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Touch Me Not

Wie fühlst du dich?

Der Gewinner der Berlinale 2018 TOUCH ME NOT ist eine Mischung aus sehr persönlichen Interviews, extrem stilisierten Szenen und zurückhaltend beobachteten Therapiesitzungen.

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Der Gewinner der Berlinale 2018 TOUCH ME NOT ist eine einzigartige, so noch nicht gesehene Mischung aus sehr persönlichen Interviews, extrem stilisierten Szenen und zurückhaltend beobachteten Therapiesitzungen. Immer verlaufen die Grenzen zwischen Dokumentarischem und Inszeniertem dabei fließend, und immer wieder klingt sich auch die Regisseurin ein, wird als Fragende und sich selbst Befragende sichtbar.

Vier Männer und Frauen sind auf der Suche nach ihrem Verhältnis zum eigenen Körper. Laura ist um die Fünfzig und hält körperliche Berührungen nicht aus. Sie setzt sich sexuellen und therapeutischen Begegnungen aus, um ihre Sexualität besser zu verstehen und zu leben. Dazu gehört ein Callboy, dem sie zusieht, während er masturbiert, ein bärtiger Körpertherapeut in Folklore-Weste, der sie festhält, bis sie schreit, und Hannah, die ebenfalls um die Fünfzig ist und erst vor kurzem ihr Coming out als Transfrau hatte. Sie und Laura teilen eine Liebe für Brahms.

Im Off singen die Einstürzenden Neubauten vom kommenden Verfall. Mela-, Mela-, Melancholia liegt über der Stadt. Laura geht sterile, fast abstrakt wirkende Korridore entlang und sieht durch ein Glasfenster einer Körpertherapiegruppe zu, die, ganz in Weiß gekleidet, wie eine Sekte wirkt. Menschen mit schwerer körperlicher Behinderung und solche, die nach außen unauffällig wirken, üben Berührungen und sprechen darüber, wie sie sich fühlen. Tómas ist es schwer gefallen, das Gesicht von Christian zu berühren, auch weil Christian Speichel aus den Mundwinkeln läuft. Es fällt Tómas auch schwer, sein Unwohlsein anzusprechen. Später wird er, mit dem Körper eines Athleten, erzählen, dass er sich lange als Außenseiter gefühlt hat, weil er schon als Kind seine Haare verloren hat. Das muss schwer sein, sagt Christian, der einen Rumpf von der Größe eines Kleinkindes hat und sich nicht selbständig fortbewegen kann, aufrichtig.

Wie fühlst du dich? Nicht: Wir geht es dir? Nicht: was ist dir zugestoßen? Nicht: Was denkst du? Nicht: Was willst du? Sondern: Wie fühlst du dich? Jetzt in diesem Moment. Immer wieder stellt TOUCH ME NOT diese Frage, die so einfach scheint und so schwer zu beantworten ist. Mit ihrem Film versucht Regisseurin Adina Pintilie eine Annäherung an letztlich Unsagbares. Dafür wählt sie eine nahezu klinisch-experimentelle Anordnung. In statischen Einstellungen sprechen die Protagonist*innen in die Kamera oder miteinander. Die Räume sind weiß, von allem Beiwerk bereinigt. Die Geständnisse sind intim, aber sie verzichten auf Kontext. Erstmal ist es nicht so wichtig, warum es ist, wie es ist, wichtiger ist, herauszufinden, wie es eigentlich ist.

Wie es eigentlich ist, wie man sich in seinem Körper fühlt, sieht für jeden und jede anders aus, das wird frappierend deutlich. Sexualität ist nicht zuletzt deshalb ein Mysterium, weil sie zwar universal, aber dann auch wieder so wahnsinnig individuell ist. Was ebenfalls frappierend deutlich wird, ist dass das äußere Körperbild mit dem inneren Empfinden nichts, aber auch gar nichts zu tun hat. Von allen, die einem in TOUCH ME NOT begegnen, ist ausgerechnet Christian, dessen Körper am wenigsten der Norm entspricht, derjenige mit dem entspanntesten Verhältnis zum Körper-sein. Vielleicht, weil er sich am meisten damit beschäftigt hat.
TOUCH ME NOT hat die Form eines Dialogs, der auch die Zuschauer*innen einbindet. Statt der für gewöhnlich extrem außerkörperlichen Filmerfahrung, die einen in andere Welten entführt, bietet der Film einen Erfahrungsraum an, um eigenen Fragen nachzugehen. Denn umso länger man zuschaut, umso mehr stellt man sich auch selbst die Frage „Wie fühlst du dich eigentlich?“

Hendrike Bake

Details

Rumänien/ Deutschland/ Tschechische Republik/ Bulgarien/ Frankreich 2018, 125 min
Sprache: Englisch, Deutsch
Genre: Drama
Regie: Adina Pintilie
Drehbuch: Adina Pintilie
Kamera: George Chiper
Musik: Ivo Paunov
Verleih: Alamode Filmdistribution
Darsteller: Laura Benson, Tómas Lemarquis, Dirk Lange, Irmena Chichikova
FSK: 16
Kinostart: 01.11.2018

Website
IMDB

Vorführungen

Keine Programmdaten vorhanden.

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