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Acht Jazzfilme

Den Start von zwei Jazz-Dokus im September – JAZZFIEBER (Start am 7.9.) von Reinhard Kungel, Andreas Heinrich und MUSIC FOR BLACK PIGEONS (Start am 21.9.) von Jørgen Leth und Andreas Koefoed - haben wir zum Anlass genommen, eine Auswahl von Jazzfilmen zusammenzustellen, von der einzigen filmischen Aufzeichnung von Bessie Smith, ST. LOUIS BLUES (1929), über FAHRSTUHL ZUM SCHAFOTT (1958), zu dem Miles Davies den Soundtrack improvisierte, bis zum vielleicht besten Jazzfilm aller Zeiten, JAZZ ON A SUMMER’S DAY (1958).

RASEND SCHÖN: JAZZ ON A SUMMER’S DAY
USA 1958, R: Berts Stern, Aram Avakian, 85 min
1958 filmten der Modefotograf Bert Stern und sein Co-Regisseur Aram Avakian das Newport Jazz Festival. Es war das Jahr, in dem der Jazz sich vom Pop-Olymp verabschiedete und der Rock’n’Roll der populärste Pop-Musikstil wurde. Einer der Schlüsselmomente war der Auftritt von Chuck Berry in Newport. Der von etablierten Jazzkritikern belächelte Musikstil war in der Feuilleton-Kultur angekommen. Zugleich traten in Newport einige Protagonisten des neuesten Jazz auf, wenn auch nicht als Headliner - das waren ältere Stars wie Louis Armstrong und Mahalia Jackson. Die stärksten Momente des Festivals aus heutiger Sicht sind die Auftritte des Thelonius Monk Trios, des Gerry Mulligan Quartetts mit Art Farmer und des Chico Hamilton Quintetts mit Eric Dolphy an der Querflöte. Allein schon diese Auftritte machen JAZZ ON A SUMMER’S DAY (JAZZ AN EINEM SOMMERABEND) sehenswert, aber der Film ist vor allem rasend schön, auch wegen der brillanten Aufnahmen des sehr hip und schick gekleideten, sich so cool wie möglich gebenden oder entspannt groovenden Publikums. (aktuell im Indiekino Club)

DIRECT CINEMA: JAZZ DANCE
USA 1954, R: Roger Tilton, 20 min
In einem New Yorker Nachtclub spielt eine Band um den Kornettisten Jimmy McPartland, den Klarinettisten Pee Wee Russell und den Pianisten Willie „The Lion“ Smith. Roger Tiltons Dokumentarfilm kündigt sich seriös an: Jazz Dance soll als amerikanische „folk culture“ dokumentiert werden. Während die Band immer schnellere Nummern spielt, wird der Dancefloor immer ekstatischer. Die Kamera und der Schnitt tanzen mit. JAZZ DANCE ist nicht nur ein Dokument der Pop-Kultur kurz vor Rock’n’Roll, sondern auch ein Dokument der Wochenendekstase der proletarischen Beat-Generation und ein Schlüsselfilm des Direct Cinema, der stilprägend für spätere Musikfilme wurde. (youtube)

AVANTGARDE: SHADOWS
USA 1959, R: John Cassavetes, 87 min
John Cassavetes hatte 1959 vor allem als Fernsehschauspieler Geld verdient, genug, um seinen ersten Film zu drehen. Er lieh sich die Kamera von Shirley Jackson und drehte SHADOWS, die Geschichte von drei Geschwistern, von denen zwei so hellhäutig sind, dass sie für weiß gehalten werden. Die Affäre von Sheila mit einem weißen jungen Mann endet, als dieser erfährt, dass Sheila einer Schwarzen Familie entstammt. Der Jazz-Soundtrack, die Hipster-Posen und Gesten, die abrupten Schnitte machen den Film, der als Beginn des US-Independent-Kinos gilt, heute noch aufregend. (youtube)

