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Skinamarink

Geister in den Zimmerecken

SKINAMARINK ist zugleich beeindruckend, beängstigend und aufdringlich zäh. Einen experimentelleren Horrorfilm hat es lange nicht gegeben.

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Wie zuletzt TALK TO ME entstand SKINAMARINK aus einem Youtube-Kanal. Auf „BitesizedNightmares“ verfilmt der kanadische Filmemacher Kyle Edward Ball Alpträume, seine eigenen und die von Nutzer*innen des Kanals. SKINAMARINK wurde, als der komplette Film vor der offiziellen Veröffentlichung im Internet geleakt wurde, zu einem heißen Thema auf Reddit und anderen Plattformen und später zu einem beinahe unvorstellbaren Kinoerfolg für einen so experimentellen Film, aber auch zum wohl umstrittensten Horrorfilm seit langem. Die Ansichten zum Film gehen von „der beängstigendste Film aller Zeiten“ bis zu „so aufregend wie Farbe beim Trocknen zusehen“. Das Internet ist voller Erklärungen und Interpretationen von SKINAMARINK. Der Titel bezieht sich auf das Kinderlied „Skidamarink a doo da doo, I love you“, und es geht um die Angst von Kindern, die nachts allein in einem Haus sind.

SKINAMARINK wurde für 15.000 Dollar, aufgebracht durch Crowdfunding, in Balls Elternhaus produziert, und besteht zu großen Teilen aus Kamerablicken auf Ecken im Dunkeln. Die Bilder sind auf Digitalvideo gedreht, dessen technische Möglichkeiten bei schlechten Lichtverhältnissen bis über die Grenze hinaus genutzt werden. Danach wurden die Bilder mit Filtern bearbeitet, die zusätzliche Körnung und analoge Materialfehler simulieren. Der Effekt lässt tatsächlich Kindheitserinnerungen daran wach werden, wie ein Fleck an der Decke im Dunklen zur Dämonenfratze und eine Schranktür zum Höllentor werden kann. Farbe beim Trocknen zuzusehen, kann als Kind eine sehr kreative Erfahrung sein; ich suchte als Kind nach Figuren und Mustern in der Raufasertapete. So ähnlich starrt man auch in diesen Film, der aber auch eine Geschichte erzählt, selbst wenn die Kinder Kevin und Kaylee nur selten zu sehen sind, und meist nur ihre Füße auf dem Teppich durchs Bild huschen. Kevin ist nachts die Treppe heruntergefallen, sagt der Vater am Telefon. Dann wachen die Kinder in der Nacht auf, und die Eltern sind verschwunden. Die Türen und Fenster des Hauses verschwinden ebenfalls. Die Kinder gehen ins Wohnzimmer und sehen alte Cartoons – unter anderem SOMEWHERE IN DREAMLAND (1936) von Max und Dave Fleischer – und werden einer geisterhaften Macht gewahr, die sie zu beherrschen scheint, Gehorsam verlangt und sie grausam bestraft.

Der Soundtrack der Cartoons verleiht dem Film einen zeitverlorenen, hauntologischen Effekt. Hauntology ist ein Begriff, den der 2017 verstorbene Kulturwissenschaftler Mark Fisher auf seinem Blog „k-punk“ prägte. Fisher schrieb, etwa um 2005 wäre es klar geworden, dass die elektronische Musik keine Vorstellung von Zukunft mehr vermitteln kann, wie sie es seit den sechzigern und bis in die neunziger Jahre getan hat. Die elektronische Musik von Labels wie „Ghost Box“ beschwöre nicht nur die Geister der Vergangenheit, sie repräsentiere eine verlorene, nicht realisierte Zukunft, ein Gespenst des Optimismus. Dieses Gespenst geistert auch durch den Sound und die Bilder von SKINAMARINK.

Balls Film ist zugleich beeindruckend, beängstigend und aufdringlich zäh. Es ist ein Film, in dem die Kinder verloren und gefangen sind. Einen experimentelleren Horrorfilm hat es lange nicht gegeben, weshalb einige Kritiker*innen Vergleiche zu David Lynchs ERASERHEAD (1977) und dem Gothic-Film BEGOTTEN (1989) heranzogen. Mit beiden hat Balls Low-Budget-Produktion wenig zu tun, außer dass Ball ähnlich kreativ wie Lynch an Bild- und Tonmischung herangeht, und dass auch BEGOTTEN mit körnigen Bildern arbeitete. SKINAMARINK bleibt im Gedächtnis und rührt an fast vergessene Ängste. Dass der Film in den USA inzwischen auch als VHS-Kasette veröffentlicht wurde, ist konsequent. Vielleicht sieht man ihn am besten entweder in einem möglichst leeren Kino oder allein in der dunklen Wohnung auf einem alten, nicht mehr ganz intakten Videoplayer.

Zum Weiterlesen/-sehen/-hören:


Kyle Edward Ball: Bitesized Nightmares . Dort vor allem HECK:

Interview mit Kyle Edward Ball: https://www.rogerebert.com/interviews/the-internet-has-been-my-co-director-kyle-edward-ball-on-skinamarink

Mark Fishers Blog K-punk: http://k-punk.org/

Mark Fischers Buchveröffentlichungen sind in der deutschen Übersetzung im Tiamat Verlag erschienen. Zu Hauntology sind „Gespenster meines Lebens. Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft.“ und „Das Seltsame und das Gespenstische.“ am wichtigsten. Auf Deutsch gibt nur eine Auswahl der gesammelten K-punk-Texte, das englischsprachige Original „K-punk: The Collected and Unpublished Writings of Mark Fisher“ ist eine umfassende Sammlung. (Repeater, London 2018)

Wenn es überhaupt einen Vorläufer von SKINAMARINK gibt, dann am ehesten Michael Snows Wavelength (1967): https://archive.org/details/wavelength-michael-snow-1967

Ghost Box Playlist. https://open.spotify.com/playlist/5hgu0fTkPWDJCYLmIJbv2P?si=7d18c3ae5c09440f

Somewhere in Dreamland. https://www.youtube.com/watch?v=lH4gC69ZEhc

Mehr Kinder allein im Dunkeln: DO PIVNICE (In den Keller, 1983, Jan Svankmajer)
https://www.youtube.com/watch?v=ErFd0v48E3E

Tom Dorow

Details

USA 2022, 100 min
Sprache: Englisch
Genre: Horror, Experimentalfilm
Regie: Kyle Edward Ball
Drehbuch: Kyle Edward Ball
Kamera: Jamie McRae
Verleih: Capelight
Darsteller: Lucas Paul, Dali Rose Tetreault, Jaime Hill, Ross Paul
Kinostart: 07.09.2023

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