenleben. Es kommt zu Mobbing, WhatsApp-Verdächtigungen, ein Elternabend läuft aus dem Ruder, die Schülerzeitung wird investigativ tätig und umgehend verboten …

Im Zentrum steht Clara, die versucht, an allen Ecken Feuer zu löschen, und dabei vom Regen in die Traufe gerät. Nach und nach schält sich noch ein weiterer Protagonist heraus. Der Junge Oskar (Leonard Stettnisch), ebenfalls ein Schüler Claras und zugleich Sohn der Diebin, sitzt in diesem Ringen um Wahrheit, Gerechtigkeit, Schulfrieden und Regelkonformität zwischen allen Stühlen. Das Kind, das im Zentrum des Schulgeschehens stehen sollte, droht, von ihm zerrieben zu werden.

Der Film sympathisiert eigentlich mit so gut wie allen Akteur*innen des Films, der im Übrigen auch ein großartiger Ensemblefilm ist – allein die Szenen in den Klassen und Gängen mit Dutzenden von Kindern sind fantastisch gespielt und inszeniert.

Auf jeden Fall ein Panorama-Publikumspreis-Kandidat.

Hendrike Bake

Weitere Vorführungen:

Sa 25.02. 18:30
Cineplex Titania
Audiodeskription via App GRETA

Hommage: Die Fabelmans

Spielbergs Film THE FABELMANS ist der privateste und autobiografischste, vielleicht auch der neurotischste der Hollywood-Rückblicke, die in letzter Zeit ins Kino gekommen sind, und ein Schlüsselfilm für die Karriere des Regisseurs.

Alles beginnt mit einem kleinen Jungen, Sammy Fabelman, der das erste Mal mit seinen Eltern ins Kino geht und Angst vor dem Dunkel des Saales hat. Die Eltern können ihn überzeugen, und dann sitzt er mit offenem Mund und dem typischen „Spielberg Face“ (Kevin E. Lee), wie hypnotisiert vor der Leinwand und betrachtet eine Szene aus dem Film THE GREATEST SHOW ON EARTH (Cecil B. DeMille, 1952): Ein Zugunglück, bei dem sich ein Auto den Schienen verfangen hat. Die Familie kauft eine Super-8-Kamera, Sammy wünscht sich eine Eisenbahn, und reinszeniert das Unglück. Dabei zeigt er ein natürliches Verständnis für die Filmsprache. Mutter Mitzi Fabelman (Michelle Williams), eine Ex-Pianistin, erkennt Sammys Talent sofort, Vater Burt Fabelman (Paul Dano), ein Ingenieur, interessiert sich für die technischen Aspekte, hält Sammys Hobby aber für nicht weiter bedeutend. Zwei Schlüsselszenen des Films umschreiben Spielbergs Verhältnis zum Kino: Sammy entdeckt in Filmmaterial, dass er auf einem Familien-Campingausflug gedreht hat, dass seine Mutter eine Beziehung mit dem besten Freund seines Vaters eingegangen ist. Er schneidet das Material entlarvend zusammen, bevor er den Film seiner Mutter vorführt. Film als Mittel zur (privaten) Wahrheitsfindung. Die zweite Schlüsselszene: Sammy filmt seinen Schulfeind, einen antisemitischen Bully, in einem Film über einen Schulausflug als strahlenden Helden. Film als Abwehr von Trauma und Gewalt. Ein Cameo von David Lynch, der als John Ford eine von Spielberg gern erzählt Anekdote nachspielt, ist eine Art Kirsche auf dem Zuckerguss.

Tom Dorow

Weiter Vorführungen:

Do 23.02. 22:00
Verti Music Hall

Encounters: MON PIRE ENNEMI

Der Filmemacher Mehran Tamadon möchte gerne auch die Menschen verstehen, die eine ganz andere Sichtweise als er selbst haben. Deswegen hat sich der atheistische, Kommunist*innensohn für seine Filme BASSIDJI (2009) mit Mitgliedern der strengmuslimischen Paramiliz und für IRANIEN (2014) mit vier Mullahs zusammengesetzt, um zu versuchen, im Dialog eine Annäherung zu erreichen. IRANIEN wurde 2014 als Forum-Beitrag auf der Berlinale gezeigt, führte aber auch dazu, dass Tamadon im Iran festgenommen und verhört wurde und schließlich sein Pass eingezogen wurde. Seitdem in Frankreich lebend, führt er seine Annäherungsversuche weiter: Der Plan, der hinter seinem neuen Film MON PIE ENNEMI steckt, erscheint auf den ersten Blick sehr einfallsreich.
Tamadon wird mit drei weiteren Exiliraner*innen in einem verlassenen Haus eine Situation inszenieren, in sie eine Befragung durch das Regime nachgespielt wird, und die anderen jeweils die befragende Rolle einnehmen. Wie genau sie diese Rolle ausleben und ob/wie sie dabei auch Folter einsetzen, bleibt ihnen freigestellt. Dieses Experiment wird für einen Film aufgezeichnet und geschnitten, den Tamadon irgendwann versuchen will, in den Iran einzuführen. Die dabei unausweichliche Verhaftung und Sichtung des Films durch iranische Sicherheitskräfte soll den echten Folterern einen Spiegel vorhalten und sie so zum Nachdenken anregen.
Die ersten Schritte mit zwei Männern sind vielversprechend: Erfahrungen werden verglichen, Szenarien und Ansätze ausprobiert, und nebenbei werden philosophische Thesen wie „Haben Folterknechte ein Gewissen?“ diskutiert. Aber als die Schauspielerin Zar Amir Ebrahimi (TEHERAN TABOO, HOLY SPIDER) die metaphorische Knute in die Hand nimmt, erreicht der Film eine ganz neue Qualität: Ihr Folterer wird niemals laut und strahlt nur eine stoische Verachtung aus, aber sie schreckt auch nicht davor zurück, den Regisseur körperlich zu quälen und zu demütigen. Vor Allem aber kommen ihre Anschuldigungen nicht nur aus einer fiktiven Rolle, sondern sie beginnt irgendwann, Tamadons Gedanken hinter seinen Filmen und dem Wunsch nach Annäherung und Verständnis mit Menschen, die selbst keinerlei Interesse an soetwas haben, zu kritisieren. Kann Kunst in solchen Situationen etwas ausrichten oder ist sie letztlich nur eine Bauchnabelschau? Die Entwicklung dieses internen Konflikts zu beobachten, ist absolut faszinierend, und erhält eine zusätzliche bedrückende Note dadurch, dass der Film fertiggestellt wurde, bevor das iranische Regime in seiner Reaktion auf die „Women. Life. Freedom“-Bewegung absolut klarstellte, wie wenig es an einem Dialog interessiert ist.

