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Tiger Girl

Hauptsache „Bäääm!“

Braves Mädchen meets böses Mädchen: Über weite Strecken frönt TIGER GIRL der puren Lust am Kaputtmachen, am Durchdrehen und dem Überschreiten von Grenzen. Oft saukomisch, insgesamt anarchistisch.

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In LOVE STEAKS taute eine dominante Küchenazubine einen introvertierten Masseur auf, bis am Ende ein bisschen Blut spritzte. Auf den erfolgreichen Vertreter des sogenannten German Mumblecore (der 2014 u.a. für den Deutschen Filmpreis nominiert war) lässt Jakob Lass nun den punkigen TIGER GIRL folgen. Wieder lockt eine Figur die andere aus der Reserve, doch diesmal treten zwei Frauen auf. Die brave Maggie (blond: Maria Dragus) rasselt durch die Polizeiprüfung und will das halbe Jahr bis zum Zweitversuch mit einem Lehrgang bei einer privaten Sicherheitsfirma überbrücken. Doch als sie die ungestüme, asoziale Schlägerin Tiger (schwarzhaarig: Ella Rumpf) kennenlernt, gerät ihr Leben zusehends außer Kontrolle. Tiger verpasst Maggie den Spitznamen Vanilla, weil diese viel zu lieb sei: „Du musst einfach sagen, was du willst, dann kriegst du es auch,“ findet sie. Und ahnt nicht, dass die bald gar nicht mehr so harmlose Schülerin ihrer Lehrmeisterin über den Kopf wachsen wird.

Über weite Strecken frönt TIGER GIRL der puren Lust am Kaputtmachen, am Durchdrehen und dem Überschreiten von Grenzen. Oft saukomisch, insgesamt anarchistisch. Wenn Tiger im Supermarkt klaut oder nebenbei einen Autorückspiegel abtritt, ist das noch harmlos. In etlichen Straßenszenen tigern die Freundinnen durch Berlin, mischen eine Vernissage auf oder widersetzen sich mit Wonne Vollstreckungsbeamten. In ihren Security-Uniformen wirken Vanilla und Tiger fast wie Alex und seine Droogs in Frauengestalt. Mal nötigen sie einen jungen Mann zum Ausziehen („ich hab da was Hartes gespürt“), mal beklauen sie Ahnungslose auf dem Tempelhofer Feld, und immer wieder polieren sie Fressen: Hauptsache „bäääm“!

Fast wähnt man sich in FIGHT CLUB, gerade am Anfang, als Tiger wie ein Fiebertraum der Marke Tyler Durden in Maggies Leben kracht. Doch spätestens im letzten Drittel verankert Jakob Lass die Beziehung in der Realität, wenn Vanilla immer krasser durchdreht und selbst Tiger vor den Kopf stößt. Wo zuvor auf Konsequenzen geschissen wurde, spielen sie nun eine konkrete Rolle. Trotzdem: Bis zum Ende bleiben die rotzigen Hauptfiguren aus TIGER GIRL vage. Beide haben so gut wie keine Vergangenheit und bis zuletzt könnte Tiger die symbolische Raubkatze sein, die in Maggie schlummert.

Schon der reißerisch-hippe Titel samt Kung-Fu-Schriftzug lässt die Ungezügeltheit durchblicken, mit der Jakob Lass inszeniert. Aus dem Kontrast zwischen naturalistischer und stilisierter Darstellung bezieht TIGER GIRL einigen ästhetischen Reiz. Einerseits ist vieles improvisiert: Die Szenen während des Security-Lehrgangs wirken fast dokumentarisch, zumal der Kursleiter Orce Feldschau sich in einer famosen Laiendarbietung selbst spielt (man denkt an den markanten Personalchef aus LOVE STEAKS). Andererseits stilisiert Lass das Geschehen mit Zeitlupen, artifizieller Beleuchtung oder einer auf dem Kopf stehenden Kamera. Als Tiger drei U-Bahn-Pöbler in Martial-Arts-Manier verkloppt, unterlegt er Westernmusik. Auch die körperbetonten Performances von Maria Dragus und Ella Rumpf aus 24 WOCHEN und CHRIEG steuern ihren Teil zum Drive bei, ebenso „familieninterne“ Gastauftritte von Lana Cooper, Franz Rogowski oder Robert Gwisdek.

Dass ein Impro-Actionfilm wie TIGER GIRL ohne die moderne digitale Kameratechnik kaum umsetzbar wäre, ist das eigentlich Zeitgeistige am neusten deutschen Independentkino. Die 90 Minuten Laufzeit von LOVE STEAKS wurden aus rund 70 Stunden Rohmaterial gewonnen. Bei TIGER GIRL ist das ähnlich. Eine Handlung im klassischen Sinn existiert nicht (nur ein Nebenplot um zwei Drogenverticker), die fertige Form mit ihrem losen roten Faden entstand im Verlauf der Montage, worauf zahlreiche Jump Cuts verweisen. Ganze 15 Auftritte fielen laut Abspann dem Schnitt zum Opfer (darunter einer von Jakobs Bruder Tom, dessen BLIND & HÄSSLICH bald im Kino startet). Mehr als konventionelles Kino entstehen die Werke deutscher Impro-Filmer im Schneideraum noch einmal ganz von vorn.

Christian Horn

Details

Deutschland 2017, 90 min
Genre: Drama, Sozialkritischer Film
Regie: Jakob Lass
Drehbuch: Jakob Lass, Ines Schiller, Eva-Maria Reimer, Nicholas Woche
Kamera: Timon Schäppi
Schnitt: Gesa Jäger, Adrienne Hudson
Verleih: Constantin Film Verleih
Darsteller: Lana Cooper, Maria-Victoria Dragus, Ella Rumpf, Enno Trebs, Orce Feldschau
FSK: 16
Kinostart: 06.04.2017

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