Neue Notiz
Zwei Tage, eine Nacht
"Stimmst du für mich?"
Als Sandra Bya nach einer gesundheitlichen Krise zu ihrer Arbeitsstelle zurückkehren möchte, stellt der Chef die Belegschaft vor eine Alternative: Sandra oder Prämie. Die Abstimmung geht 14 zu zwei gegen Sandra aus, aber es soll noch eine weitere geben. Sandra bleibt ein Wochenende um ihre Kollegen und Kolleginnen, insgesamt 16 Leute, umzustimmen. So beginnt eine Art proletarisches Road Movie durch belgische Arbeiterwohnungen, -häuser, -läden und -kneipen.
"Ich existiere nicht, ich bin gar nicht da." Eine Frau ist aus der Welt gefallen. Sandra Bya hat zwei Kinder, einen Mann, ein Haus und eine Hypothek. Und bis gerade eben hatte sie auch einen Arbeitsplatz, in einer kleinen belgischen Fabrik. Sandra hat eine Krise durchlebt, deren genauen Ausmaß nie ganz klar wird, von Krankheit ist oft die Rede, von Depression einmal. Aus dem seelischen aus der Welt Fallen droht ein existentielles zu werden. Denn jetzt, als sie gesundheitlich wieder halbwegs hergestellt ist und zu ihrer Arbeitsstelle zurückkehren möchte, stellt der Chef die Belegschaft vor eine Alternative: Sandra oder Prämie. Entweder, die lange krankgeschriebene Kollegin wird wieder eingestellt, oder die Arbeiter bekommen ihre Sonderprämie ausbezahlt, 1000 Euro für jeden. Die Abstimmung am Freitag geht 14 zu zwei aus, gegen Sandra. Sandras Kollegin und Freundin Juliette berichtet aber, dass der Vorarbeiter Jean-Marc die Leute unter Druck gesetzt habe, ihnen erzählte, der Chef wolle ohnehin Leute abbauen, wenn nicht Sandra, dann eben jemand anderes. Juliette kriegt die vorerst resignierte Sandra dazu, kurz vor Feierabend noch mit dem Chef zu sprechen. Man einigt sich auf eine neuerliche Abstimmung, am Montag morgen, und diesmal geheim. Es bleibt ihr also dieses Wochenende um ihre Kolleginnen und Kollegen umzustimmen, sechzehn Leute arbeiten insgesamt in der Firma, den Vorarbeiter nicht mitgerechnet.
So beginnt eine Art proletarisches Road Movie durch belgische Arbeiterwohnungen, -häuser, -läden und -kneipen. In einer episodischen Struktur entspinnt sich ein Reigen aus kleinen Miniaturen, Portraits von Leuten, die in einer krisengeschüttelten Gesellschaft an ihrer bescheidenen Existenz stricken, voll Sorgen über abzuzahlende Hypotheken, Kinder, deren Studium finanziert werden will, Schwarzarbeit um die Familie durchzubringen. Migranten, deren Position durch eine doppelte Marginalisierung nochmals prekärer wird, zur Gewalt neigende Ehemänner. In knappen aber lebhaften Skizzen malt der Film ein Panorama gegenwärtiger Klassenverhältnisse. Und ein dutzendmal die Frage: "Stimmst du für mich?" Ein dutzendmal kein Opfer sein und nicht betteln wollen, und doch einen Weg suchen, das eigene und ein fremdes Bedürfnis in Verbindung zu bringen, in einer Wahl die von Anfang an eine schlechte ist.
ZWEI TAGE, EINE NACHT schlägt Töne an, die im ästhetischen System der Dardennes neu sind: Zum einen steht mit Oscar-Preisträgerin Marion Cotillard zum ersten Mal ein veritabler Star im Zentrum des Films. Wie schon in DER GESCHMACK VON ROST UND KNOCHEN (DE ROUILLE ET D’OSS, R: Jacques Audiard, 2012) spielt Cottilard hier in einem konzentrierten spektakelfreien Register und liefert eine eindrückliche Darbietung als Frau, an der der Druck zeitgenössischer Arbeits- und Existenzverhältnisse symptomatisch Gestalt annimmt. Im emphatischen Realismus der Dardennes geht das nahtlos auf. Zum anderen machen die ungewohnt explizite Arbeit am großen Begriff der Solidarität und die stringente Struktur aus dem Film eine Art Lehrstück, das sich im charaktergetriebenen Drama aber immer wieder aufhebt.
Sandras Selbstvertrauen hat sichtlich unter dem gelitten, was als Ausfall der Arbeitskraft bilanziert wird, in Wahrheit aber viel mehr umfasst, als nur ihr Selbstverständnis als jemand der für sich und andere sorgen kann. "Der Arzt sagt, du bist nicht mehr krank", sagt der Mann. "Ich bin ein Krüppel, " sagt die Frau. "Ich liebe dich", sagt der Mann. "Du liebst mich nicht mehr, du hast doch bloß Mitleid", sagt die Frau. Auf das Verhältnis zu sich selbst, als letztes Refugium von Eigenmacht in einer Welt struktureller Zwänge spitzt sich das Drama im Kern zu. Sandra ist eine exemplarische Figur. In ihrem Ringen um einen Platz in der Welt, ihrer ausgezehrten Gestalt, ihrem Bemühen sich nicht unter eine Rechnung subsumieren zu lassen, ihren Beschädigungen und ihrer Kraft wird deutlich, was es bedeutet, dass die abstrakten und depersonalisierten Verhältnisse einer Ökonomie zuletzt immer auf eine konkrete Person, ein konkretes Leben, ein individuelles Handlungsvermögen und einen individuellen Körper durchschlagen. Es ist ein sehr verhaltener Optimismus, der in ZWEI TAGE, EINE NACHT anklingt. Wenn die Mobilisierung von Ressourcen der Würde der letzte Weg ist, der noch offen bleibt, dann stehen die Zeichen schlecht.
Originaltitel: Deux jours, une nuit
Frankreich/Italien/Belgien 2014, 95 min
Sprache: Französisch
Genre: Drama
Regie: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Drehbuch: Jean-Pierre Dardenne, Luc Dardenne
Kamera: Alain Marcoen
Schnitt: Marie-Hélène Dozo
Verleih: Alamode Filmverleih / Wild Bunch Germany
Darsteller: Marion Cotillard, Fabrizio Rongione, Olivier Gourmet, Christelle Cornil, Catherine Salée
FSK: 6
Kinostart: 30.10.2014
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