Mi 22.02. International, 11:00
Mi 22.02. Zoo Palast 5, 13:30
Mi 22.02. Cubix 5, 22:00



(Christian Klose)

Berlinale 2023 Dispatches #2

First of all, I have to ask, was I the only one who thought MANODROME was a comedy? One of the joys of attending film festivals is that very often you only have a few sentences from a program blurb to go by. This can be exciting, because under normal circumstances we often know all too much about a movie going in. But sometimes, you see the name Jesse Eisenberg and a synopsis involving an Uber driver and a “masculinity cult” and you make an assumption that it’s going to be something along the lines of VIVARIUM or THE ART OF SELF-DEFENSE. Well, it turns out that MANODROME might be one of the bleaker, more un-funny movies at Berlinale this year — which, of course, is saying something. But if you’re in the mood for a modern, less nuanced riff on TAXI DRIVER, then by all means…

With that out of the way, I’d like to offer some more recommendations — and this time I’ll stick to the films that I can personally vouch for. The first being PAST LIVES, the debut film from writer/director Celine Song and another entry in the Competition lineup. PAST LIVES tells a seemingly simple tale of two childhood sweethearts who grew up in Korea. The girl moves to America, the boy stays in Korea. Years go by, the two find each other online, and a long distance romance ensues. This is the first act of the film, and it’s handled beautifully, but where PAST LIVES goes from here is so achingly human and bittersweet that I was a weepy mess by the end of the film. But don’t get me wrong — this isn’t a depressing movie. Quite the contrary, by the time the credits roll, you’ll have fallen in love with all three of the main characters and your heart will feel like it's grown two sizes. It’s a star-making film for actress Greta Lee, and absolutely one of the best of the fest.

Over in the Encounters section is another heart-warmer, albeit one that is a bit more prickly than most, Dustin Guy Defa’s THE ADULTS. The movie focuses on three siblings played by Michael Cera, Hannah Gross, and Sophia Lillis, who are now on their own with their mother having passed away. When Cera flies back into town, lingering resentments clash with desires to reconnect and mend their fractured relationships. THE ADULTS gets at the way siblings communicate in their own special language, as well as how cries for help can take the form of passive aggressive needling. Cera has never been better, and he delivers a single-take monologue about a child's first understanding of death that is an absolute stunner. But perhaps the brightest star is Sophia Lillis. She was the best thing about the recent two-part IT adaptation, and in THE ADULTS she proves that she is one of the most charming and beguiling screen presences of her generation.

Meanwhile, playing in the Panorama section is the singularly strange HELLO DANKNESS, from the A/V collage artists known as Soda Jerk. If the past few years have made you feel like you’re in some nightmare version of a disaster movie — if the pileup of absurd conspiracy theories has made you question the difference between reality and wish fulfillment — then you might find HELLO DANKNESS to be either the funniest or saddest movie of the festival. Clips from hundreds of films, including WAYNE’S WORLD, NIGHTMARE ON ELM STREET, THIS IS THE END, and AMERICAN BEAUTY have been seamlessly spliced together to evoke the nightmare that was the Trump presidency and the subsequent COVID-19 pandemic. It’s hallucinatory stuff, and from minute-to-minute the film can make you laugh out loud or hang your head in despair over the state of current affairs. Given the amount of pirated material, this is a film that won’t likely be playing at a kino near you anytime soon, so catch it now, if you can.

If you want to get even more experimental, I can also recommend Viera Čakányová’s NOTES FROM EREMOCENE (Poznámky z Eremocénu), which is part of the Forum lineup. Like a lot of Forum films, it eschews narrative conventions to try and get at something deeper in regards to the human experience. But unlike other films, it shows a remarkable control of digital editing techniques to place us in the future and then put us in the shoes of some disembodied lifeforce who is curious about what happened on Earth in the 21st century. It’s a fascinating head-trip of a film that touches on artificial intelligence, language, activism, and ecological collapse, among other subjects, and fans of Nick Cave will likely be moved by the film’s soundtrack choices. Again, this is another one of those films that will benefit from being seen on the big screen of Berlinale.

PAST LIVES
Mon Feb 20 @ 10:00 — Cubix 9
Mon Feb 20 @ 22:00 — Verti Music Hall
Sun Feb 26 @ 09:30 — Haus der Berliner Festspiele

THE ADULTS
Sun Feb 26 @ 11:00 — International

HELLO DANKNESS
Wed Feb 22 @ 16:00 — International
Thu Feb 23 @ 22:00 — Cubix 7
Fri Feb 24 @ 13:00 — Cubix 5
Sat Feb 25 @ 12:30 — Cubix 9
Sun Feb 26 @ 21:45 — Zoo Palast 3
Sun Feb 26 @ 21:45 — Zoo Palast 4
Sun Feb 26 @ 21:45 — Zoo Palast 5

NOTES FROM EREMOCENE
Mon Feb 20 @ 16:00 — Kino Arsenal 1
Thu Feb 23 @ 20:00 — Werkstattkino@silent green
Sat Feb 25 @ 19:00 — Zoo Palast 2
Sun Feb 26 @ 16:00 — Cubix 7

(Sean Erickson)

Berlinale Special: GOLDA

GOLDA feiert den Yom-Kippur-Krieg aus israelischer Perspektive und schenkt Helen Mirren eine Paraderolle als gebeutelte Regierungschefin.

Der Yom-Kippur-Krieg 1973 war der vierte in der langen Reihe israelisch-arabischer Kriege. Wie in allen Auseinandersetzungen davor und danach ging es um Gebietsstreitigkeiten, Gerangel um Grenzlinien, Erobern und Zurückgewinnen von Landstrichen. Im kollektiven Bewusstsein Israels hat der 19-tägige Krieg einen herausgehobenen Platz, weil der Angriff der syrischen und ägyptischen Armeen ohne Vorwarnung an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, erfolgte und weil die bis dahin als unbesiegbar geltende israelische Armee in die Nähe einer Niederlage kam. In weniger als drei Wochen kamen tausende Soldaten ums Leben, Ministerpräsidentin Golda Meir musste im darauffolgenden Jahr aufgrund ihrer Entscheidungen in diesem Krieg zurücktreten.
All dies ist im Nachhinein angelesenes Wissen. Der Film GOLDA von Guy Nattiv, der heute als Berlinale Special Premiere hat, erzählt die Geschichte anders. Er lässt beinah jede reflektierende Einordnung weg und ist größtenteils ein erstaunlich schlichter Kriegsfilm, der völlig unambivalent die israelische Perspektive übernimmt. Israel ist demnach Opfer eines hinterhältigen Angriffs, hat selbstverständlich das Recht auf die umkämpften Gebiete und ist dank des Geschicks seiner politischen und militärischen Führung schon fast Sieger, als der Spielverderber Kissinger mit seinem Beharren auf einem Waffenstillstand dazwischen grätscht. Seine Spannung will dieser Film mit ausführlichen militärischen Strategiebesprechungen erzeugen, als Publikum soll man abgeschossene ägyptische Panzer mit einer so simplen Parteinahme bejubeln, dass es unangenehm aufstößt. Vor allem preist der im Kriegsjahr geborene Israeli Nattiv die auch „Eiserne Lady Israels“ genannte Golda Meir als opferbereite Heldin, die zu einem hohen persönlichen Preis ihr Land rettet.
Der Coup des Films ist die Besetzung der Titelrolle mit Helen Mirren. Die 75-jährige Golda Meir, die sich als eine der ersten Regierungschefinnen der Welt unter politischen Schwergewichten behauptet und ihre Krebserkrankung vor der Öffentlichkeit verbirgt, ist natürlich eine Traumrolle. Mirren wollte sie unbedingt spielen und ohne sie wäre dieses Werk wohl nicht im Berlinale-Programm gelandet. Sie spielt brillant Meirs desillusionierte politische Klugheit und ihren Kampf gegen Krankheit und Verfall, eine Küchenszene mit Kissinger ist ein einsamer komischer Höhepunkt. Doch die fast obsessiv häufig eingesetzten Detailaufnahmen von Mirren-Goldas stark prosthetisch verändertem Gesicht lösen das darin steckende Versprechen nicht ein, in die sicherlich komplexe Gedankenwelt der Hauptfigur hineinzuschauen. Goldas Kampf bleibt immer gut und richtig, und Mirrens Schauspielleistung kann die gedankliche Eindimensionalität des Films nicht verdecken. Dass die Berlinale, die sich so viel auf ihr politisches Bewusstsein zugutehält, einem Film mit so einseitiger, kritikloser Botschaft einen Gala-Auftritt verschafft, überrascht.

