Neue Notiz
The Whale
Es könnte helfen, nett zu sein
Für seine Rolle des sterbenden, bis zur Immobilität übergewichtigen Literaturwissenschaftlers Charlie wurde Brendan Fraser bei den Oscars 2023 als Bester Hauptdarsteller ausgezeichnet.
Es gibt Filme, die mich berühren, obwohl ich sie nicht mag. An THE WHALE hat mir nur wenig gefallen, aber gerührt hat er mich trotzdem. Ein paar Sätze, die die Tochter der Hauptfigur, des sterbenden, bis zur Immobilität übergewichtigen Literaturwissenschaftlers Charlie (Brendan Fraser) für eine Aufgabe in ein Heft kritzelt: „Diese Wohnung stinkt. Dieses Heft ist behindert. Ich hasse alle.“ Das hat Kraft. Charlie zählt die Silben durch, erkennt die Form des Haiku und freut sich. Aber sonst?
THE WHALE ist ein Kammerspiel im klassischen Tschechow-Stil, und die Form riecht auch nicht besser als Charlies Wohnung. Es gibt fiese, unmittelbar durchschaubare Motive. Moby Dick wird zitiert, weil Charlie dick ist und traurig. Ein junger Missionar taucht auf, weil es natürlich auch um Gott und Religion und Nächstenliebe geht. Das nervt alles entsetzlich. Inszeniert hat mit Darren Aronofsky einer der pompösesten Hollywood-Regisseure, dessen Filme mindestens (altmodische) Kunsttheorie oder allgemeingültige Weltweisheit enthalten müssen. Die Art und Weise, wie die Kamera Charlies ins Bild setzt und ihn immer wieder sabbernd beim Essen von widerlichem Zeug zeigt, ist auf Schock und Abscheu ausgerichtet, dabei ist der Kamerablick scheußlicher als Charlies Körper und ein Eimer voller frittierter Hühnerteile. Nebenbei: der Hühnereimer ist in den USA das scheußlichste Klischee über dicke Menschen. Im Oscar-Gewinner PRECIOUS musste Gabourey Sidibe auch einen in sich hineinstopfen.
Was Charlie in einem Online-Creative-Writing-Kurs unterrichtet, ist eine dahergelaufene Variante des Beat-Generation Credos: Schreibt etwas Ehrliches, dann ist es auch gut. Das war schon immer falsch. Wenn man nur irgendetwas Ehrliches schreibt, ist es genau so schlecht wie jede andere Idee, Meinung, Überzeugung, über die man sich keine großen Gedanken gemacht hat. Ehrliches hinschreiben ist ein Anfang. Dann beginnt die Arbeit. Hier ist es der Weisheit letzter Schluss und Teil der großen Weisheit, die Charlie und der Film verkünden: Menschen sind großartig. Wir müssen nett zueinander sein. Dem zweiten Teil kann man vorbehaltlos zustimmen, und das ist sicher auch der Grund, warum der Film in den USA – relativ – erfolgreich war. In den letzten Jahren dürfte Vielen klar geworden sein, dass sehr viele Menschen überhaupt nicht großartig sind, im Gegenteil. Und dann behauptet ein sterbender, fetter, schmieriger, trauriger, aber freundlicher Mann, dass alles gut ist, noch die wütendsten Idioten, wie seine ätzende, wütende Tochter, seien großartig.
Das ist dann doch rührend, weil es so schön wäre. Rührend ist auch die Freundin, die versucht zu helfen, obwohl sie weiß, dass Charlie nicht zu retten ist. Die Welt ist verloren, aber es könnte helfen, nett zu sein. So weit entfernt von der Botschaft, die der formal ganz anders gelagerte Oscar-Hauptgewinner EVERYTHING EVERYWHERE ALL AT ONCE hat, ist das nicht. Brendan Frasers Oscar für den Besten Hauptdarsteller steht in einer Reihe von vielen anderen Schauspieler*innen, die für Rollen als Blinde, Taube, oder geistig Behinderte ausgezeichnet worden sind. Aber er macht seinen Job tatsächlich sehr überzeugend.
USA 2022, 109 min
Genre: Drama
Regie: Darren Aronofsky
Drehbuch: Samuel D. Hunter
Kamera: Matthew Libatique
Schnitt: Andrew Weisblum
Musik: Rob Simonsen
Verleih: STUDIOCANAL
Darsteller: Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau, Samantha Morton, Ty Simpkins
FSK: 16
Kinostart: 27.04.2023
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IMDB
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