Dokumentar und Mockumentary

MOCKUMENTARY: THE CONNECTION
USA 1961, R: Shirley Clarke, 110 min
In Shirley Clarkes Verfilmung eines Theaterstücks von Jack Gelber wartet eine Gruppe angeblich echter heroinsüchtiger Jazzmusiker auf ihren Dealer. Ein Filmteam will einen besonders authentischen Dokumentarfilm über Drogen in der Jazzszene drehen und hat die Junkie-Jazzer eingeladen. Die Musiker spielen aber nicht mit, und sind nicht bereit, die verzweifelten, ruinierten Wracks zu geben, die das Filmteam erwartet. Die Machtverhältnisse kehren sich allmählich um. Clarkes Film war eine Kritik an der Authentizitätsgläubigkeit des Direct Cinema. Immer wieder unterbrechen Verweise auf das Filmmaterial und direkte Ansprachen in die Kamera die Illusion, dass hier etwas anderes zu sehen ist als eine vollständig geskriptete, gründlich geplante Inszenierung. THE CONNECTION war zu seiner Zeit auch eine Antwort auf SHADOWS, der zwar ebenfalls auf einem Drehbuch beruhte, aber wirken sollte, als seien die Szenen improvisiert. Shirley Clarke war 1961 Gründungsmitglied der New Yorker The Film-Makers' Cooperative, gemeinsam mit Jonas Mekas, Stan Brakhage, Lionel Rogosin, Gregory Markopoulos und Lloyd Michael Williams. (Criterion Collection)

DOKUMENT: ST. LOUIS BLUES
USA 1929, R: Dudley Murphey, 16 min
W.C. Handys 1914 veröffentlichter “St. Louis Blues” war der erste Song, der als Popsong Erfolg hatte. 1925 hatte Bessie Smith einen Hit mit ihrer Version, auf der Louis Armstrong Kornett spielt, noch berühmter wurde allerdings Armstrongs Instrumental-Version mit den Hot Five von 1929, in der er am Ende elfmal das hohe F wiederholt. Im gleichen Jahr bat W.C. Handy Bessie Smith im Film ST. LOUIS BLUES mitzuspielen, dessen Regie mit Dudley Murphy ein Regisseur übernahm, der 1923/24 mit Fernand Léger den Avantgarde-Kunstfilmklassiker BALLET MECHANIQUE gedreht hatte. ST. LOUIS BLUES sollte die einzige Filmaufnahme von Bessie Smith bleiben. (youtube)

TAP-DANCE-SENSATION: STORMY WEATHER
USA 1943, R: Andrew L. Stone, 78 min

STORMY WEATHER und CABIN IN THE SKY waren zwei Filme mit einer komplett aus Schwarzen Darstellern bestehenden Besetzung, die 20th Century Fox 1943 produzieren ließ. Die Geschichte beruht frei auf dem Leben des Entertainers Bill „Bojangles“ Robinson, der in beiden auch die Hauptrollen spielt. Robinson war einer der Pioniere des Tap-Dance, hier stehlen ihm aber die jüngeren „Nicholas Brothers“, Fayard and Harold, die Show. Cab Calloway und seine Band spielen „Jumpin Jive“ und die Brüder springen abwechselnd über die Stufen einer Showtreppe in den Spagat. Eine der furiosesten Tanzszenen der Jazzgeschichte vom Haus-Ensemble des Cotton Club in Harlem, unter „Jumpin Jive - Cab Calloway and the Nicholas Brothers“ auf youtube auffindbar.

French Noir & Psychedelisch

FRENCH NOIR: ASCENSEUR POUR L'ÉCHAFAUD
Fahrstuhl zum Schafott, Frankreich 1958, R: Louis Malle, 91 min
Jeanne Moreau läuft in Louis Malles Existentialismus-Thriller durch Paris, und alles ist verloren. Miles Davis improvisierte im Studio den Soundtrack zum gesamten Film. Der Soundtrack wurde zu einem seiner bestverkauften Alben.

PSYCHEDELISCH: CHAPPAQUA
USA 1967, Conrad Rooks, 82 min
Zu Conrad Rooks einzigem Film CHAPPAQUA gibt es einen Soundtrack von Free-Jazz-Pionier Ornette Coleman, die „Chappaqua Suite“. Die Musik wurde im Film aber nicht benutzt, stattdessen komponierte Ravi Shankar einen neuen Score, und die Musik der Polit-Hippie-Band The Fugs ist ebenfalls zu hören. Chappaqua ist ein Film über die Drogengeschichte des Regisseurs, mit umwerfenden Kamerabildern von METROPOLIS- und NAPOLÉON-Kameramann Eugen Schüfftan und Robert Frank, der vor allem für seinen Fotoband „The Americans“ (1958) bekannt wurde, aber auch mit den Protagonisten der Beat-Generation befreundet war. So tauchen unter anderem Allen Ginsberg und Experimentalmusiker/Eremit Moondog in diesem psychedelischsten aller Psychedelic-Filme auf. Die zweite Hauptrolle spielt Jean-Louis Barrault, der „Baptiste/Pierrot“ aus Marcel Carnés LES ENFANTS DU PARADIS, der sich vermutlich sehr gewundert hat, in was für einer Szene er da gelandet ist.