(Susanne Stern)

Wettbewerb: Ingeborg Bachmann – Reise in die Wüste

Als Ingeborg Bachmann (Vicky Krieps) Max Frisch (Ronald Zehrfeld) zum ersten Mal in Zürich besucht, ereignet sich der folgende Dialog. Nachdem er sie durch seine Wohnung geführt hat, öffnet Frisch die Tür zum Wohnzimmer und sagt „... aber reden wir heute nicht mehr über Literatur.“ „Worüber reden wir dann?“, fragt Bachmann. „Über Ihr Lächeln,“ antwortet Frisch.

Die Szene fasst ganz gut zusammen, worum es Margarethe von Trotta in ihrem Biopic geht, aber auch, woran es hakt. Der Dialog gibt einen Ausblick auf das Scheitern der Beziehung. Schuld sind vor allem gesellschaftliche Normen und ein traditionelles Frauenbild Frischs, die dafür sorgen, dass er die Arbeit Bachmanns zwar sehr bewundert, aber mit der Freundin doch lieber über ihr Lächeln plaudern möchte. Er stört sich an ihrer Unabhängigkeit, an ihren Affären, an ihrer Weigerung, ihn zu heiraten. Er nennt sie „mein Mädchen“ und macht sie zum Objekt seiner Literatur. Sie wirft ihm dafür Verrat vor. Nachdem sie zu ihm nach Zürich gezogen ist, verliert sie ihren Rhythmus und ihren Ort. Neben seinem Schreibmaschinengeklapper und unter Aufsicht, geschweige denn ohne ordentlichen Espresso kann sie nicht schreiben. Sie zieht weiter in ihr geliebtes Rom. In einer Schlüsselszene erläutert sie, dass die Ehe für Frauen, die arbeiten möchten, das Ende bedeutet. „Der Faschismus beginnt in der Beziehung zwischen Mann und Frau.“ INGEBORG BACHMANN ist vor allem ein Film darüber, wie ein traditionelles Rollenverständnis die Liebe und die Kunst tötet.

Dabei kommt Max Frisch von Anfang an ziemlich schlecht weg, und das ist ein Problem. Es wird an keiner Stelle deutlich, warum Bachmann sich eigentlich überhaupt und dann noch so sehr in den 15 Jahre älteren Schweizer verliebt hat, dass die Trennung vier Jahre später zu Nervenzusammenbrüchen und Krankenhauseinweisungen führen sollte. Hat ihr die altväterliche Art, die Zehrfeld als Frisch an den Tag legt, eine Art Sicherheit vermittelt?
„... reden wir heute nicht mehr über Literatur.“ So ein Satz ist schwer vorstellbar bei einem Schriftstellerpaar, dass sich gerade eben noch über das Gespräch über Literatur kennengelernt hat (er hat ihr Hörspiel „Der gute Gott von Manhattan“ gehört und sie daraufhin angeschrieben“, gemeinsam haben sie später auf einer Brücke Apollinaire zitiert) und zu den brilliantesten Autoren des letzten Jahrhunderts gehörte, und, sollte man vermuten, einander vor allem deshalb so attraktiv fand, weil sie sich etwas zu sagen hatten. Wie die Leidenschaft wird die Intellektualität der Figuren lediglich behauptet. Zehrfeld hat eine Brille auf, aber nirgendwo funkelt und knistert es.

Da die Beziehung nie recht zum Leben erwacht, bleiben auch ihr Zerfall und Bachmanns Versuche, die Trennung zu bewältigen, gleichgültig. Zehrfeld und Krieps geben ihr Bestes, aber die statischen Einstellungen und die zweckmäßigen Dialoge geben ihnen wenig Raum, um ihren Figuren Leben einzuhauchen. Hinzu kommt, dass Krieps sanft fließendes, bedächtiges Spiel es schwer macht, in ihr die rigorose Intellektuelle zu sehen, die zuallererst in Sprache existierte und mit dem Schreiben von Gedichten aufhörte, als sie ihr zu leicht fielen. Wenn Krieps spricht, erinnert ihre Sprachmelodie entfernt an Bachmann, aber während es bei Bachmann um den Inhalt geht, moduliert Krieps vor allem schön. Nie stockt ihr der Atem. So in Einklang wie Krieps mit ihrem Körper ist, kann ich mir eine Ingeborg Bachmann nicht vorstellen.

Und die Reise in die Wüste? Ist metaphorisch aber auch konkret. In der Rahmenhandlung reist Bachmann mit Adolf Opel, einem weiteren jungen, Liebhaber nach Marokko, während in Rückblenden die Geschichte ihrer Beziehung zu Max Frisch erzählt wird. Die Wüste ist eine Art Nullpunkt von dem aus Bachmann wieder neu anfangen kann, die Reise ist eine reinigende Geste, ein Ankommen und ein Aufbruch.

Hendrike Bake

Weitere Vorführungen:

So 26.02. 17:30
Haus der Berliner Festspiele
Audiodeskription via App GRETA

Panorama: Inside

Wie ist der Wert von Kunst zu bemessen? Welchen Wert hat Kunst, wenn sie, statt betrachtet zu werden, in einem privaten Penthouse ihr einsames Dasein fristet? Für Nemo, einen Meister seines Fachs, ist Kunst das wichtigste Gut. Doch als der Dieb bei einem Einbruch in dem vielfach gesicherten Smart Home eines hochkarätigen Sammlers festsitzt, wird sie wertlos. Das drei Millionen teure Selbstporträt von Egon Schiele wird zum einfachen Gegenstand, die Bronzeskulptur von Lynn Chadwick zu einem Hebel zum Öffnen verschlossener Türen, hinter denen sich kein Ausweg befindet. Für Nemo geht es um das nackte Überleben, denn aus den Leitungen kommt kein Wasser, und der Kühlschrank ist leer. Der einfallsreiche Gauner, der sich sonst aus jeder Situation zu helfen weiß, ist eingesperrt in einen goldenen Käfig – und wir sind ganz mit ihm allein.
Da braucht es einen exzellenten Hauptdarsteller, der keine Grenzen scheut. Der griechische Autor und Regisseur Vasilis Katsoupis konnte für sein Spielfilmdebüt Willem Dafoe für die Rolle des Nemo gewinnen und schenkt ihm für 100 Minuten die ganze Leinwand. Namenlose Nebenfiguren tauchen nur in den Bildern der Überwachungskamera von draußen auf. Neben der kraftvollen Bildgestaltung von Steve Annis (I AM MOTHER) und dem cleveren Drehbuch von Katsoupis und Ben Hopkins (THE NINE LIVES OF THOMAS KATZ) ist es vor allem Dafoes Schauspielkunst, die hier zu bewundern ist. Sein schleichender körperlicher und geistiger Verfall ist schmerzhaft spürbar. Gleichzeitig hält die Inszenierung die Spannung aufrecht mit immer neuen Ideen Nemos, aus dem luxuriösen Gefängnis auszubrechen, angetrieben von einer eigenen kreativen Energie. So entsteht neue Kunst in der Isolation. Die klaustrophobische Tour de Force wurde in einem Kölner Studio inmitten der Pandemie gedreht. Durch die Umstände erhält INSIDE eine zusätzliche, erschreckend aktuelle Ebene.

