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Virgin Mountain

Aufbruch aus der Transitzone

Mit Freundlichkeit und einem trockenem Humor erzählt Dagur Kári (NOI ALBINOI), wie Fúsi - über 40, deutlich übergewichtig und in einer Teenagerwelt steckengeblieben – vom Lebensgefährten seiner Mutter hinausgeworfen wird und schließlich doch seinen Platz im Leben finden muss.

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Es beginnt und endet am Flughafen, einem Ort des Dazwischen, einem Ort, der eigentlich keiner ist, einer Zone der Übergänge. Wo andere zu einem Ziel ihrer Wünsche durchgeschleust werden wie durch einen Geburtskanal, eng, unbequem, aber mit vielversprechendem Ausgang, ist Fúsi, über 40 und deutlich übergewichtig, im übertragenen Sinne steckengeblieben. Der „Berg von einer Jungfrau“ des hiesigen Verleihtitels (VIRGIN MOUNTAIN - im isländischen Original heißt der Film einfach FÚSI) wohnt noch bei Mama, wird von den Arbeitskollegen gemobbt wie ein Teenager auf dem Schulhof und kauft sich Spielzeug, für das ihn jüngere Kinder schon mal beneiden.
Auf dem Flughafen, für Fúsi eine Einödnis der stumpfen Arbeit, kurvt der passive Riese mit dem Gepäcktransporter wie mit einem Modellauto umher. Die in der nächsten Einstellung gezeigten Risse im Lehmboden einer Wüstenei wirken zunächst wie unüberwindliche Gräben, stellen sich aber bald als Teil einer Miniaturlandschaft heraus. Fúsi spielt nämlich gern mit Modellpanzern die Schlacht von El Alamein nach. Die Risse in seiner Modellbauwüste lesen sich wie zarte Vorboten für die beginnende Öffnung des Gefühlskokons unseres Helden – und auch der Ausgang der historischen Kriegsszene gibt Anlass zur Hoffnung: erstmalig gelang den Alliierten damals ein wesentlicher Sieg gegen Nazideutschland.
Zunächst werden jedoch am Fließband die Koffer der anderen auf die Reise geschickt, dann wird am Fließband kollektiv der Müll der anderen sortiert. Fúsi ist ein unüblicher Mann, der für die Bedürfnisse der anderen, besonders der Frauen in seiner Umgebung, zuständig ist. Der kleinen Nachbarin Hera, einem einsamen Scheidungskind, dient er als stundenweiser Mutterersatz und deckt die Funktion „beste Freundin“ gleich noch mit ab. Als eine Art Krankenpfleger ist Fúsi bald auch für die depressive Sjöfn vom Tanzkurs da und nicht zuletzt funktioniert er als ewiger Kindpartner seiner Mutter. Schon das geringste Zeichen von Kritik, ein Hauch von Protest, ein leicht vorwurfsvolles „Mama!“ wird von dieser Mutter sehr hellhörig als Aufruhr wahrgenommen. Sie will partout nicht von ihrem Sohn verlassen werden. Erst von ihrem Lebensabschnittsgefährten wird das Mittvierziger-Riesenkind hinaus ins Leben gedrängt. Dort muss Fúsi sich auf seine eigene Kraft besinnen, um aus dem Stillstand in der Transitzone auszubrechen.
Was fühlst Du? Was denkst Du? Was wirst Du tun? scheint die Kamera unterwegs zu fragen, wenn sie immer wieder einmal länger auf dem Gesicht von Fúsi ruht, der keine großen Mienen zieht. Seine Leiblichkeit ist so ungestalt wie sein Innenleben kindlich wirkt. Noch gibt es da kein Ich zu verlieren, Fúsis Kern ist tief begraben, er ist ein buchstäblicher „Milchbart“. Wie noch nicht ganz abgestillt, trinkt er lieber Milch als Tee oder Kaffee und übersieht darüber fast die Gelegenheit zu einem Date. Doch Nuance für Nuance schleicht sich erst Nachdenklichkeit, dann langsam aufkeimende Freude, auch mal Überraschung und Erleichterung bis hin zu sanfter Entschiedenheit in Fúsis Ausdruck. Die Entwicklung vom VIRGIN MOUNTAIN zum Berg von einem Mann lässt sich schließlich, einmal angestoßen, nicht mehr aufhalten.
Es wird wenig gesprochen und viel geschaut in VIRGIN MOUNTAIN. Schön ist, wie der Film von Dagur Kári (NOI ALBINOI) sich darauf verlässt, den Hauptdarsteller Gunnar Jónsson zu beobachten anstatt ihn von Plotpoint zu Plotpoint zu hetzen. Selbst in den dramatischeren Situationen entsteht keine Hektik. Bei aller ruhigen Gelassenheit der Handlung ist das Erzähltempo dennoch flüssig und von einem trockenen, untertriebenen Humor geprägt. Karí gelingt es, große Themen aufzurufenund dann dafür so verblüffend schlichte wie überzeugende Bilder zu finden. Sein realistisches Erzählen mit lebensnahen Szenen und Gesten, durchzogen von skandinavischer Lakonie und einer heimlichen Freundlichkeit, lässt Fúsi am Ende dieser Charakterstudie souverän den Ausgang aus der Unmündigkeit erobern.

Anna Stemmler

Details

Originaltitel: Fúsi
Island/Dänemark 2015, 94 min
Genre: Drama
Regie: Dagur Kári
Drehbuch: Dagur Kári
Kamera: Rasmus Videbaek
Schnitt: Olivier Gugge Coutté
Verleih: Alamode Filmverleih
Darsteller: Gunnar Jónsson, Ilmur Kristjánsdóttir
FSK: 12
Kinostart: 12.11.2015

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