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Under the Skin

Killermaschine, Gnade und Entfremdung

Ein Motorradfahrer schleppt eine leblose Frau aus einem Straßengraben. In einem weißen Raum schlüpft ihre Doppelgängerin (Scarlett Johansson) in deren Kleidung. Dann verlässt sie ein Mietshaus in Schottland, steigt in einen weißen Kleinbus, kauft eine Pelzjacke und Lippenstift und geht so bewaffnet auf Männerjagd.

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Ein Motorradfahrer schleppt eine leblose Frau aus einem Straßengraben. In einem weißen Raum schlüpft ihre Doppelgängerin (Scarlett Johansson) in deren Kleidung. Dann verlässt sie ein Mietshaus in Schottland, steigt in einen weißen Kleinbus, kauft eine Pelzjacke und Lippenstift und geht so bewaffnet auf Männerjagd. Sie fragt ausgewählte Passanten nach dem Weg, forscht aus, wie allein sie sind, nimmt sie in verfallene Buden mit, in denen sie schwarze Räume entstehen lässt, in denen die Männer versinken. Nachdem sie einen schwer entstellten jungen Mann verführt hat, schaut sie lange in einen Spiegel, lässt ihr Opfer wieder frei und flieht. Vielleicht erprobt sie, ob sie sich der fremden Umgebung anpassen kann, aber ein Stück Schwarzwälder Kirschtorte bekommt ihr nicht, und Kuchen sind im Kino immer ein schlechtes Zeichen. Der Motorradfahrer sitzt ihr auf den Fersen, das Schicksal ebenso.
Der Plot von UNDER THE SKIN ist recht schlicht, psychologische Erklärungen bleiben aus. Die Inszenierung ist umso raffinierter. Der Stil wechselt von einem Kubrick-Zitat am Anfang zu Varianten von Georges Lukas Low Budget-Phase – nicht nur die White und Black Rooms, sondern auch rasante Motorradfahrten erinnern an THX 1138 - dann wieder zu realistischen Bildern von Schottland, die an Andrea Arnolds RED ROAD und FISH TANK erinnern, in denen ja auch von ihrer Welt entfremdete Personen durch Sozialbausiedlungen taumelten. Es gibt psychedelische Visionen von Glasgow, wie aus Gaspar Noés ENTER THE VOID, in dem die Augen eines Toten die Welt der Lebenden betrachten, oder einen Sturm in schottischen Wäldern wie aus Ang Lees THE ICE STORM. Der elektronische Soundtrack von Mica Levi ist mindestens ebenso virtuos. Extrem old school werden am Anfang sogar die ganz frühen elektronischen Sprachmusikexperimente von John Cage und Hans G. Helms zitiert: Über einem analogen elektronischen Drone erprobt eine Stimme Konsonanten, dabei geht sie immer wieder in die elektronische Verfremdung über. Funkgeräusche mischen sich unter, bis nicht mehr klar ist, was Untermalung ist und was ein Signal sein könnte. Später wird ein Mann an einem Küchenradio drehen, und der diegetische Ton wirkt so fremd wie der Soundtrack zuvor. Levi schafft es das erste Mal seit langem, mit einem rein elektronischen Soundtrack ein Gefühl der Bedrohung auszulösen.
Eines der eindringlichsten Bilder von UNDER THE SKIN ist eine Art Förderband im schwarzen Raum, auf dem leuchtend rotes Körpermaterial in ein weißes Lichtloch transportiert wird. Das sieht beinahe aus wie ein umgekehrter Projektionsstrahl im Kino, der nichts als Blut transportiert. Nach diesem Bild lässt die Killermaschine Gnade walten und wird zu einer einsam durch die Welt stolpernden Figur wie Ingrid Bergmann in Roberto Rosselinis STROMBOLI (1949) oder UMBERTO D. im gleichnamigen Film von Vittorio de Sica (1952). Viel Plot gab es in den Werken des Neorealismus auch nicht. Es kam vor allem auf den Moment an, an dem die Verbindungen der Protagonisten zur Welt sich auflösten, und ihr Blick die Wirklichkeit als eine vollkommene Fremdheit erfasste und zugleich eine unendliche Traurigkeit erzeugte. Die letzte Verführung und das Blut-Förderband haben eine ähnliche Funktion wie die berühmte Szene vom Thunfischfang in STROMBOLI. Was folgt sind Momente des Sehens. Scarlett Johassons Alien blickt immer wieder in Spiegel und erkennt doch nur Fremdheit. Sie scheint sogar den größten Teil ihres Sprachvermögens einzubüßen. Das schottische Hochland wirkt karg und lebensfeindlich. Es gibt keinen Ort der Ruhe in einer Welt, die vollkommen fremd geworden ist. Dabei führt in UNDER THE SKIN eine Entscheidung in diese Fremdheit, von der wir nicht einmal wissen, ob sie eine moralische ist. Die Begegnung des Alien mit dem entstellten jungen Mann, der an David Lynchs ELEPHANT MAN erinnert, ist deutlich auch als Filmzitat gekennzeichnet. Der Dialog zwischen Elefantenmensch und Alien erscheint zwar als eine Verführungszene, also als eine Lüge, aber er drückt eine wahrhaftige Sehnsucht nach Berührung und Nähe aus, die für Elefantenmensch wie Alien unmöglich sind. Die Einsamkeit ist immer schon da, wenn sie erkannt wird, ist alles verloren. Vielleicht ist UNDER THE SKIN wirklich ein Meisterwerk. Jedenfalls gehört der Film unbedingt ins Kino, und gottlob ist er dort nach langem hin und her endlich angekommen.

Tom Dorow

Details

Großbritannien 2013, 113 min
Sprache: Englisch
Genre: Drama, Science-Fiction, Thriller
Regie: Jonathan Glazer
Drehbuch: Walter Campbell, Jonathan Glazer
Kamera: Daniel Landin
Schnitt: Paul Watts
Musik: Mica Levi
Verleih: Senator Film Verleih
Darsteller: Scarlett Johansson, Krystof Hádek, Paul Brannigan, Jessica Mance, Scott Dymond

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