Lars Tunçay

Vorführungen:

Mon Feb 20 18:30
Zoo Palast 1

Tue Feb 21 12:15
Haus der Berliner Festspiele

Wed Feb 22 10:00
Cubix 7

Sat Feb 25 22:00
Akademie der Künste

Sun Feb 26 18:30
Cineplex Titania

Wettbewerb: PAST LIVES

Manchmal sitzt man im Kino und fiebert innerlich mit, nicht nur mit den Personen, sondern auch mit der Inszenierung. „Bitte lass sie sich noch einmal umdrehen“, denkt man dann zum Beispiel, oder „bitte lass ihn gehen“, „bitte lass diese Szene noch einen Moment andauern“, oder auch „bitte lass diese perfekte Einstellung das Ende sein.“ Vom zurückhaltenden Einstieg bis zum zarten Ende ist PAST LIVES ein Film, bei dem jede Nuance stimmt, der jede feine Schwingung, die zwischen den drei Protagonist*innen in der Luft hängt, einfängt, der nie zuviel erzählt und nie zuwenig.

Regisseurin Celine Song nähert sich in PAST LIVES ihrem Thema sehr vorsichtig, weil sie weiß, dass die Dinge manchmal verschwinden, wenn man sie zu hell zu beleuchtet oder zu früh zu benennt. Zu Beginn sieht man drei Personen am anderen Ende des Raumes am Tresen einer Bar sitzen. Die Frau in der Mitte unterhält sich lebhaft mit dem Mann zu ihrer Rechten. Zu ihrer Linken sitzt ein weiterer Mann, etwas dichter. Er beteiligt sich nicht am Gespräch und sieht vor sich hin. Im Off fragen sich andere Kneipengäste, wer diese Drei sind: Freunde, ein Paar und zwei Geschwister, Geliebte?

Auch der Film stellt diese Frage, die weiter reicht als nur zu den Beziehungen zwischen ihnen, und die drei Jahrzehnte umspannt. Zunächst springt die Zeit um 24 Jahre zurück. Young Na und Hae Sung sind Schulkinder in Korea, beste Freunde und ein bisschen verliebt. Young Na erzählt ihrer Mutter, dass sie Hae Sung in der Zukunft heiraten wird. Doch diese Zukunft gibt es nicht, denn die Familie emigriert nach Toronto. Young Na bricht auf in ein neues Leben, in dem sie Nora heißen wird. Hae Sung bleibt an der Straßenkreuzung, an der die beiden nach jedem Schultag voneinander Abschied genommen haben, zurück.

Zwölf Jahre später ist Nora nach New York gezogen und hat eine vielversprechende Karriere als Autorin begonnen. Durch Zufall stößt sie auf ein Social Media-Posting von Hae Sung, in dem er nach ihr sucht. Sie textet ihm, und bald chatten sie regelmäßig von Seoul nach New York. Ihre Begegnungen finden in einer Art Zwischenwelt statt. Sie kennen sich gut von früher und auch wieder nicht, sie sprechen zwischen Tag und Nacht, gerade erst wach und oder schon wieder müde, teilen Ausschnitte aus unterschiedlichen Leben, unterbrochen von wackeligen Internetverbindungen und von einem Alltag, in dem die andere Person nicht vorkommt.

Weiter zwölf Jahre vergehen. Nora hat Arthur geheiratet, den sie bei einer Artist's Residency kennengelernt hat, und lebt im East Village. Sie sind ein freundliches, glückliches Paar. Hae Sung ist Ingenieur geworden, hat eine Zeit lang in China gelebt und geht immer noch mit den gleichen Freunden trinken. Nachdem seine Freundin ihn verlassen hat, fliegt er nach New York, um Nora zu besuchen. Und erneut, zum nunmehr vierten Mal erzählt PAST LIVES eine Kennenlerngeschichte, den die Nora und der Hae Sung, die sich jetzt treffen, haben nichts mehr gemein mit den Kindern von eins und den Twens, die sich nur im Cyber Space begegneten. Sie müssen herausfinden, wer sie füreinander und für sich selbst eigentlich sind. Das gilt insbesondere für Nora, die sich zu verschiedenen Welten zugehörig fühlt.

PAST LIVES ist ein zutiefst romantischer Film voller Abschiede und Begegnungen, Anfänge und Enden. Immer wieder umkreisen die Gespräche halb-ironisch, halb-ernst „In-Yun“, eine koreanische Vorstellung von Schicksal, die Begegnungen als vorherbestimmt sieht. Wer sich flüchtig begegnet, war in einem vorherigen Leben ein Paar, und wer heiratet, ist sich über den Verlauf von vielen Wiedergeburten 8000 Mal begegnet, erklärt Nora. In PAST LIVES ist In-Yun kein statisches Konzept, sondern lässt Raum für Gleichzeitigkeiten und für Bewegung: Vielleicht gibt es die eine vorherbestimmte Person so wenig, wie jemand Leben lang die gleiche Person bleibt.

Hendrike Bake


Weitere Vorführungen:

Mo 20.02. 22:00
Verti Music Hall

So 26.02. 09:30
Haus der Berliner Festspiele

Wettbewerb: MANODROME

Ralphie (Jesse Eisenberg) ist jung, Weiß und wütend. Als Uber-Fahrer ist sein Leben buchstäblich fremdbestimmt. Seinen eigenen Zielen bringt ihn der Job nicht näher und zum Überleben reicht das verdiente Geld auch eher schlecht als recht. Seine Freundin Sal (Odessa Young) hat ein etwas verlässlicheres Einkommen, aber auch sie hasst den Mist, den sie verkauft und die Leute, die ihn kaufen. Aber wenn man wie Ralphie bald Vater wird, muss man seine Familie zumindest ernähren können, selbst wenn man keine Ahnung hat, wie der Rest geht. Aber wenn man Ralphie mit seinen grellrot gefärbten Haaren im Fitnesstudio zu aggressivem Metalcore trainieren sieht, ist klar, dass in ihm eine ungeheure Wut nur darauf wartet, sich irgendwann Bahn zu brechen. Bis er eines Tages über einen Freund an „Dad Dan“ (Adrien Brody) gerät, der eine Art Retreat betreibt, bei dem neue Rekruten als „Sohn“ anfangen, sich in den Sitzungen dadurch definieren, wie lange sie schon auf Sex verzichtet haben, bevor sie ihre Wut und Schmerz konfrontieren, und als Gegenmittel zusammen Mantren ihrer Mannesstärke aufsagen. Im Normalfall brechen die „Söhne“ irgendwann alle Verbindungen zu ihrem alten Leben ab und ziehen komplett in Dans Haus, wird Ralphie gesagt. Und wenn Dad Dan sagt, ein Mann solle sich nehmen, was ihm zusteht, dann beinhaltet das auch eine halbautomatische Pistole.

