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The Card Counter

Seelenverloren und selbstverblendet

Das Kartenzählen hat William Tell im Gefängnis gelernt, wo er eine Strafe wegen Kriegsverbrechen als Folterer in Abu Ghraib absaß. Er zieht von Casino zu Casino und spielt Poker und Black Jack nach mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, leidenschaftslos und mit niedrigen Einsätzen.

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Paul Schraders THE CARD COUNTER ist eine Antwort auf die prototypischen Spieler-Filme THE HUSTLER (1961), in dem Paul Newman den jungen Billard-Spieler Fast Eddie Felson spielt, und Martin Scorseses Sequel THE COLOR OF MONEY (1986), in dem Newman als gealterter Fast Eddie den jungen Spieler Vincent (Tom Cruise) unter die Fittiche nimmt. In THE CINCINNATI KID (1965) von Norman Jewison trat Steve McQueen gegen Edward G. Robinson an. Alle drei Filme waren auch Geschichten über Desillusion, aber ihnen gemeinsam war die Lust am Spiel, das zwar auch die schädlichen und brutalen Aspekte des Kapitalismus repräsentierte, aber ebenso das reine Vergnügen am Wettbewerb.

In THE CARD COUNTER spielt Oscar Isaac die Gegenfigur zu Fast Eddie und dem Cincinnati Kid. William Tell ist wie der Schweizer Nationalheld kein Zocker aus Leidenschaft. Das Kartenzählen hat er im Gefängnis gelernt, wo er eine Strafe wegen Kriegsverbrechen als Folterer in Abu Ghraib absaß. Er spielt Poker und Black Jack nach mathematischen Wahrscheinlichkeitsrechnungen, leidenschaftslos und mit niedrigen Einsätzen, um nicht von Casinos mit Hausverboten belegt zu werden. Tell lebt in einer Welt, in der nichts Lebendiges mehr vorkommen darf. Die Casinoinnenräume sind immer fensterlos, seine Hotelzimmer verwandelt er in Mausoleen, in denen alle Möbel mit weißen Tüchern verhängt und umwickelt sind. Als ihn der junge Cirk (Tye Sheridan) anspricht, der Rache am Ausbilder Gordo (Willem Dafoe) üben will, der Cirks Vater und William Tell im Foltern geschult hat, aber als privater Söldner nie zur Verantwortung gezogen wurde, versucht Tell, dem Jungen eine andere Lebensperspektive zu bieten. Um ihm Geld für einen Neuanfang zu verschaffen, lässt er sich auf Turnierspiele im „Stall“ von LaLinda (Tiffany Haddish) ein. THE CARD COUNTER verweigert alle Elemente, die Spannung oder Interesse am Spiel erzeugen könnten. Nicht einmal das Gewinnen ist wichtig, außer für einen Vollidioten, dessen Fans „USA, USA“ brüllend durch die Casinohallen marschieren.

THE CARD COUNTER ist eine Parabel auf die US-Gesellschaft, die seelenverloren und selbstverblendet weitermacht und vage auf eine Erlösung hofft. Wenige Momente von Hoffnung fallen ins Dunkel von Schraders Vision. Einmal führt LaLinda William in einen illuminierten Park. Bunte LED-Leuchten ersetzen den Sternenhimmel, unter dem einst Liebe blühen konnte. Aber Schrader verwandelt das künstliche Lichtermeer dann doch in einen visuellen Zauber und lässt für Sekunden von elektrischen Lebensfunken träumen, bevor der kleine, artifizielle Ausbruch wieder endet. Schraders düstere Vision ist eine US-amerikanische Innenperspektive, die den Blick nach außen längst aufgegeben hat. Die Täter sind Opfer und zerstören sich selbst. Schraders Perspektive hat sich seit seinen Post-Vietnam-Drama TAXI DRIVER kaum verändert.

Tom Dorow

Details

Großbritannien/China/USA 2021, 109 min
Genre: Drama
Regie: Paul Schrader
Drehbuch: Paul Schrader
Kamera: Alexander Dynan
Schnitt: Benjamin Rodriguez Jr.
Musik: Robert Levon Been, Giancarlo Vulcano
Verleih: Weltkino
Darsteller: Oscar Isaac, Willem Dafoe, Tye Sheridan, Tiffany Haddish, Ekaterina Baker
Kinostart: 03.03.2022

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