Soweit, so FIGHT CLUB. Aber der queere Regisseur John Trengrove, der in DIE WUNDE schon die homoerotische Seite von afrikanischen Initiationsriten beleuchtete, schafft es in MANODROME gleichzeitig Erwartungen zu erfüllen und den Film dabei in eine unerwartete Richtung zu leiten. Dans Kult erinnert nicht von ungefähr an Gruppierungen wie die sogenannten „Incels“ und auch der Wunsch, sich von der weiblichen „Gynosphere“ loszusagen, könnte aus einem ihrer Foren stammen. Die Wut und die Gewalt, in der Ralphies Geschichte unweigerlich enden wird, richtet sich aber nicht gegen Frauen, sondern ausschließlich gegen andere Männer und gegen sich selbst. Abgesehen von Sal kommen Frauen in der Geschichte des Films nur am Rande vor. Stattdessen zieht sich als Thema die Suche nach Vaterfiguren durch den Film, bei der immer wieder Hoffnung besteht. Ralphie kann mit seinem Schmerz nicht umgehen und je mehr er seinem Anspruch an sich selbst als werdender Vater nicht gerecht werden kann, desto mehr steigert er sich in die Wut hinein, und verliert die Verbindung zur Realität. Dadurch, dass der Film ihm neben Dan aber noch zwei weitere, gesündere, Vaterfiguren anbietet, von dem eine, Ahmet (Salieu Sesay), das genaue Gegenteil von Ralphies Weißer Wut ist, erlaubt Trengrove dem Publikum immer wieder mit einer Figur mitzufühlen, die ansonsten unweigerlich auf den Abgrund zurennt und dabei nicht nur sich selbst mitreißen wird. Ob man mit so einem Menschen mitfühlen will oder sollte, ist eine Frage, die gestellt gehört, aber MANOSPHERE wird auf jeden Fall Stoff für Diskussionen jenseits von Klischees bieten.

20.2. Haus der Berliner Festspiele 10 Uhr
21.2. Verti Music Hall 15:45
26.2.: Berlinale Palast, 18 Uhr

(Christian Klose)

Generation 14plus: WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR

Wenn es darum ginge, einen Preis für die ungewöhnlichste Kindheit zu gewinnen, hätte Josse (als Kind: Camille Loup Moltzen, als Teenager: Arsseni Bultmann, als junger Erwachsener: Merlin Rose) sicher die Nase vorn. Weil sein Vater (Devid Striesow) die größte Kinder- und Jugendpsychiatrie Schleswig-Holsteins leitet, wachsen Josse und seine beiden älteren Brüder in den 1970er- und 80er-Jahren in der Direktorenvilla auf dem Klinikgelände auf. Begegnungen und Freundschaften mit den größtenteils minderjährigen Patient*innen mit geistigen Behinderungen oder psychischen Erkrankungen gehören für Josse zum Alltag.

Josse, der unter gelegentlichen Wutanfällen leidet, die oft seine Brüder durch ihr Verhalten auslösen, geht in der Klinik ein und aus. Mal schaut er mit den Patient*innen Zeichentrickserien im Fernsehen an, mal isst er Pudding in der Großküche, mal rät er mit einer Mitarbeiterin seines Vaters, auf welcher der vielen Stationen eine bestimmte Patientin liegt. Wenn der kleine Josse traurig ist, trägt ihn ein erwachsener Patient, den er den „Glöckner“ nennt, auf seinen starken Schultern und reitet mit ihm über das Klinikgelände. Josse erlebt ständig neue Abenteuer – und muss nebenher erwachsen werden.

Zu der suizidgefährdeten Patientin Marlene (Pola Geiger), die für eine Weile bei den Meyerhoffs einzieht und sich hauptsächlich von BiFi-Würstchen ernährt, fühlt sich Josse mehr und mehr hingezogen. Doch eines Tages entdeckt der mittlerweile 14-Jährige ein Geheimnis, das seinen antiautoritären, liebevollen Vater in einem neuen Licht erscheinen lässt – und seine unkonventionelle, aber gut eingespielte Familie vor eine Zerreißprobe stellt.

Mit WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR, dem autobiografischen Roman über seine 70er- und 80er-Jahre-Kindheit als Sohn des Leiters der Kinder- und Jugendpsychiatrie auf dem Hesterberg in Schleswig, in der etwa 1500 Patient*innen lebten, gelang dem ehemaligen Burgschauspieler Joachim Meyerhoff, der 2019 an die Berliner Schaubühne wechselte, 2013 ein sensationeller Erfolg. Regisseurin, Drehbuchautorin und Schriftstellerin Sonja Heiss (HEDI SCHNEIDER STECKT FEST) verfilmt den so witzigen und skurrilen wie anrührenden Bestseller über das Aufwachsen an einem sogenannten Nicht-Ort nun mit prominenter Besetzung.

So sind Devid Striesow als engagierter Psychiater und toleranter Vater und Laura Tonke als Josses sich nach rotweingetränkten Abenden in Italien sehnende und im Wohnzimmer enthemmt zu „Felicità“ von Al Bano und Romina Power tanzende Mutter zu sehen. Axel Milberg verkörpert in einer urkomischen Episode den ehemaligen Schleswig-Holsteinischen Ministerpräsidenten Gerhard Stoltenberg, der bei einem Besuch auf dem Psychiatriegelände eine unvergessliche Begegnung mit dem Patienten Rudi und dessen Spielzeugpistole hat. Lina Beckmann spielt die Haushaltshilfe der Familie, deren Name die drei Brüder jahrelang zum Lachen bringt: Frau Fick.

Mit einem überzeugenden Szenen- und Kostümbild und der Musik vor allem der 80er-Jahre – u. a. „Eisbär“ von Grauzone, „Enola Gay“ von Orchestral Manoeuvres in the Dark und „Cosmic Dancer“ von T. Rex – lässt Sonja Heiss in verschiedenen Episoden Meyerhoffs Kindheitswelt wiederauferstehen. Auch Menschen mit Behinderung übernahmen kleinere Rollen in dem rundum überzeugend inszenierten Film, der von Josses Leben in verschiedenen Phasen des Erwachsenwerdens handelt, von der Kindheit bis ins junge Erwachsenenalter. Den größten Teil des Coming-of-Age-Films nimmt dabei die Zeit als Teenager ein.

Sonja Heiss gelingt es, den heiter-melancholischen Ton der mittlerweile fünf Bände umfassenden Romanreihe von Joachim Meyerhoff zu treffen. Der Titel des Films sowie des zweiten Bandes der Reihe, WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR, spiegelt den Grundtenor der Geschichte wider: die Sehnsucht nach einer Zeit, die nur noch in der – teilweise verklärten – Erinnerung existiert. Dazu passt die Songzeile aus „This Is the Day” von The The, die zu Filmbeginn erklingt: „All the money in the world couldn't buy back those days.” Vieles übernahmen Heiss und ihr Co-Drehbuchautor Lars Hubrich aus dem Roman, so dass Leser*innen einige Schlüsselszenen wiedererkennen werden. Manches ließen Heiss und Hubrich weg oder erfanden es hinzu – Meyerhoff, seine Mutter und sein älterer Bruder gaben ihr Einverständnis.

Filme über Familien gibt es viele und auch die Psychiatrie ist gelegentlich Schauplatz auf der Leinwand, doch in WANN WIRD ES ENDLICH WIEDER SO, WIE ES NIE WAR überlappen sich die beiden Mikrokosmen. Grenzen verwischen, was nicht nur interessant anzuschauen ist, sondern zu zahlreichen skurrilen und tragikomischen Momenten führt. Während Josse in den Klinikgebäuden ein- und ausgeht, sind auch die Patient*innen häufig zu Gast im Haus der Meyerhoffs. So zeigt der Film fast nebenbei auf, wie sich die Psychiatrie (zumindest in Schleswig) in den 70er-, 80er- und frühen 90er-Jahren veränderte und öffnete. „Weg von der Verwahrpsychiatrie“, formuliert es Josses Vater einmal und setzt stattdessen beispielsweise auf Kunst- oder Musiktherapie.

Die Geschichte dieses ungewöhnlichen Aufwachsens in einer unkonventionellen Familie, die sich größtenteils auf dem Gelände der Klinik abspielt, deckt von Kindheitserlebnissen und der ersten Liebe über Eheprobleme der Eltern und einen Schüleraustausch in den USA bis hin zu Krankheit und Tod viele Themen ab, ist spannend, glaubwürdig gespielt, oft zum Brüllen komisch – und gleichzeitig tief berührend.

Stefanie Borowsky

Weitere Vorführungen

Sonntag, 19.02.2023, 15:45 Uhr, Cubix 8
Montag, 20.02.2023, 12:30 Uhr, Filmtheater am Friedrichshain

Panorama: REALITY

Als Reality Winner vom Einkaufen zurückkommt, wird sie an der Tür von zwei Männern begrüßt, die sich als FBI-Agenten vorstellen und ihr mitteilen, dass sie einen Durchsuchungsbefehl für ihr Haus, ihr Auto und auch für Reality selbst, haben. Während sich das Team im Haus zu schaffen macht, unterhalten sich die Agenten und die junge Frau. Eher wie peinlich berührte Familienväter als wie MEN IN BLACK wirkend, fragen die Männer immer wieder, ob es Reality gut geht, oder ob sie etwas braucht, und betonen, dass alles, was sie sagt, auf freiwilliger Basis stattfindet. Und Reality als NSA-Angestellte mit hoher „Security Clearance“, ist gerne bereit, zu kooperieren. Schließlich hat sie ja auch keine Ahnung, weswegen sich das FBI für sie interessieren sollte. Und so dreht sich das Gespräch lange um Haustiere und Sportverletzungen, bevor einer der Agenten klar sagt, welchen Verrat Reality begangen haben soll.

REALITY
ist Tina Satters Filmadaption ihres eigenen Theaterstücks „Is This A Room“. Die Dialoge, die beidem zugrunde liegen, basieren auf Mitschnitten des FBIs bei der Befragung und Festnahme der echten Reality Leigh Winner, die wegen [zensiert] angeklagt und verurteilt wurde. Wie die Agenten selbst sagen, wissen sie natürlich von Anfang an mehr als sie preisgeben und auch Reality muss irgendwann frühere Aussagen revidieren, aber keine Seite ist in Eile, viel zu verraten. Stattdessen findet ein seltsamer Tanz aus Lächeln und wiederholten Phrasen statt, bis irgendwann [geschwärzt]. An sich ein seltsames Kammerspiel in einem Hinterzimmer, bricht der Film immer wieder mit der Einheit der Szene und ihrer Realität: Wenn im Original-Transkript etwas geschwärzt wurde, verschwindet hier auch kurz die Welt und die Ereignisse gewisser Tage finden mehrfach statt, immer so, wie die noch-nicht-Angeklagte sie gerade beschreibt.
Die kleinen Veränderungen, mit denen Sydney Sweeney Realitys Aufgeben ihrer freundlichen und unverbindlich unschuldigen Maske und ihren schließlichen Zusammenbruch spielt, sind großartig. REALITY ist kein „Whodunnit“, dafür aber ein sehr spannendes „Whydunnit“, in dem es um Emotionen und Wut in der US-Ära Trump geht, und in dem hinter jedem banalen Lächeln eine Drohung steckt. Nicht zu vergessen auch die aktuelle Relevanz der Thematik [geschwärzt].

19.2. Cubix 9, 12:30
20.2., Titania 21:45
21.2. Zoo-Palast 3-5, 21:45
26.2., Cubix 9, 18:30 Uhr

(Christian Klose)

Berlinale Special: SONNE UND BETON

Aktion, Aggression, Gegenaggression, Geblödel

Berlin, Neukölln, Gropiusstadt, Anfang des Jahrtausends. Im Fernsehen verkündet Gerhard Schröder die Agenda 2010, bei den Nokias sind ständig Akku und Guthaben leer, im Hintergrund läuft Aggro Berlin.

Von seinem Wesen her ist Lukas ein freundlicher, schüchterner Junge, aber das kann sich in der Gropiusstadt kein Jugendlicher leisten, zumal nicht, wenn er einen Freund wie Julius hat, der – nicht besonders helle, dafür aber dreist und unerschrocken - den Stress auch noch produziert. Es hätte vielleicht gereicht, einfach weiterzugehen, Richtung Park, aber Julius bleibt stehen und mackert herum, die Lage eskaliert und plötzlich prügeln sich die arabischen und türkischen Drogendealer auf der Wiese, und Lukas, Gino und Julius sind mittendrin. Als eine Art Wiedergutmachung verlangen die „Arabs“ 500 Euro von Lukas. Als rettende Lösung erscheinen die nagelneuen Computer, die Lukas‘ Problemschule im Problemkiez gerade vom Senat bekommen hat. Sie zu klauen, ist, wie sich wenig überraschend herausstellt, keine gute Idee.

David Wnendts SONNE UND BETON nach dem autofiktionalen Bestseller von Felix Lobrecht erinnert an die Filme von Danny Boyle: poppig, bunt, bei aller Härte grundsätzlich gut gelaunt und immer in Bewegung. Die Jungen – Lukas, Julius, Gino und der Neuzugang der Gruppe Sanchez, gespielt von den baldigen deutschen Schauspielstars Levy Rico Arcos, Vincent Wiemer, Rafael Luis Klein-Hessling und Aaron Maldonado Morales – sind immer unterwegs, auf den Grünflächen, in den Hochhausblocks, über den Dächern, während im Hintergrund die Sonne auf- oder untergeht. Sie sind auf dem Weg zur Schule, zu einer Party, die von der Polizei aufgelöst wird, als sie ankommen, oder zum Freibad. Sie sind auf Mission: Freunde abholen, vor Gegnern flüchten, Drogen organisieren, Computer verticken. Die Kamera fährt an Lukas‘ Buzzcut den Hinterkopf entlang, saust durch die Gänge des Schulgebäudes, fliegt über die Dächer, dreht sich im Kreis. Auch das Kiezdeutsch - „lass mal Gropius gehen“ - ist immer Aktion, Aggression, Gegenaggression, Geblödel.

Nach einer Weile geht einem das Rumgemackere auch auf die Nerven, aber genau das ist natürlich auch der Punkt. Es wird schnell deutlich, dass es für die Jungs eigentlich nur einen Überlebensmodus gibt, wenn sie auf der Straße unterwegs sein und nicht zum Daueropfer werden wollen. Der einzige Ausweg wäre tatsächlich, sich zurückzuziehen oder rauszukommen, aus der Gropiusstadt, aus dem toxischen Umfeld. „Der Klügere gibt nach“ wiederholt Lukas‘ Süddeutsche-lesender Vater mantramäßig, wenn sein Sohn verprügelt nach Hause kommt. Aber wie soll Lukas, der sich nie von sich aus mit anderen anlegt, das machen? Überhaupt sind die Eltern keine Hilfe. Im besten Fall stehen sie hilflos und verzweifelt am Rand wie Lukas‘ Vater und Sanchez‘ Mutter, manchmal sind sie gar nicht da wie bei Julius, und im schlimmsten Fall sind sie selbst gewalttätig wie bei Gino. Als sie Lukas‘ blaues Auge sieht, fragt ihn Sanchez‘ Mutter „Familie?“. Er winkt ab. „Na dann ist ja gut.“

Hendrike Bake

Weitere Vorstellungen:

So 19.02. 09:00
Verti Music Hall

Mo 20.02. 18:00
UCI Luxe Gropius Passagen

Berlinale Goes Kiez
Di 21.02. 17:00
JVA Plötzensee

Sa 25.02. 21:00
Cineplex Titania

Sa 25.02. 22:00
Verti Music Hall
Audiodeskription via App GRETA

Panorama: PERPETRATOR

Die abgebrühte Johnny (Kiah McKirnan) unterstützt ihren alleinerziehenden Vater mit kleineren Einbrüchen finanziell. Bis Johnnys Vater ihr eröffnet, dass sie eine Weile zu ihrer Tante Hildi (90er-Ikone Alicia Silverstone) ziehen wird. Angeblich ist der Grund dafür, dass Papa sich etwas sammeln muss, aber tatsächlich hat es etwas mit einem Familienfluch zu tun, der sich an Johnnys 18. Geburtstag auf die junge Frau auswirken wird, und bei dessen Initiation die strenge, mysteriöse Tante helfen soll. Und als Johnny endlich den Geburtstagskuchen anschneidet, den Tantchen nach einem alten Familienrezept gebacken hat, eröffnet sich ihr eine ganz neue Welt aus soviel Blut, dass sie teilweise darin untergeht, und verstörenden Visionen. Letztere stellen sich aber als spezieller Supersinn heraus, durch den Johnny Hinweise auf einen maskierten Psychopathen bekommt, der in den letzten Monaten schon diverse junge Frauen entführt hat. Mithilfe ihrer neuen Fähigkeiten und einer kleinen Clique an neuen Freundinnen macht sich Johnny daran, den Killer zu finden, bevor er eine von ihnen erwischt.
Soweit ist Jennifer Reeders PERPETRATOR ein Horrorfilm. Und auch wenn im Finale weder mit Gewalt noch mit Blut gegeizt wird: Die Welt, in der die Geschichte stattfindet, ist hauptsächlich überdreht-satirisch: Der Schulleiter führt am liebsten Schulmassakerübungen (mit sich selbst als Attentäter) durch, erinnert seine Schülerinnen beim Selbstverteidigungstraining gerne an das Gefühl der panischen Starre, das sie dabei überkommen soll, und die Eltern sind generell weniger am Wohlergehen ihrer Kinder als an Schönheitsoperationen interessiert. Dementsprechend wird die Suche nach dem Killer bald zur Nebensache. Stattdessen gibt es satirische Spitzen gegen Polizeigewalt, psychdelische Bilder, eine schöne Liebesgeschichte und die seltsamste SPARTACUS-Parodie seit Langem. Für Freund*innen der schrägen Midnight Movies absolut zum empfehlen.

18.2., Cubix 9, 12:30 / HAU1, 20 Uhr
19.2., Titania 21:30
23.2., Akademie der Künste 22 Uhr
24.2., Cubix 8, 21:45 Uhr

(Christian Klose)

Berlinale 2023 Dispatches #1

Erste Eindrücke von Sean Erickson (18/2)

The 73rd Berlinale Film Festival is upon us. It’s also the first edition since 2019 to be somewhat “normal,” in that there aren’t many COVID-related restrictions going on and all of the programs and screenings are taking place in the lovely month of February. There are some twists to be had, however. The most notable being that the Cinemaxx multiplex in Potsdamer Platz is partly under construction, so no public screenings are taking place there. As a result, a lot of screenings are happening at the Cubix in Alexanderplatz and the Zoo Palast, as well as in newly added venues like the Verti Music Hall and Cineplex Titania. The Berlinale website is still the best place to get tickets and screenings still go on sale at 10:00 AM, three days in advance of the day of the screening (most tickets cost 15.00 EUR). With that in mind, let’s look at some highlights and recommendations for the days ahead.

The Competition section has gotten underway with a couple of interesting outliers in the form of the comedies MANODROME and BLACKBERRY. I’ve yet to catch a screening of MANODROME, which stars Jesse Eisenberg as an insecure Uber driver who gets drawn into a “masculinity cult.” The movie also features Adrien Brody and is written and directed by John Trengove, whose debut feature THE WOUND screened as part of the Panorama section a few years back. Everything about the movie sounds enticingly strange and audacious, which is the kind of Berlinale movie I enjoy the most.

BLACKBERRY, on the other hand, is a movie that sounds exactly like what it is: about the making of the BlackBerry phones that started the smartphone revolution. The Canadian film charts the improbable origins of the phone, which began when a group of disorganized tech nerds (one of whom is endearingly played by writer/director Matt Johnson) crossed paths with a cutthroat business man. It’s hard to shake the comparisons to THE SOCIAL NETWORK, and BLACKBERRY isn’t nearly as ambitious as Fincher’s movie, but it does carve out its own entertaining and often laugh-out-loud narrative about obsessive people and the absurdity of trying to stay afloat in the tech industry. It also sports a soundtrack of late-90s/early-aughts bangers, with tunes ranging from Slint and Elastica to The White Stripes and The Strokes. Oh, and fans of 80s genre movies might be overjoyed to see Michael Ironside on screen again.

If heartbreaking romantic dramas are more your thing, you may want to try and catch Emily Atef’s newest film, IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN (Someday We’ll Tell Each Other Everything). Atef is a veteran of the Competition section with 2018’s excellent 3 DAYS IN QUIBERON, but this time she’s telling a lush and erotically charged story that takes place in the rural villages of East Germany in the days following reunification. It’s essentially a love triangle, but one that is refreshingly told entirely from the perspective of the young woman (played by Marlene Burow), who has to choose between her current boyfriend (who kind of takes her for granted) and the ruggedly handsome 40-year-old neighbor (who’s much more mysterious and passionate). The movie is also about choosing between a future of unknown possibilities in the West or staying put in the East, and I haven’t seen this concept put into a steamy romance quite like this before. Consider this one if you’re looking for a good date movie.

If you’re looking for a good all-ages movie, I can recommend the Irish animated feature A GREYHOUND OF A GIRL, by Enzo d’Alò, adapted from a novel by Roddy Doyle (playing in the Generation Kplus section). What starts off as a charming movie about a girl who wants to be a world-class chef, eventually turns into a quietly profound movie about intergenerational trauma, coming to terms with mortality and coping with loss. I know it sounds pretty heavy, but it’s handled with the kind of grace that be best animated movies specialize in.

If Lynchian weirdness is more your thing, allow me to point you in the direction of MAMMALIA, by Romanian director and co-writer Sebastian Mihăilescu (part of the Forum section). If you thought MIDSOMMAR was a little too mainstream, then this might be right up your alley. A lot of MAMMALIA is hard to describe, but it’s essentially about a guy who tries to infiltrate a cult in order to rescue his girlfriend. But what ends up happening is something else altogether. This is a movie that raises a lot of questions about gender and agency, yet doesn’t exactly provide any easy answers — it leaves you with a lot to think about afterwards. It’s also a strange film that moves at a slow and creeping pace, but it provides some indelible and bizarre images that are hard to shake.

There is, of course, a whole lot more to choose from. A lot of movies are focusing on the war in Ukraine, like Sean Penn’s surprise film SUPERPOWER and the Polish/German documentary W UKRAINIE (In Ukraine). It should also be noted that this year’s Retrospective section is especially enticing, as each movie has been personally selected by a filmmaker. For example, Pedro Almodovar selected SPLENDOR IN THE GRASS and Wes Anderson selected LITTLE FUGITIVE. All of which is to say, that even if some of the bigger titles are sold out this weekend, you’re still likely to find something special.

MANODROME
Sun Feb 19 @ 12:15 — Verti Music Hall
Mon Feb 20 @ 10:00 — Haus der Berliner Festspiele
Tue Feb 21 @ 15:45 — Verti Music Hall
Sun Feb 26 @ 18:00 — Berlinale Palast

BLACKBERRY
Sat Feb 18 @ 09:30 — Zoo Palast 1
Sun Feb 19 @ 18:00 — Verti Music Hall
Mon Feb 20 @ 13:00 — Cineplex Titania
Thu Feb 23 @ 21:30 — Haus der Berliner Festspiele

IRGENDWANN WERDEN WIR UNS ALLES ERZÄHLEN
(Someday We’ll Tell Each Other Everything)
Sat Feb 18 @ 10:00 — Verti Music Hall
Sat Feb 18 @ 15:00 — Haus der Berliner Festspiele
Sun Feb 19 @ 20:00 — Thalia - Das Programmkino (Potsdam)
Sun Feb 19 @ 21:30 — Cubix 9
Sun Feb 26 @ 16:00 — Verti Music Hall

A GREYHOUND OF A GIRL
Sat Feb 18 @ 12:30 — Zoo Palast 1 (German voice-over | Headphones for OV)
Sun Feb 19 @ 10:00 — Cineplex Titania (German voice-over)
Mon Feb 20 @ 13:00 — Zoo Palast 2 (German voice-over | Headphones for OV)
Wed Feb 22 @ 09:45 — Cubix 8 (German voice-over | Headphones for OV)
Thu Feb 23 @ 12:30 — Filmtheater am Friedrichshain (German voice-over)

MAMMALIA
Sat Feb 18 @ 21:00 — Delphi Filmpalast
Sun Feb 19 @ 10:30 — Zoo Palast 5
Thu Feb 23 @ 16:00 — Cubix 7
Sun Feb 26 @ 16:00 — Delphi Filmpalast

Eröffnungsfilm: SHE CAME TO ME

Romantic Comedy, mehrfach auf links gedreht - Rebecca Miller eröffnet die Berlinale

Der Eröffnungsfilm der diesjährigen Berlinale läuft nicht im Bären-Wettbewerb, sondern in der (mehr oder weniger) glamourösen Berlinale Special Reihe - schade, Komödien sind im Wettbewerb wie immer unterrepräsentiert und Hauptdarsteller Peter Dinklage wäre sonst sicher ein Kandidat für den Bären. Wie schon in MAGGIE´S PLAN (Berlinale 2016) benutzt Regisseurin, Autorin und Produzentin Rebecca Miller in SHE CAME TO ME vertraute Versatzstücke der klassischen romantischen Komödie, um sie einer Generalüberholung zu unterziehen, tauglich fürs 21. Jahrhundert zu machen, sie mit überraschenden Zutaten zu vermischen und das Ganze nochmals auf links gedreht zu einem Film zu machen.

Ihre Hauptfigur ist der labile Komponist Steven (Dinklage), der mit der Arbeit an seiner nächsten Oper nicht weiterkommt und fürchtet, mit der Fähigkeit zum Komponieren das einzige verloren zu haben, was in seinem Leben je gut funktioniert hat. Überbeschützt von seiner Ex-Therapeutin-nun-Ehefrau Patricia (Anne Hathaway, die auch mitproduziert hat, in einer wirklich lustigen Rolle) gibt er einen geradezu ideal verzweifelten Romcom-Protagonisten ab, dem dann auch, wie es eben so ist, das Chaos in weiblicher Gestalt begegnet. Schlepperkapitänin Katrina (Marisa Tomei) ist eine schillernde Frauenfigur mit Abgründen, die auch im heutigen Kino noch eine Ausnahmeerscheinung ist und wohl nicht zufällig den Namen des berüchtigtsten Hurrikans der US-Geschichte trägt. Das Chaos wirkt inspirierend auf Steven, eine Oper entsteht, bei der Premiere begegnen sich die Beteiligten wieder und weiteres Chaos nimmt seinen Lauf. Dann gibt es da noch die osteuropäische Putzfrau, die keine Aufenthaltserlaubnis in den USA hat, aber einen besitzergreifenden amerikanischen Lebensgefährten, der dringend etwas Ego-Aufpolierung braucht. Und die Tochter der Putzfrau, und den Sohn von Patricia, und die Klimakrise, und die in moralischen Wertvorstellungen und Identitätsfragen tief gespaltene amerikanische Gesellschaft.

Rebecca Miller jongliert mit diesen Gegensätzen und ignoriert dabei mitunter selbstbewusst die Wahrscheinlichkeitslogik. Sie tut etwas, das auch in Komödiendrehbüchern selten ist: Sie spielt. Sie ermüdet nicht mit Urteilen, sondern erfindet Wege, die Spaltung kreativ zu nutzen. Das Beziehungsgeflecht zwischen den Figuren ist wie schon in MAGGIE´S PLAN vielschichtig und bezieht untergründige Energien mit ein. Im Zentrum steht Peter Dinklage in einer komplexen Rolle, die fern von rigiden Gleichbehandlungs-Vorschriften zeigt, wie selbstverständlich man Figuren mit unterschiedlicher Körperlichkeit erzählen kann. Steven ist überfordert, Steven ist genial, Steven hat Sex, Steven hat komplexe Beziehungen zu den Figuren um sich herum. Dass er ungewöhnlich klein ist, spielt dabei in keinem Moment eine Rolle. So einfach ist das.

Susanne Stern

Weitere Termine:

Fr 17.02. 14:30
Verti Music Hall

Fr 17.02. 17:30
Verti Music Hall